Die Orsons waren kurz davor, sich aufzulösen. Daraus haben sie ein Album gemacht. „Orsons Island” erzählt von der großen Suche nach dem inneren Sehnsuchtsort – und davon, was das eigentlich bedeutet, sich selbst zu finden.
Nur mal so als Beispiel, ne? Die Single “Grille”. Der Beat ballert leicht trotzig, das Sample ist zerhäckselt und verfremdet von Effekten, aber klebt nach zweieinhalb Sekunden im Ohr. Dazu präsentieren die Orsons stolz ihre neueste Erfindung: die Microparty. Rein in den Club, kurz durchdrehen, zurück in den Tourbus und ab in die nächste Stadt. Drei Tage wach in zehn Minuten, einfach genial. Diese revolutionäre Eskalationsstrategie wird verpackt in die Parabel von der Grille und der Ameise. Die Grille singt den ganzen Sommer über und schert sich einen Dreck um den kommenden Winter. Die Ameise sorgt vor und überlebt. Aber: Überlebst du noch oder lebst du schon? Ehrensache, dass die Orsons leben. Die erste dieser Mikropartys zelebrierten die vier übrigens in der berüchtigten Münsteraner Absturzkneipe „Grille“, wo seit Jahrzehnten liebenswertes Ungeziefer ein Zuhause findet. Daher der Titel, verstesch? Wir fassen zusammen: Sich gehen lassen als Maßnahme zur Selbstoptimierung. Ein alberner Insider-Joke mit einer tiefgehenden Botschaft für alle. Ein Hit, der sehr viel tut, um kein Hit zu sein, und genau deswegen ein ganz krasser Hit ist. Wer hat solche Kombos?
Um es kurz zu machen: Niemand, außer halt den Orsons. Für alle, die nicht wissen, wovon hier die Rede ist, nochmal kurz zur Einordnung: Die Orsons sind Deutschraps wahre Supergroup (und nach eigener Auskunft zudem die weltweit erste reale Boygroup). Als sich Bartek, Kaas, Maeckes und Tua Mitte der nuller Jahre in einem Studio im Schwäbischen trafen, war HipHop in Deutschland eine deprimierende Angelegenheit. Ernste junge Männer mit Wachstumsschmerzen rebellierten gegen ernste alte Männer mit Rückenschmerzen. Die erste Generation war satt und die neue Generation war pleite. Spaß machte das alles niemandem, den Fans am Allerwenigsten. In diesem finsteren Moment schüttelten die Orsons in nur vier Tagen ein Album aus dem Ärmel, auf dem sie sich über all das Elend lustig machten, vor allem aber so neuartige, leichtfüßige, ideenreiche Musik, dass grelles Licht aufflackerte am Ende des Tunnels. Die Orsons erfanden Deutschrap neu – und legten so gemeinsam mit Bands wie K.I.Z, Marteria oder Casper die Grundlage für den heutigen Über-Hype. Soweit die Fakten.
Die dazugehörige Musik war so einfach nie. Dafür sind diese vier Charaktere zu komplex, in ihrer Kombination sowieso. Die Orsons haben kritische, kitschige, kontroverse, kalauernde und außergewöhnlich kunstvolle Songs geschrieben. Sie haben Grenzen niedergerissen, nicht nur zwischen Genres, sondern zwischen dem, was geht und was vermeintlich nicht geht. Ihre Musik war stets Musik zur Zeit und existiert doch in ihrem ganz eigenen Kontinuum. Sie liefen bei Hot 97, dem legendärsten aller New Yorker Radiosender, bekamen Props von Souljah Boy Tell`Em und waren auf Tour mit Fettes Brot und Herbert Grönemeyer. Sie landeten sogar veritable Radiohits, zuletzt “Schwung in die Kiste”, das mit der Maria und der Karussellstimme. Mit über 200.000 verkauften Einheiten hat die Single aus ihrem letzten Album “What’s Goes” inzwischen Goldstatus erreicht. (Seitdem möchten die Orsons in Interviews gesiezt werden, nur so FYI.) Als Einzelkünstler hatten alle vier nie den kommerziellen Erfolg, der ihnen die Experten prognostizierten. Das ist die harte Wahrheit. Als Die Orsons hatten sie ihn – obwohl alles nur ein kleiner Spaß sein sollte. Auch das ist Teil der Wahrheit. Dieser Kontrast prägt die Orsons bis heute, egal wie groß die Bühnen wurden, auf denen sie irgendwann standen. Zu viert Musik machen, heißt immer auch, Kompromisse zu machen. Oft ist es sogar mehr als das: ein Kampf, mit den anderen, den Erwartungen, dem künstlerischen Selbstbild. Ein Orsons-Album ist so immer auch ein Album über die Orsons und wie es ihnen damit geht.
