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CLAUDIO ABBADO / DEMUT UND PERFEKTIONISMUS
»Es war mir eine Ehre, mit Claudio Abbado arbeiten und von ihm lernen zu dürfen: Er war jemand, der den Titel ›Maestro‹ wirklich verdiente.« Selten hört man unter Musikern solches Lob wie das von Michael Davis, Konzertmeister des London Symphony Orchestra unter Abbado, für seinen früheren Chefdirigenten (1979–1984) und Musikdirektor (1984–1987). Und Davis ist ein kritischer und anspruchsvoller Kollege, der im Laufe seiner langen Karriere, zunächst beim Hallé Orchestra, dann beim LSO und zuletzt beim BBC Symphony Orchestra, unter fast allen großen Dirigenten der letzten 50 Jahre gespielt hat. Wenn Davis sagt, er habe viel von Abbado gelernt, führt er den Ehrentitel »Maestro« zurück zu seiner ursprünglichen Bedeutung: Ein »Maestro« war ein Lehrer oder Mentor, bevor er zum Synonym für höchste Meisterschaft und Superstar- Status wurde. Mitte der 1960er Jahre, als Abbados internationale Karriere allmählich Fahrt aufnahm, war er vielleicht für viele im Publikum eine schillernde Figur, doch der äußere Anschein trog. Abbado war weder ein Exzentriker noch ein Tyrann; ein fast schon fanatischer Perfektionist – das ja. Er verstand es meisterhaft, seine Vorstellungen zu vermitteln und zu realisieren, ganz egal, ob es dabei um winzige Details, feinste Ausdrucksnuancen, eine extreme Dynamik oder strikteste Präzision ging.
So war es zumindest im Moment des Konzerts. Die Probenarbeit mit ihm empfanden hingegen viele Musiker als überraschend karg und fast schon asketisch. Er sagte wenig und sprach meist auch sehr leise, was so gar nicht zum landläufigen Bild eines Maestro passte. Und wer ihn zum ersten Mal bei einer Probe erlebte, sah in ihm wohl auch selten einen Lehrer oder Mentor. Was war es also, das Michael Davis von ihm lernen durfte? Bei ihrem ersten gemeinsamen LSO-Konzert stand in Edinburgh Mahlers Dritte Symphonie auf dem Programm: »Hätte ich einen Wirbelwind an kreativer Energie erwartet, ein musikalisches ›Damaskuserlebnis‹, wäre ich wohl sehr schnell enttäuscht gewesen. Stattdessen herrschte eine nüchterne ›Werkstatt- Atmosphäre‹: ruhig, gelassen und mit großem Ernst wog Abbado alles bis ins kleinste Detail ab. Für mich ein Musterbeispiel an akribischer Vorbereitung.«
Als ich selbst unter Claudio Abbado spielte, hatte ich einen ähnlichen Eindruck. Er war einer der ernsthaftesten und zugleich einfühlsamsten Musiker, die ich jemals erlebt habe, und seine penible Sorgfalt stand ganz und gar im Dienst der höchsten Ideale des künstlerischen Ausdrucks wie der technischen Perfektion. Sein Weg zu diesen Höhen, seine durch und durch apollinische, fast schon unpersönliche Herangehensweise unterschied sich dabei trotz aller Freundschaft und gegenseitigen Bewunderung grundlegend von der Carlos Kleibers, einem Dionysiker par excellence, der allein mit dem Charisma seiner Persönlichkeit jeden im Raum fesselte. Abbado hingegen wirkte bei den Proben oft sehr distanziert, fast schon weltfremd, wie sich der Schlagwerker Kevin Nutty erinnert: »Er interessierte sich nur für das, was er in seinem Inneren hörte. Anstatt mit vielen – oder wenigen – Worten zu erklären, welche Phrasierung oder welchen Ausdruck eine bestimmte Stelle haben sollte, murmelte er nur leise vor sich hin, als wollte er seinen Musikern auf diese Weise sagen: ›Warum könnt ihr nicht einfach so spielen, wie ich es im Geiste höre?‹« Das Wunderbare war, dass sie am Ende wirklich so spielten, wie er es in seinem Inneren hörte.
