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GRIGORY SOKOLOV IN EISENSTADT
Kaum ein Konzertsaal ist so geschichtsträchtig und inspirierend wie der Haydnsaal von Schloss Esterházy in Eisenstadt. Hier, auf halber Strecke zwischen Wien und der ungarischen Grenze, wirkte Joseph Haydn mehr als 30 Jahre lang als Kapellmeister der Fürsten Esterházy und komponierte in dieser Zeit einen Großteil seiner Symphonien, Chorwerke und Streichquartette sowie die meisten seiner rund 60 Klaviersonaten.
Am 10. August 2018 gab Grigory Sokolov hier einen bemerkenswerten Klavierabend mit Werken von Haydn und Franz Schubert, einem weiteren Komponisten, der eine besondere Beziehung zu Eisenstadt hatte. Nachdem der Videomitschnitt dieses Konzerts zum ersten Mal im Internet gestreamt worden war, meinte Colin Clarke in Seen and Heard International: »Damit hat Sokolov einmal mehr gezeigt, dass er völlig zu Recht als einer der bedeutendsten Pianisten unserer Tage gilt.«
Der Haydnsaal, in dem der Komponist selbst regelmäßig musiziert und konzertiert haben dürfte, ist ein Kunstwerk für sich und ein wahres Juwel des Rokoko: Drei Stockwerke hoch, war er sowohl für Bankette wie für Konzerte gedacht und wurde von Friedrich Rhode, dem Hofmaler der Esterházys, mit prächtigen Gemälden ausgeschmückt; darüber hinaus verfügt der Saal mit seiner ausgewogenen Mischung von Nachhall und Klarheit über eine exzellente Akustik. Vor dieser eindrucksvollen Kulisse versenkt sich Sokolov in gewohnter Manier ganz tief in die Musik, die er spielt, was Filmemacherin Nadia Zhdanova und ihre Assistentin Maria Novikova überaus einfühlsam eingefangen haben.
Sokolov spielt auf einem Steinway-Flügel aus dem Bestand der renommierten spanischen Firma Hinves Pianos, den Patrick Hinves Ballesta – wie immer in enger Abstimmung mit Sokolov selbst – für das Konzert eingerichtet hat. Auch die Filmfassung wurde sorgfältigst vorbereitet: In jeder Saison werden einige von Sokolovs Konzerten von fünf bis sechs unauffällig platzierten Kameras komplett mitgeschnitten, und erst wenn der Pianist eine dieser Aufzeichnungen freigegeben hat (wobei für ihn einzig und allein der Ton ausschlaggebend ist), werden die verschiedenen Einstellungen zu einem Konzertfilm kombiniert.
Haydn kam 1761 nach Eisenstadt, zunächst als Vize-Kapellmeister von Fürst Paul Anton, bevor er fünf Jahre später unter Fürst Nikolaus zum ordentlichen Kapellmeister aufrückte. Laut Dienstvertrag galt Haydn als »Hausoffizier« und musste bei entsprechender Gelegenheit auch Livree tragen, doch die bestens ausgestattete Hofmusik folgte ihren eigenen Regeln, sowohl in Eisenstadt als auch auf dem Landgut Eszterháza in der Nähe des ungarischen Fertőd, wo die Fürsten ab 1762 einen prächtigen neuen Palast erbauen ließen.
Haydn war ein vielbeschäftigter Mann mit diversen Aufgaben: Er verwaltete und dirigierte das Orchester, spielte regelmäßig Kammermusik für und mit den Fürsten und ihren Freunden, brachte neue Opern zur Aufführung (mitunter eine pro Monat) und hatte daneben auch für konstanten Nachschub an neuen Werken zu sorgen. Seine Distanz zum Wiener Musikleben sah er dabei nach eigenem Bekunden durchaus als Vorteil: »Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so musste ich original werden.« Was Haydn in der Region jedoch oft zu hören bekam, waren Zigeunerkapellen, deren mitreißende Rhythmen und atemberaubende Virtuosität deutliche Spuren in seiner Musik hinterließen.
1795 übersiedelte Haydn nach Wien und verbrachte in den nächsten Jahren nur noch die Sommermonate am Hof der Esterházys. Und obwohl er 1809 in Wien starb, wurde sein Leichnam wegen seiner langjährigen Beziehung zu Eisenstadt 1820 dorthin übergeführt. Heutige Besucher finden Haydns Grab unter dem Nordturm der sogenannten »Haydnkirche«; darüber hinaus kann man auch das barocke Wohnhaus des Komponisten und sein »Kuchlgartl« besichtigen.
