Wirft man einen Blick auf die britische Musiklandschaft, spielt Dionne Bromfield offensichtlich in einer Liga, in der es im Grunde genommen nur eine Musikerin gibt: einzig und allein sie selbst.
Von Stars in ihrer Altersklasse – sie war 13, als sie mit einem Coveralbum ihr gefeiertes Debüt ablieferte, ging auf die 15 zu, während sie an ihrem komplett selbst geschriebenen Zweitwerk feilte – erwartet man gemeinhin, dass sie sich wie kleine Engelchen anziehen, immer schön adrett aussehen, dabei irgendwelche angestaubten Chorgesänge neu interpretieren, die schon seit Jahrhunderten bei den Leuten ankommen und die natürlich auch heute noch der einen oder anderen Omi eine Träne entlocken. Von dieser jüngeren Teenager-Generation erwartet man nie und nimmer, dass sie in die Fußstapfen von Lauryn Hill oder Jazmine Sullivan treten, zeitlosen Soul-Sound kreieren und den eigenen Gesang womöglich sogar mit dem dezenten Nachdruck eines gepflegten HipHop-Beats untermalen würden. Denn selbst wenn es in den Staaten eine klare Tradition, ja eine offizielle Abstammungslinie der Street-Soul-Wunderkinder gibt, angefangen mit Baby-Jacko bis hin zu Wills Töchterchen Willow Smith, sucht man solche Kids in Europa und England vergebens. „Ich verspüre keinerlei Druck“, sagt Dionne in ihrem perfekt gebügelten roten Schul-Blazer, wie sie so mit zurückgesteckten Haaren und ihrem Schulranzen vor den Füßen im Büro ihres Managements sitzt. „Ich mache einfach nur mein Ding. Ich liebe diese Platte über alles. Ich fand auch die erste Platte grandios, aber das war eher eine Art Aufwärmübung, ein Sprungbrett für mich. Das hier ist durch und durch mein Baby. Ich habe diese Songs hervorgebracht.“
Ihr gesamtes Umfeld liebt die kleine Dionne, das merkt man sofort. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Sie ist unglaublich höflich und zurückhaltend; Bescheidenheit ist quasi ihr zweiter Vorname. Wenn sie während unseres Gesprächs dann folgenden Satz von sich gibt – „Ich selbst treffe ehrlich gesagt nie ein Urteil über meine Stimme.“ – erinnere ich sie daran, dass wir dieses Gespräch ja führen, weil daraus ein Pressetext entstehen soll, woraufhin sie dann doch ein Zugeständnis macht, wenn auch nur vorsichtig: „Okay, dann schreiben Sie doch, dass meine Stimme großartig klingt. Aber Sie sagen das ja, nicht ich. Ich singe einfach nur so wie ich nun mal singe.“ (Und nur am Rande bemerkt: Ihre Stimme ist mehr als großartig.)
In gewisser Hinsicht verwundert es nicht, dass ihre Schulkameraden bei der diesjährigen „X Factor“-Staffel allesamt per SMS für die etwas rotzige Cher Lloyd abgestimmt haben – „weil sie ihre ganze Einstellung so gut fanden“ –, während Dionne unbedingt für Rebecca Ferguson und deren Version von klassischem Soul ihre Stimme abgab. „Wir waren uns jedoch alle darin einig, dass Wagner gar nicht ging“, fügt sie hinzu und beweist damit, dass sie zwar noch ein richtiger Teenie ist und durchaus Meinungsverschiedenheiten über derartige Themen mit ihren Freundinnen hat, sie dabei aber doch schon ganz genau weiß, was sie will – und was nicht.