»Englisch zu sprechen fiel Abbado nicht leicht«, meint Michael Davis dazu. »Er war von Natur aus ein zurückhaltender und vernunftbetonter Mensch – aber in Kombination mit seiner Erscheinung auf der Bühne entstand daraus wahre Magie.« Das war das Elixier. »Im Konzert erinnerte nichts mehr an die ›Werkstatt‹«, erzählt Davis weiter. »Er hatte eine unglaubliche Ausstrahlung auf dem Konzertpodium – er versetzte die Musiker und Zuhörer erst in eine Welt intensiver Stille, bevor dann im Falle von Mahlers Dritter eine Unisono-Fanfare der Hörner losbrach, an deren Klangqualität und -volumen er endlos gefeilt hatte.«
»Er hatte ein unglaubliches Talent, nur mit seinen Bewegungen deutlich zu machen, was er wollte«, erinnert sich Kevin Nutty. »Es fällt mir immer schwer, die Technik eines Dirigenten zu beschreiben, und das geht wohl auch nicht nur mir so. Aber bei Abbado kann man sagen, dass seine Gesten und seine ganze nonverbale Kommunikation unmissverständlich zeigten, wie sich alles entwickeln sollte und wie die Details ineinandergreifen sollten, genau wie er es haben wollte.«
Die vorliegenden Aufnahmen zeugen denn auch durchweg von höchster Virtuosität und einer ausdrucksmächtigen, sensiblen Künstlerschaft. Beeindruckend ist dabei die Vielfalt der musikalischen Stile, die Claudio Abbado liebte und meisterte – von den mitreißenden, brillanten Rhythmen der üppigen, aber trotzdem stets durchhörbaren Klanggemälde der Prokofjew-Kantate Alexander Newsky bis zur schwerelosen, geheimnisvollen Delikatesse im poetischen Märchenzauber von Ravels Ballettmusik Ma mère l’Oye. Ich kenne nur wenige Dirigenten, die so unterschiedliche Idiome so perfekt beherrschten. Und noch weniger, die so unnachgiebig auf einem echten piano beharrten: »Bei ihm konnte man es sich in den leisen Passagen nie ›bequem‹ machen«, sagt Kevin Nutty. »Manche Kollegen hatten richtig Angst davor, bei ihm leise spielen zu müssen, und daraus entstand eine spannungsgeladene, fast schon bedrohliche Atmosphäre, die sich auch dem Publikum mitteilte.«
All dies war nur möglich, weil sich Abbado ganz und gar in den Dienst der Partitur stellte. Er erlaubte sich keinerlei Manierismen oder Extravaganzen. Er war ein klassischer Perfektionist, und Orchestermusiker wie Sänger beeindruckte er immer wieder durch seine Hingabe an die Musik und sein enormes Einfühlungsvermögen. Die Sopranistin Maria Ewing, die in der vorliegenden Einspielung von Debussys La Damoiselle élue die Titelpartie singt, erinnert sich: »Er war absolut glaubwürdig in allem, was er tat. Er liebte die Musik, die er dirigierte. Er ging immer sehr behutsam vor, und ich fand ihn unglaublich begabt. Er hatte eine große natürliche Autorität – Orchester und Sänger folgten ihm aufs Wort. Er war ohne Frage einer der ganz großen Dirigenten seiner Zeit.«
Unter Claudio Abbado hatte das London Symphony Orchestra immer wieder Gelegenheit, mit Sängern zu musizieren, vor allem bei den Opernproduktionen des Edinburgh Festival. Diese Live- Erfahrungen spiegeln sich auch in den Opernaufnahmen der vorliegenden Box. Darüber hinaus zeigen sie, wie zupackend und zugleich sensibel Abbado mit Bühnenmusik umging und wie souverän er Hauptstimme und Begleitung austarierte, was man auch in seinen Einspielungen von Solokonzerten hören kann.
