Gleich zu Beginn ihres grandiosen zweiten Albums, „Romance At Short Notice“, beweisen Dirty Pretty Things, dass sie spätestens jetzt zu den größten britischen Bands der Gegenwart zählen. Der Song, um den es geht, heißt „Hippy’s Son“; es ist das zweite Stück der LP, und Carl Barat singt, nein krakeelt diese Nummer in einer Tonlage, wie sie nur ein junger Mann erreichen kann, der die Geister seiner Vergangenheit nicht so recht abschütteln kann und obendrein ein paar Tage durchgemacht haben muss, der jedoch zugleich sehr genau weiß, wie man diese Situation, diesen krassen Zustand der körperlichen Erschöpfung und diese extreme Stimmung in etwas durch und durch Chaotisch-Fantastisches verwandeln kann.
„Ich bin mannhaft, heiß, ich schreie, wenn ich komme“, singt er – frei übersetzt – mit raushängender Zunge und knirschenden Zähnen. Eine Kombination von The Kinks und The Clash kommt diesem musikalischen Rundumschlag wahrscheinlich am nächsten, derbe und dreckig klingt es, vielleicht sogar ein bisschen obszön. Doch handelt es sich dabei um einen Moment, der die Essenz der Dirty Pretty Things sehr gut auf den Punkt bringt und alles übertrifft, was sie zuvor aufgenommen haben.
„Es handelt sich dabei um ein autobiografisches Stück, würde ich sagen“, berichtet Barat mit einer Stimme, die abwechselnd krächzt und hüstelt. „Ich spucke all meine Ängste und Probleme aus, mache meinen Hals und meinen Kopf frei und werfe einen Blick in meine Vergangenheit. Und natürlich rege ich mich dabei über vieles auf. Ob das nun allerdings bedeutet, dass ich unzufrieden mit meiner Erziehung bin? Nein, das nicht, obwohl ich ehrlich gesagt schon sehr kritisch darüber denke –, doch andererseits weiß ich nicht, ob diese Einstellung wirklich berechtigt ist. Ich hatte definitiv eine sehr abwechslungs- und facettenreiche Kindheit; so gesehen kann ich mich eigentlich glücklich schätzen. Und immerhin konnte ich aus diesen Erfahrungen einen Song schnitzen – das ist doch auch was. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass bei dem Stück noch viel mehr mitschwingt.“
Sehr viel mehr sogar. In Zeiten, in denen sich der Durchschnittsrockstar mehr oder weniger aalglatt, fast schon mustergültig und familientauglich präsentiert, ist Carl Barat sicherlich eine Ausnahme: Der Typ Rockstar nämlich, der die nicht immer sauberen Werte der alten Schule vertritt, der halbseidene Querdenker, der gleichermaßen begeistert, erstaunt und verstört. Er hat einen Blick drauf, der einen in die Knie zwingt; bei seinen Tätowierungen hat er selbst Hand angelegt, und er weiß sehr genau, wie man einen Text zum Leben (und Knurren) erwecken kann. Früher war er Teil der Libertines, bis er sich dann gemeinsam mit seiner neuen Band – Anthony Rossomando (Gitarre), Didz Hammond (Bass) und Gary Powell (Schlagzeug) – anderweitig einen Namen machte: mit Dirty Pretty Things nämlich, genau gesagt mit ihrem Debütalbum „Waterloo To Anywhere“, in das sich die Kritiker sofort kollektiv verliebten, während die Fans es massenhaft aus den Regalen holten. (In England gab’s schon nach kürzester Zeit Gold dafür). Dieser Erfolg erlaubte es ihnen auch, die Welt gleich mehrfach zu umrunden, wobei sie ihr Versprechen, außer Kontrolle zu geraten, wiederholt auf diversen Bühnen in die Tat umsetzten. „Nun, wir haben unser Bestes gegeben“, sagt ein grinsender Barat.
Carl Barat ist in einer Sozialwohnung in Basingstroke aufgewachsen. Seine Eltern, die heute in seinen Texten auftauchen, lebten damals schon getrennt und arbeiteten auf eigene Faust an ihren Flickenteppich-Lebensläufen (Künstler, Anti-Atomkraft-Aktivist). Sie hatten sich kurz nach seiner Geburt getrennt –, ein Faktor, der die bereits erwähnte „unglückliche Kindheit“ maßgeblich geprägt hat, der jedoch, wie er heute sagt, nichts ist, über das er „einfach so mit Journalisten quatschen würde“. Verständlich.