Der Name Dionne Bromfield tauchte erstmals in den Medien auf, nachdem sie Rückenwind von einer berühmten Verwandten bekommen hatte – ihrer inzwischen verstorbenen Patentante Amy Winehouse. Ihre Patentante war zwar nicht die erste Supporterin, aber sicherlich die lauteste und einflussreichste. Schon drei Jahre bevor Dionne zum ersten Mal ein Aufnahmestudio betreten sollte, war der Grundstein für ihre Karriere bereits gelegt worden: „Schon als ich zehn war, sagten mir alle andauernd, wie gut ich singen konnte. Meine Mutter sagte das auch immer wieder. Nur war ich damals noch so schüchtern, dass ich ihnen kein Wort davon glauben wollte. Dazu kommt, dass umso mehr Leute mir derartige Dinge sagten, desto mehr zog ich mich zurück und machte gar keine Anstalten mehr zu singen. Bis ich dann eines Tages zu Hause saß und Amy bei uns war, da hörte sie mich und sagte: ‘Hey, Kleine, es stimmt. Du kannst singen.’ Damit fiel bei mir eine Art Schalter um. Ab dem Tag war ich schon ein bisschen selbstbewusster.“
Alles drehte sich also nur um Motivation und um Zuspruch innerhalb einer Familie, in der es offensichtlich noch einen zweiten Star zu entdecken galt. Wenn man doch nur diese Gene nehmen und sie einfach so vermarkten könnte! Doch Dionne stand dem Rampenlicht nun mal skeptisch gegenüber: Sie erzählte nicht mal ihren Freundinnen und Freunden in der Schule davon, als sie die Aufnahmen für ihr erstes Album machte – ihr Debüt mit Coverversionen von Soul-Klassikern, aufgenommen eher im Schmuserocktempo. „Ich war nun mal der Meinung, dass die anderen bestimmt denken würden, ich sei vollkommen abgehoben und eingebildet, wenn ich ihnen davon erzählt hätte.“ Und so hielt sie einfach die Klappe. Genau genommen wusste kaum einer an ihrer Schule, dass sie ein Album aufgenommen hatte, bis Dionne dann eines Tages im Frühstücksfernsehen auftrat und einen seltenen Hauch von Unschuld in die Show brachte.
Für Dionne war schon immer klar, dass sie auf ihrem zweiten Album nur ihre eigenen Songs präsentieren würde, also keine Coversongs. Als sie dann Anfang 2009 für drei Wochen nach Los Angeles gehen durfte, um dort an neuen Stücken zu arbeiten, war sie außer sich vor Glück. „Ehrlich gesagt wäre ich am liebsten gleich dort geblieben. Das Wetter war der Hammer und die Leute, mit denen ich gearbeitet habe, waren der absolute Traum. Die Zeit dort war einfach perfekt.“ Und perfekt ist auch die Auswahl der Songs für ihr Album, wobei letztlich keines der in L.A. geschriebenen Stücke darauf gelandet ist (was jedoch nicht heißen soll, dass sie in Zukunft nicht doch noch mal aus der Schublade geholt werden können). „Ich habe ein ganzes Heft voller Ideen in seinem Haus gelassen!“, sagt sie über die Zeit, die sie mit der Produzentengröße Toby Gad (Beyoncé, Rihanna) verbracht hat. „Ich glaube nicht, dass er sie nutzen wird. Aber man weiß ja nie.“
Ihre ersten Versuche als Songschreiberein waren noch äußerst zaghaft. „Als ich zum ersten Mal im Studio saß und etwas zu einem Stück schreiben sollte – und zwar ganz alleine auch noch: Ach du lieber Gott, das war hart! Ich? Einen ganzen Song schreiben? Man hat den Kopf voller Gedanken, und dann ist da natürlich immer diese große Frage: ‘Was ist, wenn meine Ideen nun keinem Menschen gefallen?’ Man muss sich wohl immer wieder klar machen, wenn man mit so großartigen Leuten arbeitet, dass sie alle auch mal angefangen haben, genau wie ich. Dazu kommt, dass ich einfach noch viel jünger bin, womit jawohl auch klar sein sollte, dass ich vielleicht hin und wieder mal etwas eingeschüchtert bin.“ Letzten Endes entpuppte sich der Altersunterschied sogar als klarer Vorteil: „Wenn du mit Leuten arbeitest, die viel älter sind als du selbst, hast du automatisch zwei unterschiedliche Blickwinkel und somit zwei Seiten einer Geschichte: den Blickwinkel eines jungen Menschen und den von einem, der schon sehr viel mehr erlebt hat. Die Gelegenheit, meine Sicht so einzubringen und so zu arbeiten, hat man nur einmal im Leben, und ich bin so glücklich, diese Chance bekommen zu haben.“
