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»EINE KRAFTVOLLE, ORIGINELLE PERSÖNLICHKEIT«
Als Krystian Zimerman im Juni 2022 ins japanische Fukuyama reiste, wollte er hier nach 28 Jahren seine Aufnahme von Werken seines Landsmannes Karol Szymanowski zum Abschluss bringen, die er bereits 1994 begonnen hatte.
Äußerer Anlass war Szymanowskis 140. Geburtstag im Oktober 2022, aber auch die Aussicht, in dem wundervollen Konzertsaal von Fukuyama aufnehmen zu können, für dessen Akustik Yasuhisa Toyota verantwortlich zeichnet. Zimerman ist befreundet mit Toyota und bewundert seine Arbeit seit Langem: »In Toyotas Sälen ist jeder Ton klar und deutlich zu hören, und trotzdem klingt alles warm und wie auf Samt gebettet.«
Für dieses Album hat Zimerman Werke ausgewählt, die seiner Meinung nach Szymanowskis Wesen am besten einfangen. Auf diese Weise möchte er dessen Musik stärker ins Licht der Öffentlichkeit rücken und Szymanowski endlich einen Platz im Kanon der großen Klavierkomponisten sichern. Jedes Stück und jede Sammlung steht dabei für eine bestimmte Phase in Szymanowskis Entwicklung.
Über seine Freundschaft mit Arthur Rubinstein, den er als junger Mann kennenlernte, hat Krystian Zimerman eine indirekte Beziehung zu Szymanowski. Der legendäre Pianist kannte Szymanowski gut und war ein engagierter Fürsprecher seiner Musik. In seiner Autobiografie My Young Years (dt. Erinnerungen) beschreibt Rubinstein seine erste Begegnung mit Werken von Szymanowski. Während eines Aufenthaltes in Zakopane am Fuß des Tatra-Gebirges übte Rubinstein eines Abends Klavier, als ihn eine finstere Gestalt vor dem Fenster erschreckte. Der Störenfried entpuppte sich als Medizinstudent, der Rubinsteins Klavierspiel lauschen wollte und ihn fragte, ob er ihm ein paar Préludes, Etüden und eine Violinsonate seines Freundes Karol Szymanowski zeigen dürfe.
Beim Durchblättern dieser Stücke erkannte Rubinstein sofort, dass er es mit einem bedeutenden polnischen Komponisten zu tun hatte. »Sein Stil erinnerte an Chopin«, so Rubinstein, »die Struktur an Skrjabin, doch die Stimmführung und die gewagten, eigenartigen Modulationen wiesen das Gepräge einer kraftvollen, originellen Persönlichkeit auf.« In der Folge wurden Rubinstein und Szymanowski gute Freunde.
Zimerman war ein junger, aufstrebender Pianist, als er Rubinstein zum ersten Mal vorspielte. »Ich hatte Todesangst«, erinnert er sich. »Aber in seiner Gegenwart merkte ich immer, wie ich bestimmte physische Aspekte meines Spiels verbessern konnte. Wenn ich später ein physisches Problem am Klavier lösen musste, dachte ich immer: ›Okay, jetzt spiele ich für Arthur‹ – und es war, als würde er mir aus dem Jenseits dabei helfen, eine Lösung für mein Problem zu finden. – In seinen letzten Jahren habe ich ihn oft besucht und wir haben stundenlang über Musik geredet. Damals verstand ich noch nicht alles, was er mir sagte, aber später, als ich etwas mehr Erfahrung hatte, fielen mir viele seiner Gedanken und Sätze wieder ein. Ich sah sie jetzt in einem anderen Licht und begriff, welchen unglaublichen Schatz er mir damit hinterlassen hatte.«
Die Préludes op. 1 gehören zu den ersten Werken von Szymanowski, die Rubinstein in sein Repertoire aufnahm. Die neun Préludes stellte der Komponist 1900 für seine erste Veröffentlichung zusammen, und jedes Prélude behandelt einen bestimmten Aspekt des Klavierspiels, was an Chopin und dessen Vorbild Bach erinnert. Die meisten dieser Stücke stammen aus den Jahren 1899 und 1900, aber Nr. 7 und Nr. 8 entstanden vermutlich schon 1896, als Szymanowski gerade einmal 14 Jahre alt war, und bereits in diesen Jugendwerken ist der besondere Tonfall unüberhörbar, der Rubinstein so tief beeindruckte.
