Friedrich Guldas erste Aufnahmen für Decca auf CD
Wilde Techno-Partys, schicke Gogo-Girls und ein roter Ferrari – Friedrich Gulda war nicht nur genialer Pianist, sondern auch medienwirksames Faszinosum. Seine Extravaganzen konnte sich Gulda nur leisten, weil er – nach eigenem Bekunden – mit 17 bereits “fertig” war. Ein Frühvollendeter, dessen Kreativität sich abseits vom Standardrepertoire neue Bahnen schuf. Wie sich das Wiener Klaviergenie wirklich anhörte, belegt die erstmalige Veröffentlichung von Einspielungen Guldas aus den Jahren 1947 bis 1949 für Decca. Ein kleine Sensation für Kenner, ein Muss für den Fan, hörenswert für jeden der Klaviermusik liebt.
Hauptbahnhof Genf, Oktober 1946: In einer kleinen Gruppe verhungerter und verschreckter Österreicher, die zum ersten Genfer Musikwettbewerb nach dem Ende des 2. Weltkrieg anreisten, war auch der sechzehnjährige Friedrich Gulda. Unter Dutzenden von Mitbewerbern erreichte er knapp den Einzug ins Finale der ersten zwölf. Als Letzter hatte er spät Nachts in der Victoria Hall zu spielen. Bereits nach den ersten Tönen war die Jury wieder hellwach. Sein Auftritt wurde zur Sensation, der junge Pianist war mit einem Schlag weltberühmt geworden. In den folgenden vier Jahren spielte er sich scheinbar mühelos in die erste Reihe der internationalen Klaviermeister.
Wie Friedrich Gulda damals klang, das ist jetzt erstmals auf CD dokumentiert. Zwischen 1949 und 1958 nahm Gulda alle Beethovensonaten für die Decca in London auf. Seit dieser weltberühmten Schallplatten-Edition ist das Schaffen des am 27. Januar 2000 verstorbenen Pianisten lückenlos auf LP und CD festgehalten. Das zumindest glaubte man bis heute. Dass Decca/Universal zum 75. Geburtstag des Meisters am 16. Mai 1930 dessen erste Aufnahmen aus den Jahren 1947 bis 1949 auf CD veröffentlicht, ist eine kleine Sensation.
Die First Recordings bieten die einzigartige Möglichkeit, den Frühvollendeten mit einem für ihn damals typischen Programm zu hören: J.S. Bach mit “Präludium und Fuge G-Dur BWV 860”, zwei Menuette sowie die Fuge aus “Toccata und Fuge in c-MolI”. Von Beethoven nahm Gulda die “Bagatelle B-Dur op. 119, Nr.11” und “Sechs Ecossaisen Es-Dur WoO 83” auf. Es folgen von Frédéric Chopin die “Berceuse Des-Dur”, die Etüden “As-Dur” und “f-Moll” sowie die “Ballade Nr. 3, As-Dur”.
Einzigartig ist die Aufnahme von Sergej Prokofieffs “Klaviersonate Nr. 7 B-Dur op. 83”. Es existiert keine weitere Prokofieff-Einspielung Guldas, obwohl er dessen Werke in den ersten Jahren seiner Karriere häufig spielte, später dagegen nicht mehr. Zeit seines Lebens dagegen begleiteten ihn die Werke Debussys und Mozarts. Das First-Recordings-Album enthält auch Debussys “L’isle joyeuse” und “Reflets dans l’eau” sowie die “Klaviersonate D-Dur” von Wolfgang Amadeus Mozart.
First Recordings ist ein Aha-Erlebnis, auch für den Kenner: Hört man den damals siebzehn bis neunzehn Jahre alten Pianisten, dann wird einem klar, was unter “frühvollendet” zu verstehen ist.
Der Musikpublizist Joachim Kaiser, Autor des Booklettextes von First Recordings, berichtet von einem Gespräch mit Gulda: “Wenn man Gulda über die Jahrzehnte hin' verfolgte' als Kritiker und Freund – seine Perfektion bewundernd, sein Repertoire bestaunend, seine exzentrische Eskapaden bedauernd – dann mochte man zunächst kaum glauben, dass seine Aussage wirklich zutreffe, er habe eigentlich ‘nur zwischen seinem 13. und 16. Lebensjahr geübt’. Mit 17 sei er als Pianist ‘fertig’ gewesen.”