“Das Album” von 2008 war ein Spaß. „Die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Orsons“ von 2009 war eine Abhandlung über die Freiheit und darüber, sie sich zu nehmen. „Das Chaos & Die Ordnung“ von 2012 war genau das, was der Titel besagt: der Versuch, den Wahnsinn zu strukturieren, ohne ihn zu ersticken. Mit „What’s Goes“ erschien 2015 schließlich das bis dahin beste Album der Band. Es war schlau, musikalisch, cool, witzig, nachdenklich, liebevoll, zynisch, absurd, ehrlich, einzigartig – und stieg direkt auf Platz zwei der deutschen Charts ein. 2017 feierte die Band ihr zehnjähriges Bestehen mit zwei ausverkauften Shows in Berlin und Stuttgart. Danach verabschiedete sie sich in einen langen Urlaub. Es war die erste gemeinsame Reise als Freunde, nicht als Band. Über zwei Jahre hinweg verbrachten Bartek, Kaas, Maeckes und Tua so immer wieder gemeinsam Zeit auf verschiedenen Inseln. Dabei entstand zum einen ein musikalisches Reisetagebuch, das regelmäßig im Youtube-Channel veröffentlicht wird. Zum anderen arbeiteten die vier Freunde an sich und ihrer Beziehung.
„Wir sind im Moment die besten Orsons, die wir je waren“, erklärt Tua – ausgerechnet Tua, der passionierte Schwarzmaler und Hater – nach dem ersten Inselurlaub. „Wir haben alles besprochen, was nach zehn Jahren Beziehung so als Elefant im Raum stand“, ergänzt Bartek im März 2018 nach einem zweiwöchigen Aufenthalt auf Lanzarote. So weit so erwachsen. Nun haben Elefanten im Raum allerdings die Angewohnheit, nicht einfach so heraus zu spazieren und zu verschwinden. Mindestens Omas gutes Geschirr geht dabei kaputt. Und der Türrahmen hängt eventuell auch schief. Dass Tua in jeder freien Minute an seinem Soloalbum schreibt, das ihm seit zehn Jahren auf den Schultern lastet, und dabei persönliche Abgründe aufarbeitet, erschwert die Situation zusätzlich. So kommt es irgendwann, wie es kommen muss. Nach Jahren im emotionalen Ausnahmezustand bricht sich alles Bahn, was eigentlich ausgeräumt schien, irgendwo zwischen maximaler Alltags-Anspannung und ultimativer Insel-Entspannung.
Maeckes bekommt eine mysteriöse Augenentzündung, die ihm kein Arzt der Welt erklären kann, und hat das Gefühl, von den anderen nicht ernst genommen zu werden. Tua ist ausgelaugt und verlässt in diversen Meetings den Raum, weil er einfach nicht mehr reden will. Bartek fühlt sich allgemein missverstanden. Und Kaas will einfach nur ein ganz normales Trap-Album aufnehmen und damit alle Rapper killen. Über Maeckes und Tua schwebt zudem die Angst, die Orsons könnten ihre Solokarrieren verwässern. Über Bartek und Kaas schwebt dagegen eine sehr konkrete Existenzangst. Jünger wird eh keiner, auch nicht in der Welt der Orsons. Irgendwann zehren selbst die wöchentliche Telefonkonferenz mit dem Label so sehr, dass am Tag darauf keiner arbeiten kann. Es wird geschrien, beschuldigt, unterstellt und alles in Frage gestellt, sogar und in erster Linie die Orsons selbst. Aber die Orsons wären nicht die Orsons, wenn sich daraus nicht ein Album machen ließe.
„Ich sag harr harr, Orsons Island voraus und ich fahr, fahr.“
Das Album heißt „Orsons Island“. Weil jeder Song auf einer Insel entstanden ist. Vor allem aber weil es um die Suche nach einer Insel geht, der eigenen, dem Sehnsuchtsort, den jeder von uns in sich trägt. Wenn man so will, geht es also um alles. Leben, Life, Hayat. Die Orsons sind eine Band der Extreme, nicht nur was die sehr besondere Konstellation ihrer Mitglieder angeht. Am besten können sie ganz weit draußen und ganz tief drinnen, Observation und Tiefenpsychologie. „Orsons Island“ ist beides. Konkret folgt man den Orsons durch vier Phasen. Der erste Abschnitt der Platte beschreibt den Moment vor der Suche. Alles ist gut: Party, Zeitgeist, Verliebtsein, auch ein paar Zweifel, aber die gehören bei diesen Typen ja zum Grundmodus. Der zweite Abschnitt ist Niedergang: The drugs don’t work, zumindest nicht mehr. Also: Kopfüber in den Abgrund. Abschnitt Nummer drei markiert den Moment des Umdenkens und der Hoffnung. Klappt nicht? Naja, mach dich nicht verrückt, wird schon. Im letzten Abschnitt schließlich stehen das Ankommen und die Antworten. Einfach sind auch die nicht, natürlich nicht. So ein Paradies ist eben etwas sehr persönliches.
Diese unwahrscheinliche Heldenreise spiegelt sich auch im Sound. Die Platte beginnt mit Maschinensoul im Takt des Jetzt, kühl und tanzbar. Sie endet in einer Schönheit voll leiser Melancholie, die sich jeder Beschreibung entzieht. Keine Layer, keine Referenzen, nur du, die Weite des Meeres und das Glück. Ganz am Ende taucht dann noch einmal das Vocalsample vom Anfang auf, “Ich mach”. Es ist der selbe Sound, aber er klingt ganz anders. Mikroparty ist nicht mehr, irgendwas “machen” aber tut man nun mal immer, wie ja überhaupt jede Reise eher wie ein Kreislauf ist. Sogar die auf die eigene, persönliche Insel. Den Sehnsuchtsort, den jeder von uns in sich trägt.