Wenn man das seltene Glück hatte, persönlich mit Claudio Abbado zu sprechen, bemerkte man sofort zwei Grundzüge seines Charakters: Demut gegenüber der Partitur und, wie Maria Ewing so treffend sagte, seine große Liebe zu der Musik, die er dirigierte. In einem Interview, dass ich 1990 für das britische Schallarchiv Music Preserved mit ihm führen durfte, hob er einige Details in Debussys Trois Nocturnes hervor, einem Werk, das er zwei Mal für Deutsche Grammophon eingespielt hat: »In Fêtes muss der Klang der Trompeten etwas Magisches haben, wie aus weiter Ferne, auch wenn in der Partitur nicht steht, dass sie hinter der Bühne gespielt werden sollen. Die erste Punktierung wird manchmal sehr breit und mit Nachdruck gespielt, quasi im deutschen Stil, und das ist falsch; manchmal wird sie sehr kurz gespielt, fast wie eine doppelte Punktierung im italienischen Stil, und auch das ist falsch. Ich denke, man muss das einfach so machen, wie es in den Noten steht. Ich liebe diese Musik, genauso wie Sirènes [den letzten Satz der Nocturnes].«
Demut, Perfektionismus und Liebe: Sie machten Abbados Kunst und Genialität aus.
Jon Tolansky
CLAUDIO ABBADO / DEVOTED PERFECTIONIST
“It was a privilege to work with Claudio Abbado, to learn from him: finally someone who deserved to be addressed as ‘Maestro’.” Praise of such distinction for a conductor, here in the words of Michael Davis, the concertmaster of the London Symphony Orchestra when Claudio Abbado was its Principal Conductor (1979 to 1984) and then Music Director (1984 to 1987), is rare to encounter from another musician. And in this case the musician bestowing it has the very highest, most exacting standards, from his experience leading for a large proportion of the most celebrated conductors of the last half-century – first in the Hallé Orchestra, then in the LSO, and finally in the BBC Symphony Orchestra. His appraisal of Abbado as “Maestro” is crucially contextualised in his reference to learning from him: the title originally meant a teacher and a leader, before it later became glamorously propelled as a symbol of sovereignty and superstardom. Although when Claudio Abbado’s international career took off in the mid−1960s he appeared to cut a strikingly glamorous figure to many of his audiences, appearances can indeed be deceiving. Flamboyant he was not; tyrannical he was not; perfectionist, however, he was – fanatically so. And he was brilliant at communicating and realising his demands, be they for minute details, subtle expressiveness, extreme dynamics, or the tightest precision.
At least, so it was when he reached the moment that his concert began. Prior to that, life with Abbado felt disarmingly frugal, almost austere, for some musicians in rehearsal with him. A man of few words and restrained speaking tones, he was not at all like the commercial image of a maestro – and if one was experiencing him in rehearsal for the first time, one initially might not have considered him a maestro in that bygone-age countenance of a teacher. In what way was Michael Davis privileged to learn from him, then? He recalls the first time that he encountered him, when he led for Mahler’s Third Symphony with the LSO in Edinburgh: “If I expected a whirlwind of creative energy, a ‘road to Damascus’ musical revelation, I quickly realised I was to be disappointed. A ‘workshop’ type of atmosphere was very much the order of the day: quiet, calm, almost considered reflection attending to what were, apparently, the tiniest details. I also experienced, on a personal level, an example of such fastidious preparation.”
As did I, when I played for Claudio Abbado. He was one of the most deeply serious and immensely sensitive musicians in my experience, and that meticulous fastidiousness was as zealously in pursuit of the highest ideals of artistic expression as it was of technical perfection. But his strictly Apollonian and almost impersonal method of scaling and reaching those heights could not have been more different from his friend and great mutual admirer, the comparatively Dionysian Carlos Kleiber, who mesmerised almost everyone in his presence with his electrifying personality. On the contrary, Abbado could seem almost remote, even reclusive, at rehearsals, as percussionist Kevin Nutty recalls: “He was devoid of anything other than what he heard internally. Rather than try eloquently – or not eloquently – to explain to certain people how he wanted something phrased or expressed, he would almost indulge in a kind of mumbling, as though that would convey to them, ‘Why can’t you play it the way I hear it in my head?!’” The marvel was that in due course they did play what he heard in his head.