Die Decca-First-Recordings bestätigen es vorbehaltlos: Gulda war bereits mit 17 ein vollendeter Pianist. Andere haben in diesem Alter gewöhnlich damit zu tun, an Interpretation und Technik zu feilen und sich ein Repertoire zu erarbeiten. Sie hätten schlicht und einfach keine Zeit gehabt, sich in ähnlicher Weise mit dem Klassik-Establishment anzulegen, wie dies der “konservative Revolutionär” Gulda spätestens seit Mitte der 50er-Jahre getan hat.
Die Liste der “Verrücktheiten”, für die der Name Gulda steht, ist lang: ein Frackpianist, der in den 50er-Jahren nach dem Konzert im New Yorker Birdland jazzte, der freie Musik zu zelebrierte oder der sich die Kunstfigur Golowin schuf und somit Mitbegründer der Liedermacher-Welle war. Friedrich Gulda äußerte sich kulturpolitisch, lehnte den Beethovenring ab, gründete Festivals (Internationales Musikforum Ossiachersee, Münchner Klaviersommer u.a.), er “schmuggelte” Nikolaus Harnoncourt und Chick Corea an Karajan vorbei in die Salzburger Festspiele, er inszenierte seinen Tod, nur um anschließend eine Resurrection-Party zu geben; er führte auf Ibiza ein schickes Partyleben und ließ die handverlesenen Disco-Tänzerinnen für seine “Mozart-live-” und “Mozartiana-Projekte” nach München und Salzburg einfliegen. Das alles konnte sich nur jemand leisten, der Zeit dafür hatte, der schon in jungen Jahren so gut spielte wie “der Gulda”. Provokation war für den früh vollendeten Pianisten stets auch künstlerische Suche, eine überlebensnotwendiges Therapeutikum. Die schillernde Figur, die er war, als die er sich inszenierte, konnte eines nie überdecken. Ein Faszinosum war Friedrich Gulda nicht wegen seiner Skandale geworden, sondern einfach deshalb, weil er ein Klavier-Genie war. “Das Genie, das so gerne Talent gewesen wäre”, titelte Wolfgang Sandner einmal in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Hinblick etwa auf Guldas Jazzambitionen. Im Beiheft zu den First Recordings schreibt Joachim Kaiser: "Der Komponist Boris Blacher sagte damals lächelnd zu mir, dass er ‘Klassik’ eigentlich nur noch von diesem Gulda ertragen könne
Das Genie des Jugendlichen vermittelt First Recordings in herausragender Tonqualität. Die Aufnahmen stammen nicht aus den Archiven der Decca, sondern wurden von Guldas zweitältestem Sohn Paul Gulda und der Nachlassverwalterin Ursula Anders, der wichtigsten Lebensgefährtin und Muse Guldas, zur Verfügung gestellt. Nur weil die Aufnahmen bereits auf Vinyl gemacht wurden, ist die Tonqualität der remasterten 78er-Vinyls überzeugend: Trotz historischer Aufnahmetechnik besticht Guldas Klavierspiel mit warmem Charme, mit Brillanz, sowie einem präsenten und lebendigen Klangbild.
Die Platten waren zwar wieder gefunden, doch es stellte sich die Frage, wer heute überhaupt noch mit dieser Technologie umgehen kann? Durch jedes Abspielen veränderte sich die Größe der Rille. Für eine neue, wenig gespielte Platte benötigte man eine kleine Nadel. War die Scheibe oft abgespielt, brauchte man eine dickere, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Product Manager Oliver Wazola wandte sich an Bob Jones in London, dem ehemaligen Decca-Chef-Remasterer. Nachdem er für diese spezielle Herausforderung reaktiviert worden war, sandte Jones bereits nach wenigen Tagen eine professionell remasterte CD-R nach Berlin ins Decca-Büro bei Universal. Dann setzte sich noch ein zweiter Spezialist, der in den Emil Berliner Studios unter anderem die legendäre “Berlin-Ballroom-Edition” remastered hatte, mit Friedrich Guldas ersten Einspielungen auseinander. Das Resultat: First Recordings vermitteln dem Hörer den Eindruck, als wäre der 17-jährige Friedrich Gulda erst gestern im Aufnahmestudio gewesen.