In der Schule zeigte er sich dann von seiner kreativsten Seite und versteckte auch seine Intelligenz nicht. Nach dem Abschluss schrieb er sich an der Brunel University ein, um Schauspiel zu studieren, doch lernte er an der Uni schon recht bald einen gewissen Pete Doherty kennen, was dazu führte, dass er die Schauspielerei gleich wieder aufgab und gemeinsam mit Pete eine Rockband gründete. Und was für eine Band. In den letzten Jahren wurde sehr viel über die Libertines geschrieben – zu viel vielleicht –, doch schon im Jahr 2002 war klar, dass sie die wichtigste und am euphorischsten gefeierte Gruppe ihrer Generation waren. Die beiden Köpfe der Band wirkten geradezu wie ein Update zu Strummer & Jones oder Morrissey & Marr.
Als Doherty schließlich die Band verließ, wusste Barat sofort, dass sein Abgang eine Wunde aufreißen würde, von der er sich möglichst schnell erholen musste. Doch war ihm inzwischen klar geworden, dass die Musik seine Berufung war, also musste er weitermachen, ganz egal, wie turbulent die Geschehnisse um seine Person und seine bisherigen Mistreiter auch waren. Also probierten sie, die Libertines am Leben zu erhalten, doch taten sie sich schwer darin, Tourauflagen zu erfüllen. Da ihnen mehr und mehr der Wind aus den Segeln genommen wurde, musste der inzwischen auf sich allein gestellte Sänger irgendwann einfach das Handtuch werfen, sich zurückziehen und seine Gedanken ordnen.
„So kam es, dass ich weite Teile des Jahres 2005 damit verbracht habe, mich einfach nur von diesen Erfahrungen zu erholen“, berichtet er heute. „Dabei war ich gar nicht wirklich krank; ich brauchte einfach nur Abstand von dem ganzen… Scheiß!“
Kurze Zeit später gründete er mit Dirty Pretty Things dann eine neue Band. „Waterloo To Anywhere“, das Debüt, erschien im Jahr 2006 und ging in Großbritannien aus dem Stand in die Top−3 der Charts. Das Album versprühte eine bedingungslose Dringlichkeit, es war herrlich dreckig und enthielt neben ein paar absolut grandiosen Highlights („Deadwood“, „Bang Bang You’re Dead“, „The Enemy“) auch den deutlichen Beweis, dass Barat sich sehr wohl auf etwas konzentrieren konnte. Das war neu.
Sie zogen los und tourten um den Globus, laut Barat „mit voller Kraft, sehr heftig, so heftig, dass wir, nun, dass wir aufgrund des Drucks schließlich vollkommen am Ende waren, platt und ausgebrannt. Schlechte Gewohnheiten rächen sich irgendwann, wenn du weißt, was ich meine. Viel geschlafen haben wir auf dieser Tour jedenfalls nicht, wir waren eigentlich jede Nacht unterwegs…“
Andere hätten sich danach vielleicht eine längere Auszeit gegönnt, doch nicht Barat, ein Typ, der seiner Rolle als Rockstar fast schon verfallen ist, ganz gleich, wie oft er sich auch darüber beschweren mag. „Ich hab mir eine Auszeit von drei Wochen genommen, ab nach Spanien, um neue Kraft zu tanken“, sagt er. „Nur ich und meine Gitarre, eingepfercht in eine Zelle, fast schon wie ein Mönch. Ob’s was gebracht hat? Nun, ich denke, ja. Ich habe es in dieser Phase geschafft, mit vielen Dingen ins Reine zu kommen.“ Als die drei Wochen verstrichen waren, war er bereit, wieder ganz von vorne anzufangen.