1828 pilgerte ein anderer Komponist zu Haydns Grab: Gemeinsam mit seinem Bruder Ferdinand unternahm Franz Schubert einen dreitägigen Fußmarsch vom 60 km entfernten Wien nach Eisenstadt. Für Schubert war der ältere Kollege ein wichtiges Vorbild; im Zuge des »Sturm und Drang« hatte Haydn in seiner Musik immer öfter emotionale Extreme ausgelotet, worin Schubert ihm folgte.
Zu Haydns Versuchen im »Empfindsamen Stil« gehört auch die Sonate in g-Moll Hob. XVI:44, ein zweisätziges Divertimento von ausgesprochen melancholischer Melodik. Die h-Moll-Sonate Hob. XVI:32 von 1776 ist ebenfalls ein Divertimento, dessen erster Satz sich noch stürmischer gebärdet, worauf das Menuett mit Ruhe und Gelassenheit antwortet. Auch die drei Sätze der 1780 veröffentlichten Sonate Hob. XVI:36 in der für diese Zeit sehr ungewöhnlichen Tonart cis-Moll sind geprägt von starken Kontrasten.
Die zweite Hälfte des Konzerts gehört Schuberts Impromptus D 935. Die vier Stücke entstanden 1827 und bilden gewissermaßen eine Sonate, die in f-Moll beginnt und endet, mit einem zweiten Satz in der parallelen Durtonart As-Dur. Lediglich das dritte Impromptu mit seinen Variationen über ein Thema aus der Musik zu Rosamunde verlässt mit B-Dur diesen Rahmen. Das letzte Stück verweist mit seinen virtuosen Passagen auf den ungarischen Einfluss, dem sich Schubert genauso wenig entziehen konnte wie Haydn.
Zu einem Sokolov-Konzert gehören immer auch eine ganze Reihe von Zugaben. In diesem Fall finden sich darunter zwei weitere Schubert-Stücke: gleich zu Anfang das As-Dur-Impromptu D 899/4 und als dritte Zugabe die anrührende Ungarische Melodie D 817. Daneben hören wir noch Rameaus Le Rappel des oiseaux, eine barocke Studie über Vogelstimmen; Chopins Des-Dur- Prélude op. 28/15; einen Walzer von Alexander Griboyedov, einem russischen Zeitgenossen Schuberts; und zu guter Letzt Debussys Prélude Des pas sur la neige, dessen Klänge weit in die Zukunft weisen und den Abend leise und poetisch ausklingen lassen, bevor Sokolov sein Publikum in den leichten Sommerregen entlässt.
Jessica Duchen
Schloss Esterházy in Eisenstadt ist eines der schönsten Barockschlösser Österreichs und gibt einen beeindruckenden Einblick in das glanzvolle Leben am Hof der Fürsten Esterházy. Markant und imposant bildet es seit Jahrhunderten nicht nur den kulturellen Mittelpunkt Eisenstadts. Als einstige Dienststätte Joseph Haydns und damit einer der Geburtsorte der Wiener Klassik sowie Schauplatz prunkvoller Konzerte und Feste dient das Schloss heute als Museum und moderne Veranstaltungslocation. Einzigartige Exponate laden zum Erkunden der Sammlungen des Hauses Esterházy ein, und Konzerte internationaler Musikstars locken in den geschichtsträchtigen Haydnsaal. Das Schloss und die ehemaligen Stallungen bilden gemeinsam das Schlossquartier Eisenstadt, in dem Zeitgenössisches und Historisches, Musik und Kunst, Kulinarik und Wein in einzigartiger Weise zusammentreffen.
GRIGORY SOKOLOV AT EISENSTADT
Few locations for a concert could be more inspiring than the Haydnsaal at Esterházy Palace in Eisenstadt. Here, midway between Vienna and the Hungarian border, Joseph Haydn spent over three decades serving as Kapellmeister to the Esterházy princes, during this time composing many of his symphonies, choral works and string quartets, and, not least, most of his 60-odd piano sonatas.
On 10 August 2018 the Haydnsaal hosted a remarkable recital by Grigory Sokolov, who performed music by Haydn and another composer strongly associated with Eisenstadt, Franz Schubert. Reviewing the event’s first video streaming, Seen and Heard International’s reviewer Colin Clarke wrote: “Sokolov’s reputation as one of the greatest living pianists remains intact.”
The Haydnsaal, where the composer would have performed frequently, is sometimes termed an artwork in its own right. A rococo treasure three storeys high, designed for both banquets and concerts, it boasts lavish paintings by the Esterházy court artist, Friedrich Rhode; its acoustics, too, are exceptionally fine, balancing resonance and clarity. Sokolov’s profound identification with the music he plays is offset in this video by the remarkable surroundings, sensitively filmed by Nadia Zhdanova, assisted by Maria Novikova.
