Vor zwei Jahren dachte KT Tunstall, dass sie mit der Musik “durch”wäre. Nicht dahingehend, niemals wieder Gitarre zu spielen oder zu singen, aber als Profi-Musikerin; wenigstens für absehbare Zeit. “Ich hatte den Eindruck, als Künstlerin innerlich gestorben zu sein”, sagt sie. “Ich hörte auf. Ich gab auf. Ich wollte das einfach nicht mehr.”Zehn Jahre waren vergangen, seit sie ihr mehrfach mit Platin ausgezeichnetes Debüt-Album “Eye To The Telescope” (2004) herausgebracht hatte und mehr als 20, seit sie als Teenager erste Gigs in ihrer Heimat St. Andrews in Schottland spielte. Eine Dekade lang hatte sie als unbekannte und unentdeckte Musikerin gelebt, gefolgt von der nächsten Dekade im hellsten Rampenlicht, während dieser sie drei weitere Alben veröffentlichte: “Drastic Fantastic” (2007,) “Tiger Suit” (2010,) und "Invisible Empire // Crescent Moon" (2013). Inzwischen spielte sie nahezu überall live – auf Dächern von schicken Las Vegas Hotels und im Stadion der Giants in New York; sie wurde für einen Grammy nominiert, gewann einen BRIT Award und einen Ivor Novello Award. Ihre Songs wurden nun vielfach eingesetzt – z. B. als Anfangsmelodie des Films “Der Teufel trägt Prada” und auch als Hillary Clintons Wahlkampf-Hymne 2008. Sie hatte einen guten Lauf, dachte sich Tunstall, aber sie spürte, dass es an der Zeit war, eine längere Pause einzulegen. “Ich war vollkommen ausgebrannt”, gibt sie zu.
Also lagerte die Sängerin ihre Sachen ein, verkaufte ihre Immobilie in England und begann komplett von vorn; aus subjektiver Sicht am anderen Ende der Welt in einer völlig neuen Welt, und zog in ein kleines Haus nach Venice Beach in Kalifornien. Ihr Plan war einfach: sie war beim Sundance Film Festival zum Mitglied des ‘Elite Composer Lab’ ernannt worden [Workshop im Rahmen des Festivals, der von Star-Wars-Komponist George Lucas in dessen ‘Skywalker’-Ranch abgehalten wird]. Nachdem sie dort intensiv gearbeitet und studiert hatte, zog sie sich in ihr kleines Studio, das sie sich in ihrem Zufluchtsort an der US-Westküste eingerichtet hatte, zurück. Dort vertiefte sie sich weiter in die Kunst des Filmmusik-Schreibens. “Ich wollte ein ruhiges Leben”, erinnert sie sich. Dieses führte sie für eine ganze Weile; ging zum Yoga, ernährte sich von Bio-Food und radelte auf ihrem schicken Beach Cruiser umher. Doch kaum hatte sie es sich in ihrem idyllischen Leben bequem gemacht und den entspannten kalifornischen Lebensstil adaptiert, wurde sie unruhig und spürte den inneren Drang, wieder ‘rocken’ zu wollen. Einmal davon erfasst, ließ er sie nicht mehr los. Fast gegen ihren Willen, intuitiv, nahm sie ihre Gitarre zur Hand und begann wieder, Riffs zu schreiben. “Ist es nicht interessant, wie der Kopf manchmal mit dem Geist kämpft?”, sinniert sie und kichert. “Mein Körper sagte mir einfach, dass ich mich auf der Bühne abrackern sollte. Wenn ich das nicht machen kann, fühle ich mich wie ein Rennpferd, das eingesperrt in einem Stall steht.”