Nach den L.A.-Sessions in London angekommen, feilte sie weiter an ihrem Sound, dieses Mal mit dem einstigen Incognito-Bandmitglied John Paul „Bluey“ Maunick sowie mit Paul O’Duffy, bekannt für seine Arbeiten mit Duffy. Nach und nach entdeckte sie dabei ihre unverwechselbare Stimme und ihren ganz eigenen Style als Songschreiberin: „Ich ging dann also mit Paul ins Studio, und er hatte auch schon eine erste Idee im Gepäck. Nun mochte ich seinen Song allerdings nicht, wusste aber auch nicht, wie ich ihm das sagen sollte – immerhin war ich ein 14-jähriges Mädchen, und wie bitte sollte ich einem erwachsenen Mann sagen, dass mir seine Songidee nicht gefällt? Wir arbeiteten also noch ein wenig mit seinem Einfall, probierten etwas herum, und während wir so bei der Arbeit waren, kam mir eine ganz andere Idee in den Kopf, aus der dann schließlich ‘The Sweetest Thing’ wurde. Ich dachte nämlich über diesen Jungen an meiner Schule nach, einen Typ aus dem Jahrgang über mir. Ich werde hier jetzt gewiss keine Namen nennen, aber diese Freundin von mir, die stand damals voll auf ihn. Sie wollte nur erreichen, dass er sie zur Kenntnis nimmt, ihr endlich mal einen Blick zuwirft. Sie sagte das auch immer: ‘Ich will bloß, dass er mich mal anschaut.’ Sobald mir dieser Satz von ihr in den Kopf geschossen war, stand auch schon die erste Zeile des Songs.“
Für ihr Alter ist Dionne Bromfield ausgesprochen diplomatisch, was den Umgang mit heiklen Themen wie Trennung und Herzschmerz angeht. „Ich würde nicht sagen, dass ich dieses Leid schon so richtig kennen gelernt habe, aber ich habe andere dabei beobachtet. So ist es ganz einfach, darüber zu schreiben.“ Der Glaube an Dionnes Talent hat offensichtlich nach und nach auch auf sie selbst abgefärbt: „Ich will momentan eigentlich nur noch von meinem Album reden, um ehrlich zu sein.“ Kein Wunder, hat sie doch z.B. auch den Text für eine grandiose Ballade wie „Too Soon To Call It Love“ beigesteuert (übrigens ihr persönlicher Favorit): „Es gab da mal diesen Typen, den ich wirklich, wirklich toll fand. Und alle kamen deshalb bei mir an und sagten, ‘Na, du liebst ihn doch, oder nicht?’ Meine Antwort lautete: ‘Wie soll ich ihn bitte lieben? Ich kenne ihn doch gar nicht. Und ich bin ja erst 15.’ Ich glaube, dass es viele Leute gibt, die noch keine 18 sind und irgendwelche Gefühle haben, und die sich dann einreden, das sei bereits die echte Liebe. Dabei weiß man erst, dass die Liebe echt ist, wenn man sowohl gute als auch schlechte Zeiten zusammen durchlebt hat. Dieses Thema wollte ich auch mal in einem Song ansprechen.“
Ihr zweites Album markiert vor allem eines: Die eigentliche Geburtsstunde der Künstlerin Dionne Bromfield. „Ehrlich gesagt könnte diese Platte kaum unterschiedlicher klingen im Vergleich zum Vorgänger“, so Dionne. „Dabei liebe ich mein Coveralbum und ich fand auch die Aufnahmen damals wahnsinnig toll. Trotzdem spielt diese Platte hier in einer anderen Liga und das musste auch so sein.“ Ihr Plattenlabel hatte zunächst vorgeschlagen, noch ein zweites Coveralbum aufzunehmen und sie erst danach als Songschreiberin auf die Welt loszulassen. „Nachdem die Sessions dann aber so gute Resultate hervorgebracht hatten, fühlte sich diese Überlegung irgendwie nicht richtig an.“ Was sie dem Boss ihres Labels dann auch sagte, wodurch ihrem eigenen Album nichts mehr im Wege stand.