„Romance At Short Notice“ wurde abseits der Verlockungen des Londoner Nachtlebens aufgenommen. Die Band einigte sich auf Los Angeles, eine Wahl, die Barat sehr genau zu begründen weiß: „Weil ich L.A. hasse! Ganz besonders sogar, wenn man ohne viel Geld in die Stadt kommt – was bei uns der Fall war. Wir haben die Songs irgendwo zwischen Santa Monica und Venice aufgenommen (im Studio von Nik Leman), in einem Teil der Stadt also, der alles andere als glamourös ist. Eben nicht in Hollywood, sondern gefühlte Lichtjahre davon entfernt. Dort, wo wir gewohnt haben, war einfach nur hässliche Betonwüste angesagt. Was aber auch bedeutet, dass es dort keinerlei Ablenkungen gab.“
Und doch haben DPT in den Staaten nicht nur gearbeitet. „Hin und wieder haben wir uns schon etwas gegönnt. Wir sind dann zum Beispiel für eine Nacht in die Wüste gefahren, in den Joshua-Tree-Nationalpark, nach 29 Palms, und das war einfach der Hammer, wirklich unfassbar. Wer hätte gedacht, dass man bloß zwei Stunden aus der Stadt rausfahren muss, um von gähnender Leere und absoluter Hitze umgeben zu sein. Die Nacht haben wir dann im Zelt verbracht, was, sagen wir mal, sehr interessant war. Wir konnten jede Menge wilde Viecher vor unserem Zelt hören.“
Vier Monate später kehrten sie mit „Romance At Short Notice“ im Gepäck zurück; ein Album, das um Klassen besser ist als ihr Debüt (was ja keinesfalls schlecht war!). Und obwohl die LP aus Gründen der Selbstdisziplin an der eigentlich verhassten Westküste entstanden ist, klingt sie oftmals absolut ausgelassen und positiv; noch überraschender ist nur, dass sie trotz der Standortwahl vor britischen Elementen förmlich zerberstet – ganz gleich, ob es nun um Erlebnisse an der Hunderennbahn geht (wie beim grandios-chaotischen „Chinese Dogs“) oder aber ihr Heimatland selbst der Protagonist des Songs ist, wie im Fall der blutig-knallharten ersten Single „Tired Of England“.
„Genau genommen ist dieser Song [„Tired of England“] das Resultat einer Auseinandersetzung, die ich mit einer anderen Band hatte“, berichtet Barat über die Entstehung der Single. „Deren Sänger hat sich nämlich pausenlos über England aufgeregt, nichts passte ihm in den Kram. Ich hingegen bin davon überzeugt, dass man seinem Land nicht einfach so die kalte Schulter zeigen darf. Wir sollten stolz sein, ja sogar patriotische Gefühle zulassen. Aber das ist bloß meine persönliche Meinung, die tut eigentlich nichts zur Sache. Trotzdem bin ich kein Prediger geworden. Denkt doch was ihr wollt über England. Ich warte so lange hier drüben“, lacht er, „und denke mir meinen Teil.“
Trotz der lautstarken Ansagen und energischen Ausbrüche, die das neue Album von DPT auszeichnen, schwingt auf der LP auch etwas anderes mit: eine bislang unbekannte, gefühlvolle Seite des Sängers. „Plastic Hearts“ ist zum Beispiel ein astreiner Popsong mit einem wunderbar eingängigen Mitsing-Refrain (Stichwort: La-La-La), und „Come Closer“ ist ein zuckersüßes Akustik-Klagelied. „The North“ kann man ohne Umschweife als die „anmutigste“ Nummer bezeichnen, die Dirty Pretty Things jemals aufgenommen haben: ein rührseliges Stück Selbstfindung, bei dem Didz Hammond als Sänger auftritt und folgenden Enthaltsamkeits-Reim präsentiert: „I’ve been thinking through my drinking/My confidence is shrinking.“ Das perfekte Gegenmittel stellt „Kicks Or Consumption“ dar, gesungen von Anthony Rossomando, das angenehm ungehobelt klingt. Und während auch „Blood On My Shoes“, das letzte Stück der LP, relativ ruhig beginnt, ändert sich das schon nach wenigen Takten…
„Ich denke, dass sich diese LP sehr stark vom Vorgänger unterscheidet“, meint Barat. „Als ob wir einen gewaltigen Satz nach vorne gemacht und eine sehr viel bessere Platte abgeliefert hätten.“ Er zuckt die Achseln. „Zumindest hoffe ich, dass das Album besser ist. Mir ist das alles erst vergangene Woche klar geworden, aber ich bin deswegen schon eine ganze Weile ziemlich aufgeregt. Passiert mir öfter, das mit der Nervosität, ich werde wegen allen möglichen Dingen nervös.“
Allerdings wird er nervös. Doch ist das einer der Gründe dafür, dass Carl Barat zu den faszinierendsten Typen Englands zählt: Dickköpfig und dreist, introvertiert und gebrechlich zugleich, dazu ein immer besserer Songwriter, der eine Band anführt, die immer beeindruckender wird. Dirty Pretty Things haben mit ihrem neuen Album das geschafft, was viele für unmöglich gehalten haben: Sie haben sich aus dem überdimensionalen Boulevard-Schatten, der viel zu lange über ihrer Musik hing, hinausbewegt, haben die Schlammschlacht überstanden und bewegen sich jetzt vorwärts, wobei sie nur noch die Musik für sich sprechen lassen.
„Ob ich inzwischen glücklich bin?“, fragt Barat abschließend, kratzt sich am Kopf, zögert, gibt ein paar Hm-Laute von sich und schaut durch die Gegend. „Sagen wir so: Ich bin weniger unglücklich als sonst. Ein Grund zum Feiern, was?“