Die Masques op. 34 hat Zimerman zwar schon 1994 aufgenommen, sie werden hier aber zum ersten Mal veröffentlicht. Die drei Stücke stammen von 1915/16 und zeigen den reifen Szymanowski auf der Höhe seines Könnens. Der Einfluss von Strawinsky, Skrjabin und Debussy macht sich in leuchtenden Stimmungen und schillernden Texturen bemerkbar, und die Musik ist durchdrungen von den exotischen Klängen des Mittelmeerraumes und des Nahen Ostens, den der Komponist vor dem Ersten Weltkrieg intensiv bereist hatte.
Unter der satten Sinnlichkeit von »Shéhérazade« spürt man die nervöse Anspannung einer Titelheldin, die um ihr Leben bangt. »Tantris le Bouffon« basiert auf dem Drama Tantris der Narr von Ernst Hardt aus dem Jahr 1908, einer Parodie des Tristan-Stoffes, und steht hörbar unter dem Eindruck von Strawinskys Petruschka, den Szymanowski über Rubinstein kennengelernt hatte. Die »Sérénade de Don Juan« wechselt zwischen satirischer Darstellung des Don (der ewig braucht, um seine Gitarre zu stimmen) und überschwänglichen Gefühlsausbrüchen, denen man aber nicht so recht glauben mag.
Für die letzte Phase von Szymanowskis Karriere stehen die Mazurken op. 50, eine abwechslungsreiche Sammlung von Klavierstücken, die Elemente der polnischen Volksmusik verarbeiten. Besonders am Herzen lag Szymanowski dabei die Musik der Goralen, die in den Bergen der Tatra um Zakopane leben: »Die immanente Schönheit der Musik, Tänze und Architektur der Goralen zu entdecken, war für mich von großer persönlicher Bedeutung; vieles von dieser Schönheit habe ich tief in meine Seele aufgesogen.«
Die 20 Mazurken erschienen zwischen 1926 und 1931 in fünf Bänden und präsentierten Szymanowski als Teil einer internationalen Bewegung, die sich intensiv mit volkstümlichen Quellen auseinandersetzte. Vor allem Strawinskys Arbeit mit russischen Volksliedern inspirierte seinen polnischen Kollegen dazu, Elemente aus der Musik der polnischen Bergbewohner aufzugreifen. In der hier zu hörenden Auswahl wimmelt es nur so von Ganztonskalen, Bordunbässen, Tritonusklängen, reich verzierten Melodien und bodenständig-stampfenden Rhythmen: In seinen letzten Jahren schuf Szymanowski eine Musik, die frischer und neuartiger klingt denn je.
Die Variationen über ein polnisches Volksthema op. 10 schrieb Szymanowski 1904 während seiner Studienzeit in Warschau. Das Thema entnahm er Jan Kleczyńskis O muzyce podhalańskiej (Über die Musik des Podhale), es hat allerdings nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Originallied. Szymanowskis Variationen wachsen sich zur großangelegten Meditation aus, die in ihrem Ausreizen des technisch Machbaren an Liszt erinnert und in einem gigantischen Fugenfinale gipfelt. Die Heimatliebe des jungen Komponisten für sein vergöttertes Polen ist in jedem Takt spürbar.
Jessica Duchen
“A POWERFUL, ORIGINAL PERSONALITY”
When Krystian Zimerman travelled to Fukuyama, Japan, in June 2022, it was to complete a journey that had taken 28 years: a recording of music by his compatriot Karol Szymanowski that he had first begun in 1994.
The spur came on the one hand from the fast-approaching 140th anniversary of Szymanowski’s birth, and on the other hand from the prospect of recording in a beautiful concert hall in Fukuyama designed by Zimerman’s friend Yasuhisa Toyota, whose acoustics Zimerman has long admired. “In Toyota’s halls, every note is clear,” he says, “yet each is in a cushion of warm surroundings.”