Der erste Song, der bereits die Richtung für ihren neuen Longplayer vorgab, war der gefühlvolle Soul-Rundumschlag namens „The Sweetest Thing“, definitiv ein Highlight der LP. „Da wussten wir schon, dass wir meinen Sound gefunden hatten.“ Einen Sound, der sich perfekt in die neue britische Soul-Tradition einreiht, nachdem Künstler wie Plan B und Paloma Faith vor gar nicht langer Zeit ein Update zu Motown & Co. abgeliefert und die Balance zwischen damals und heute ausgelotet haben, wobei Dionnes Sound auch an den kreativen Höhepunkt einer Gabrielle erinnert. „Künstler wie Marvin Gaye oder The Tempations gibt es heutzutage einfach nicht mehr“, sagt Dionne fast schon etwas traurig. „Nur war es für mich genauso normal, deren Songs als kleines Mädchen mitzusingen, wie es für meine Freundinnen normal war, bei Britney oder bei den Sugababes mitzusingen. Das ist nun mal der Sound, mit dem ich aufgewachsen bin. Das waren meine allerersten Lieblingslieder.“ Falls diese Referenzen jedoch ein wenig zu altbacken klingen für eine 15-Jährige, soll hier auch nicht unterschlagen werden, dass Dionne jetzt schon einen ganzen Haufen Fans im aktuellen R&B- und HipHop-Lager hat – und zwar sowohl dies- als auch jenseits des Atlantik. Einer der lautesten Fürsprecher ist beispielsweise Diggy, der Sohn von HipHop-Ikone Reverend Run (von Run-DMC), der genau wie sie ein 15-jähriger Senkrechtstarter ist. Mit ihm arbeitete Dionne auch für ihre Single „Yeah Right“ zusammen, die in Deutschland als erste Auskopplung von ihrem zweiten Album „Good For The Soul“ erscheint.
Ihre musikalischen Wurzeln schimmern immer wieder durch auf ihrem zweiten Album, einem Longplayer, der ein wenig so klingt, als hätte es vielleicht doch besser ihr Erstling sein sollen. „Um nichts in der Welt würde ich das rückgängig machen wollen. Wie gesagt, ich fand die Arbeit an dem ersten Album großartig. Nur handelt es sich bei diesem Album eher um Auszüge aus meinen eigenen Tagebüchern, während das davor eher ein Auszug aus meinem MP3-Player war.“
Ganz egal, ob es sich nun um eine traurige Ballade wie „Get Over It“ oder um lässige Uptempo-Tracks wie „A Little Love“ oder „Muggin’“ handelt – sie alle passen perfekt ins Hier und Jetzt, während sie einen zugleich an eine Ära erinnern, in der alles noch ein wenig unschuldiger, glanzvoller und irgendwie größer war. Es sind nicht mehr einfach nur neue Versionen von Lieblingssongs, sondern ganz neue Lieblingssongs, zukünftige Lieblingssongs. Und eine Sache darf man ruhig noch mal sagen: Dionne war erst vierzehn, als sie diese Songs geschrieben hat.
„Meine persönlichen Geschichten stecken in diesen Songs“, sagt Dionne, ein Mädchen mit einem Vornamen, in dem zum Glück schon jede Menge Soul-Flavor mitschwingt. „Ich habe die Worte ganz genau unter die Lupe genommen, als ich sie aufgeschrieben habe. So kann ich mich jetzt voll und ganz auf meine Gefühle konzentrieren, wenn ich sie singe. Die Gefühle kommen bei diesen Stücken also ganz automatisch hoch. Weil es meine Songs sind.“