“English did not flow easily from Abbado”, comments Michael Davis. “He was by nature a reticent and cerebral person – but when those qualities were combined with his ability to perform, the magic was created.” And that was the elixir. “At the concert, all trace of the ‘workshop’ completely disappeared”, Davis continues. “He had an extraordinary presence on the concert platform – an ability to draw the people playing and the people listening into a world of, firstly, intense silence, and then, in the case of Mahler’s Third Symphony, a unison horn fanfare that he had been at pains to ensure was as much to do with the quality of the sound as it was with sheer volume.”
“He had an exceptional flair to communicate exactly what he wanted in his actual physical conducting”, recalls Kevin Nutty. “Discussing a conductor’s technique is always a dubious issue for me, and not only for me, but with Abbado it has to be said that it became mightily obvious from his gestures and his whole manner of communication exactly how everything was going to pan out and how certain details were going to dovetail into other details because he commanded it so.”
So it is that in this box set of recordings we hear such a consistent level of high virtuosity and expressively sensitive artistry in many of the strikingly wide range of musical styles that Claudio Abbado loved and so impressively mastered – ranging from, for instance, brilliantly incisive rhythmic impact and massive yet crystal-clear sound landscapes in Prokofiev’s Alexander Nevsky cantata, to an almost intangibly mysterious delicacy and deeply poetic fairytale magic in Ravel’s Ma mère l’Oye (Mother Goose) ballet. Very few conductors in my experience have achieved such immaculate results in such extremely contrasting idioms. And very few that I know of insisted as uncompromisingly when they wanted truly hushed playing: “He never allowed the orchestra to play in quiet passages ‘comfortably’”, explains Kevin Nutty. “People could be frightened about playing for him in quiet passages, and that all added to an electric atmosphere, even a menacing atmosphere sometimes, which was transferred to the audience.”
All of this was driven by Claudio Abbado’s devotion to the letter of the composer’s score. There were no mannerisms, no flamboyant effects. He was a classical perfectionist, and as well as musicians in orchestras, distinguished singers, such as soprano Maria Ewing, who takes the lead role of the Damozel in this box set’s recording of Debussy’s La Damoiselle élue, were profoundly impressed with his dedication as well as his great flair: “He was absolutely truthful in everything that he did”, she recalls. “He loved the music he conducted. His approach was always very subtle, and I thought he was an outstanding talent. He had great command – orchestras responded to him, singers responded to him. Undoubtedly he was one of the great conductors of his time.”
And Claudio Abbado gave the London Symphony Orchestra numerous special opportunities to make music with singers when he took them to the Edinburgh Festival to play in opera productions there. The fruits of some of those experiences are preserved in the opera recordings included in this set, revealing the conductor’s powerful yet subtle dramatic instincts and his great mastery in balancing the elusively demanding exigencies of leadership and accompaniment, as we also hear in the concerto recordings.
If one had a rare opportunity to speak with Claudio Abbado, one immediately discovered his two overriding elements: profound devotion to the score, and, as Maria Ewing so importantly said, deep love of the music he conducted. When I had the privilege of interviewing him in 1990 for the music recording archive that is now called Music Preserved, he was at pains to point out some minute details in Debussy’s Trois Nocturnes (which he recorded twice for Deutsche Grammophon): “In Fêtes the sound of the trumpets must be magical and sound as far away as possible in the distance, even though they are not written to be played off stage”, he said to me. “Sometimes I have heard the first dotted note played emphatically and broad in length, in a German style, and that is wrong – and sometimes I have heard it played very short like a double dot in an Italian style, and that is also wrong. I think you have to be very simple – as printed. I love this music and I also love Sirènes [the final movement of the Nocturnes].”
Devoted perfectionism and love: that was the art and genius of Claudio Abbado.
Jon Tolansky