Gottseidank unterliegt der Verstand oft dem Geist. Denn circa ein Jahr später ist Tunstall nun zurück mit Songs, die ihre Rückkehr aus der Abgeschiedenheit manifestieren. Nachdem sie im Sommer bereits die EP “Golden State” mit drei Titeln herausbrachte, folgt nun im September das neue Album KIN. Tatsächlich ist dies Tunstalls fünftes Studioalbum, aber die Künstlerin selbst sieht es als ihr zweites an, nämlich als langersehnten, von Herzblut gefülltem Nachfolger ihres Debüts. – “Die Wahrheit ist, dass ich erst jetzt dazu stehen kann, eine Pop-Songschreiberin zu sein”, sagt sie. “Bei dieser Platte ging es hauptsächlich darum, das eigene Dharma als Künstlerin zu akzeptieren und anzuerkennen [Anm.: Dharma – Begriff aus dem Buddhismus: Das eigene, wahre Selbst erkennen]. Und das ist in meinem Falle, fröhliche Popsongs zu schreiben, die Substanz haben. Ich wollte mit diesem Album ausdrücken: Ich bin durch einen Haufen Mist gegangen, so wie ihr auch. Und ich gebe Euch die Texte darüber und den Refrain dazu, zu dem Ihr tanzen könnt. Viele Grüße, Eure KT”
Tunstalls Geschichte ist im Grunde Filmstoff. Sie kam in Edinburgh als Tochter einer jungen Tänzerin zur Welt, die relativ mittellos war und KT deswegen zur Adoption freigab. So kam KT kurz nach ihrer Geburt zu ihren Adoptiveltern, einer Lehrerin und einem Physik-Dozenten der Universität von St. Andrews. Schon früh zeigte sich ihr Interesse an Musik und sie lernte bereits mit vier Jahren zunächst das Klavierspielen, bevor sie sich weiteren Instrumenten widmete. Nach der Highschool zog sie nach London, um dort an der University Of London Schauspiel und Musik zu studieren. Nachdem sie ihren Abschluss gemacht hatte, wusste sie eigentlich erst lediglich, dass sie etwas zu sagen hätte und dass sie unbedingt ein Sprachrohr für ihre Botschaft finden müsse, und begann, unermüdlich live zu spielen. Mit Mitte 20 schließlich erhielt sie ihren Plattenvertrag.
Es dauerte eine Weile, aber sich der Erfolg endlich einstellte, tat er dies mit voller Wucht. Eine Absage des Rappers Nas bei der britischen “Jools Holland Show” bescherte ihr sozusagen über Nacht den Durchbruch in ihrer Heimat – sie übernahm seinen Slot und nun konnte die ganze englische Nation vor dem Fernseher erleben, was ihre ersten Fans aus Bars und kleinen Clubs bereits seit längerem wussten: hier kam eine einzigartige, kraftvolle neue Musikerin, eine dynamische und fesselnde Performerin, die Technik, Sinn für Humor und eine Begabung für’s Geschichtenerzählen gleichermaßen mitbringt. Nicht zu vergessen ihre musikalischen Talente – die Stimme, ihr Können als Gitarristin, die unnachahmlichen Hooks. Tunstall stach erfrischend und authentisch aus der damaligen britischen Musikszene, die Mitte der 2000er Jahre vom Post-Garage-Rock geprägt war, heraus. Für einen UK-Künstler üblich, wenn er sich überhaupt ergibt, ließ der US-Erfolg noch etwas auf sich warten, aber 2006 war es dann soweit: Eye to the Telescope ging in die amerikanischen Charts und Tunstall begann, über passende Outfits für die Grammy-Verleihung nachzudenken.
Es gab nur ein Problem: Obwohl KT nahezu ihr Leben lang daran gearbeitet hatte, eine erfolgreiche Musikerin zu werden, wusste sie zunächst nicht, wie man ein guter Popstar wird. Sie fühlte sich “unwohl”und hatte “ein schlechtes Gewissen”ob ihres überwältigenden Erfolgs und war unsicher, wie sie sich bei Modenschauen, edlen Dinners und anderen Promi-Events verhalten sollte, zu denen sie nun reihenweise eingeladen wurde. Daher versteckte sie sich einfach im Tourbus und spielte nahezu unmenschlich viele Konzerte. “Es ist ein bisschen wie dieses scheiß ‘Die-Braut, die-sich-nicht-traut’-Syndrom”, erklärt sie lachend. “Du hast dieses tolle Kleid an, willst aber nicht, dass Dich irgendeiner anschaut! Unter’m Strich habe ich einfach kein sehr gutes Verhältnis zu mir selbst. Dann kann Dich Dein Ruhm umbringen. Du weißt eigentlich nicht, wer Du bist, Du wirst berühmt und dann mußt Du ständig anderen Leuten erklären wer Du bist, eben weil Du ‘Du’ bist. Und innerlich fragst Du Dich währenddessen ständig: ‘Wer bist Du, wer bist Du, wer bist Du?’ Und dann erfindest Du irgendwas über Dich.”
Inzwischen sieht Tunstall alle Platten, die sie seit “Eye to the Telescope” gemacht hat als Eckpunkte auf ihrer langen Reise, sich selbst kennenzulernen. “Ich war eine reife Musikerin; aber kein reifer Mensch”, fasst sie zusammen. “Das trifft jetzt nicht mehr zu.”Was nicht bedeuten soll, dass sie nicht jedes ihrer herausragenden Alben mag, aber dieses hier ist anders. Besser. Es fühlt sich besser an. “Ich bin sehr stolz auf die anderen drei Alben und ich setze sie in keiner Weise herab”, erläutert sie. “Aber inzwischen bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass mir meine Veröffentlichungen Freude machen sollten. Ich sollte mich freuen, sie mit anderen zu teilen. Nachdem ich vier Millionen Platten verkauft hatte fühlte ich mich immer noch nicht dazu bereit, ein Star zu sein, ich war deswegen nie sonderlich ‘aus dem Häuschen’; niemals – aber jetzt freue ich mich aus tiefstem Herzen.”
