Wie kann man heute deutlich machen, was es einst bedeutete, als Sergej Diaghilew Anfang des 20. Jahrhunderts den Pariser Kunstbetrieb mit seinen Ballets Russes auf den Kopf stellte? Sollte ihm das wirklich mit Komponisten wie Strawinsky, Rimsky-Korsakow oder Ravel gelungen sein? Und wie machen wir das heute hörbar, wo all diese einstigen Provokateure längst zum guten Ton gehören?
Den beiden jungen Ausnahmepianisten Alice Sara Ott und Francesco Tristano liegt es fern, diese Fragen intellektuell zu überreizen. Sie spielen, wie ihnen die Finger gewachsen sind. Vielleicht macht ja gerade diese verspielte Unbefangenheit, mit der sie sich den Klassikern des frühen 20. Jahrhunderts nähern, den Skandal dieser Einspielung für zwei Klaviere aus. Beeinflusst von elektronischer Musik und anderen Strömungen unserer Zeit, die vor allem auf die tänzerische Motorik des Hörers abzielen, sammeln sie diese Stücke mit ihren russischen, wienerischen und Pariser Akzenten ein und verfrachten sie ins Club-Ambiente von heute.
Die Tatsache, dass das Hauptwerk dieses Albums, Strawinskys „Le Sacre du printemps“, beim damaligen Publikum einen »Buh«-Reflex auslöste, schwingt hier nur als informelle Kulisse mit. Die Provokation dieser Aufnahme besteht weniger im Rückblick auf die Brüskierung von einst, sondern in deren vorbehaltloser Transformierung in die Gegenwart. So ist auch Tristanos eigens für diese CD entstandene Eigenkomposition A soft shell groove eine von beiden Künstlern als notwendig empfundene zeitgenössische Abrundung des Repertoires. Und wie alle anderen Werke des Albums hat das Stück mit Tanz zu tun, eine sanft-groovige Nummer mit 4⁄4-Techno-Feeling.
Wer heute ein Stück aus dem Standardrepertoire der Klassik hört, weiß genau, worauf er sich einlässt. Strawinsky ist kein Unbekannter, Ravel und Rimsky-Korsakow sind es ebenso wenig. Ott und Tristano tragen die Schöpfungen dieser drei großen Komponisten aber dahin zurück, woher sie einst kamen. Nicht klanglich, nicht ästhetisch, aber programmatisch und spirituell. Sie brechen auf zu einem Ausgangspunkt der erwartungsfreien Äußerung und nehmen sich die skandalöse Freiheit, etwas völlig neu zu erfinden, das es schon lange gibt. Scandale, das steht völlig außer Frage, ist ein Dokument des gerade in Fahrt gekommenen 21. Jahrhunderts.