Sokolov is performing on a Steinway piano, provided by the distinguished Spanish firm Hinves Pianos, attended by the technician Patrick Hinves Ballesta in close consultation, as always, with Sokolov himself. Likewise, the filming was organized with meticulous precision. Several of his recitals per season are filmed unobtrusively with five or six fixed cameras placed around the hall, and the angles combined later to create a video if and when Sokolov agrees (he chooses the performances to authorize for release from the audio alone).
When Haydn came to Eisenstadt in 1761 – first as Vice Kapellmeister to Prince Paul Anton, then becoming full Kapellmeister five years later under Prince Nikolaus – he had at his fingertips an embarras de richesses of musical facilities. True, he was in effect a liveried servant. Court music, however, was a business of its own, whether at Eisenstadt or at the more remote estate of Eszterháza near Fertőd, Hungary, where the princes started to build a magnificent new palace in 1762.
Haydn’s hectic roster of responsibilities included managing and conducting the orchestra, playing chamber music for and with the princes and their friends, mounting productions of new operas (at times as many as one a month) and, not least, ensuring a constant flow of fresh compositions. His isolation from Viennese musical life even became an advantage: he once noted that, in the absence of other influences, he was “forced to become original”. Still, he was often able to hear Hungarian Gypsy bands in the area; their irresistible rhythms and breathtaking virtuosity made a powerful impact.
Haydn returned to Vienna in 1795, dividing his time between the city and the Esterházys for some years. He died in Vienna in 1809; nevertheless, his lengthy association with Eisenstadt made it ultimately the location of his grave. Today visitors can also see the nearby “Haydn Church”, the composer’s baroque house, and his Kuchlgartl (little herb garden).
In 1828 another composer made the pilgrimage to Eisenstadt to visit Haydn’s grave: Franz Schubert, together with his brother Ferdinand, travelled on foot from Vienna over three days, a journey of around 35 miles each way. Haydn had been a major influence on Schubert; the 18th-century Sturm und Drang movement had furthered Haydn’s propensity to delve into extremes of emotional expression, and in that respect Schubert was following in his footsteps.
Haydn’s ventures into the Empfindsamer Stil (sensitive style) are reflected in the G minor Sonata Hob. XVI: 44, a two-movement divertimento with a deeply melancholy melodic character. The B minor Sonata Hob. XVI: 32 of 1776, also a divertimento, goes still further into turbulent spheres, which contrast against the serenity of the minuet. The three-movement C sharp minor Sonata Hob. XVI: 36, published in 1780, shares this sense of contrast, in a key highly unusual for the time.
Sokolov performs Schubert’s Impromptus D 935 in the recital’s second half. Written in 1827, the four virtually form a sonata, beginning and ending in F minor, with the second piece in the relative major, A flat. The third impromptu with its Rosamunde-based variations is the sole venture away, into B flat. The final piece, with its flights of virtuosity, suggests the Hungarian influence that Schubert sometimes shared with Haydn.
No Sokolov concert is complete without plenty of encores. Here they include two more pieces by Schubert – first, the other A flat major Impromptu, from the first set D 899, and, third in sequence, the exquisitely touching Hungarian Melody D 817. We are also treated to Rameau’s Le Rappel des oiseaux, a baroque evocation of birdsong; Chopin’s D flat major Prélude from Op. 28; a waltz by Alexander Griboyedov, a Russian contemporary of Schubert; and finally Debussy’s Prélude Des pas sur la neige, ending the recital on a hushed note of poetry, looking ahead far into the future, before Sokolov’s audience departs into the gentle rain outside.
Jessica Duchen
One of Austria’s most beautiful baroque palaces, Esterházy Palace in Eisenstadt affords an impressive insight into the resplendent lives led by members of the Esterházy court. For centuries this striking and imposing building has been at the very heart of Eisenstadt’s cultural life. As Joseph Haydn’s former place of employment, it is one of the cradles of Viennese Classicism and in its day was the scene of magnificent concerts and sundry other celebrations. The palace now serves as a museum and as a modern events venue. Unique exhibits invite visitors from all over the world to explore the collections of the House of Esterházy, while concerts given by leading international musicians tempt audiences to the Haydnsaal (Haydn Concert Hall), with its venerable tradition. Together, the palace and the former stables form Eisenstadt‘s palace quarter, where visitors will find a unique combination of the contemporary and the historical, of music and art and, last but not least, of cuisine and wine.