For this album Zimerman has selected repertoire that for him shows the essence of Szymanowski, aiming to shed new light on his music and place him firmly in the canon of great composers of piano music. Each work or group of pieces represents a different, distinctive stage in his development.
Perhaps Krystian Zimerman’s most direct link with Szymanowski is through his early friendship with Arthur Rubinstein, the great pianist who knew Szymanowski well and championed his compositions. In his autobiography, My Young Years, Rubinstein recalled his first encounter with the composer’s music. Staying in Zakopane at the foot of the Tatra mountains, he was practising one night only to be startled by a dark figure lurking outside. The intruder was a young medical student who explained that he was simply listening to him play. He then asked Rubinstein if he could show him some preludes, études and a violin sonata by his friend Karol Szymanowski.
On seeing these early pieces, Rubinstein quickly realized he was discovering a great Polish composer. “His style owed much to Chopin,” he wrote, “his form had something of Scriabin, but there was already the stamp of a powerful, original personality to be felt in the line of his melody and in his daring and original modulations.” Rubinstein and Szymanowski subsequently became good friends.
Zimerman was a young, rising-star pianist when he first went to play to Rubinstein. “I was scared to death,” he recalls. “But in his presence, I became more conscious of how I could correct certain physical issues in my playing. Much later, sometimes when I was trying to solve a physical problem, I would think: ‘OK, now I play for Arthur’ – and it was as if he helped me to solve this problem, somewhere from the other world. – In his last years I often went to see him and we would talk for hours about music. At that time, I did not fully understand certain phrases or ideas, but later, with experience, I would come back to them and see them in a different light, able to get deeper into this incredible capital.”
The Préludes op. 1 were among the first Szymanowski works Rubinstein championed. In 1900 the composer selected nine of his preludes as his first publication: they follow a Chopinesque concept derived from Bach’s preludes, each developing a single idea. Most were written in 1899/1900, but Nos. 7 and 8 probably date from 1896, when the composer was only 14. Even then, the special voice that Rubinstein described is clearly present.
The earliest recording in this collection is of the three Masques op. 34, which Zimerman recorded in 1994; here the result is released for the first time. The set itself dates from 1915/16 and represents Szymanowski’s mature style at its height. The influences of Stravinsky, Scriabin and Debussy are palpable in the music’s vivid atmospheres and iridescent textures, steeped in the exoticism of the Mediterranean and Near East, where the composer had travelled extensively before World War I.
“Shéhérazade” is replete with heightened sensuality, edgy with the heroine’s fear of destruction. “Tantris le Bouffon” is based on Ernst Hardt’s 1908 play, subverting the legend of Tristan and Isolde; it carries the impact of Stravinsky’s Petrushka, to which Rubinstein had introduced Szymanowski. “Sérénade de Don Juan” balances satire – the don takes ages to tune his guitar – with episodes of possibly insincere emotional excess.
The Mazurkas op. 50, a panoply of inventive pianistic writing offset by Polish folk idioms, belong in the last phase of Szymanowski’s creative life. He paid special attention to the details of Polish Highlander (górale) music from the Tatra mountains around Zakopane: “My discovery of the essential beauty of górale music, dance and architecture is a very personal one; much of this beauty I have absorbed into my innermost soul,” he wrote.
Published in five sets between 1926 and 1931, the 20 Mazurkas made Szymanowski part of a global trend in folkloric musical exploration. It was chiefly Stravinsky’s absorption of Russian folksong that inspired him to blend his idiom with elements of highland music. Nos. 13, 14, 15 and 16 are full of whole-tone writing, drone basses, tritones, intricately embellished melodic lines and earthy, stamping rhythms: Szymanowski, nearing his last years, was creating music that sounded fresher and newer than ever.
The Variations on a Polish Folk Theme op. 10 go back to Szymanowski’s student days in Warsaw, 1904. He took the theme from Jan Kleczyński’s O muzyce podhalańskiej (On the Music of Podhale) which turned out to bear only slight resemblance to the original song. Szymanowski’s variations nevertheless grow into a grandscale meditation, often pushing technical boundaries to Lisztian extremes and culminating in a gigantic fugal finale. The young composer’s love for his idealized Poland shines from every bar.
Jessica Duchen