“Das war ein kleiner Vorbote, wie ein Samenkorn”, sagt Tunstall über “
Evil Eye”, den ersten
Song, den sie für das neue Album geschrieben hat; Monate bevor die anderen folgten. Er entstand während der Proben für eine kleinere Konzertreihe, bei der sie Teile aus ihrem
Backkatalog performen wollte. Es waren die ersten
Auftritte nach den eher förmlichen, gesetzten Shows mit “
Invisible Empire”. “Es war ein sehr lebhafter, flotter Gig – nach langer Zeit mal wieder einer jener Art aus meinen Anfangstagen”, erinnert sie sich. Irgendetwas hat sich dabei gelöst. “Ich war irgendwie ‘gut in Fahrt’ und so kam es, dass ich das Riff für
”Evil Eye" schrieb."Mit seinem betörenden psychedelischen und zischendem Intro, den treibenden Gitarren und dem sehr ursprünglichen
Backbeat möchte man den Titel laut bei offenen Fenstern im Auto dröhnen, bevor er sich sozusagen ‘von hinten anschleicht’ und der fast flüsternde
Refrain einsetzt: ‘There’s an evil eye, watching you.’ Tunstall liebt diese Gegensätzlichkeit. "Ein paar der Songs sind wie Katzen, erst schmeichelnd und süß, bevor sie anfangen, Dich zu ‘piesacken’, und sie lassen sich eben einfach nicht ‘an die Leine legen’, sagt sie fröhlich. “Es hat mir schon immer Spaß gemacht, einen leicht bösen Song in ein fröhliches Pop-Kleid zu stecken.”
Dabei hatte sie einen Verbündeten, nämlich den Produzenten Tony Hoffer (Beck, Belle & Sebastian). “Der hat’s faustdick hinter den Ohren!”, sagt Tunstall über Hoffer. Es war ein Glücksfall, dass die beiden aufeinander trafen, denn nachdem Tunstall realisiert hatte, dass sie recht ungeplant aber definitiv ein neues Album schrieb, wusste sie nicht, wo und mit wem sie es aufnehmen wollte. In letzter Minute wurde Hoffer verfügbar und die Dynamik des Zeitdrucks gepaart mit KT’s – im positiven Sinne – Gefühl, sie müsse mit der Platte etwas wichtiges beweisen, befeuerte die Energie, mit der das Album entstand. “In jeder Phase des Aufnahmeprozesses dachte ich, und das war das erste Mal seit meinem Debüt, dass ich es ‘versauen’ könnte, dass jede Entscheidung wirklich maßgeblich war – das Ganze war wirklich harte Arbeit”, sagt sie. “Und ich fand’s toll!”
Diese Atmosphäre von Risiko und Dynamik brachte erstaunlich unterschiedliche Songs hervor; vom melancholischen, intimen Titeltrack des Albums über das wilde, rebellische “It Took Me So Long To Get Here, But Here I Am”, hinüber zum eindringlichen Sing-Along-Track "Hard Girls" zum flimmernden, Top−40-Charts anmutenden “Maybe It’s A Good Thing”. Letzterer, so Tunstall, gibt kurz und knapp ihre Verwandlung von der ängstlichen, sich für ihren Ruhm entschuldigenden Künstlerin zur selbstbewussten ‘Soul Pop Göttin’ wider. Aber vor allem transportieren all diese Songs das unnachgiebige Bedürfnis, geschrieben worden sein zu müssen. Und nun, da sie existieren, wartet Tunstall auf den Startschuss. “Ich habe ein paar der neuen Songs mit der Band live gespielt und das Publikum meinte: ‘sie ist zurück’”, sagt KT. “Und ja, ich bin zurück. Ich fühle mich anders. Ich fühle mich, als wäre ich irgendwo gewesen, dass ich mich verändert habe und ich kann es nicht erwarten, herauszufinden, wie groß mein Potential als Pop Star ist. Niemals zuvor hatte ich den Mumm dazu. Ich wollte es einfach nicht wissen, ich wollte mich davor verstecken. Jetzt will ich es wissen. Ich will wirklich die Antwort auf diese Frage haben.”