Am 15. Februar 2003 waren JD Samson, Johanna Fateman und Kathleen Hanna nur drei von Hunderttausenden New Yorkern, die mit diesem Slogan auf der Straße gegen den heraufziehenden Irak-Krieg protestierten. Es war eine gigantische Demonstration, wie zig-andere auch in aller Welt an diesem Tag – und doch blieb in den US-Abendnachrichten nur ein winziger Soundbite davon übrig. JD aber hat alles auf ihrem Mini-Disc-Recorder festgehalten, und der Protest-Slogan aus New York dominiert nun „New Kicks“, die erste Single aus „This Island“, dem Major Label-Debüt von Le Tigre.
„New Kicks“, das ist nicht nur ein aufregend konstruiertes Stück Musik, mit diesen authentischen Protest-Stimmen über zackigen Gitarren-Riffs und einem Drumbeat, der selbst Standhafte ins Schwanken bringt. Es ist auch eine fulminante Übung in radikaler Dokumentation, eine Verbeugung vor dem Widerstand, und nicht zuletzt eine Reflektion der tiefen Überzeugung, dass Le Tigre auch den künstlerischen Anspruch haben, Politiker – und die Medieninteressen, die sie repräsentieren – für ihre Aktionen zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Idee des demokratischen Prozesses beschreibt auch, wie Le Tigre zusammen arbeiten, und warum es so schwer ist, den einzelnen Bandmitgliedern feste Rollen zuzuschreiben. Jeder Track ist Teamarbeit. Die Festplatten wandern hin und her, wenn die Drei Samples aussuchen, Beats kreieren, Keyboards, Gitarren und Gesang hinzufügen. JD erklärt es so: „Nach unserer Tour im Sommer 2002 haben wir alle identische Pro-Tool-Setups für zuhause bekommen. Wir sind jetzt also völlig kompatibel und können im Prozess des Songschreibens einfach da anknüpfen, wo die andere gerade aufgehört hat.“ Und Kathleen Hanna fügt hinzu: „Dieses Mal hatten wir einfach viel mehr Kontrolle, viel mehr Optionen, weil wir in der Lage waren, das Material zuhause auch nicht-linear zu bearbeiten. Es war, als ob wir von der Schreibmaschine zum Computer gewechselt wären.“
Le Tigre haben „This Island“ dann gemeinsam mit Nicholas Sansano produziert, der durch seine Studioarbeit für Sonic Youth und Public Enemy bekannt wurde. Er, so die Band, habe das Album entscheidend in Richtung Dancefloor gebracht. Le Tigre schreiben aber immer noch das gesamte Material selbst und und leisten auch als (Co-)Produzentinnen innovative Beiträge. „Ich denke“, sagt Kathleen, „nur weil wir Frauen sind, denken einige Leute immer noch, andere würden die Songs für uns schreiben. Aber es kommt alles von uns. Und wir haben auch kein männliches DJ-Team im Rücken, welches die Beats für uns zusammenstellt.“
Das Resultat dieser engen Zusammenarbeit ist ein Sound-Hybrid von großer Anziehungskraft, den die Band selbst „feminist punk electronic music“ nennt. Es ist eine Mixtur aus Drum-Machine-Samples, Synth-Hooks, summenden Gitarren-Loops, Gang-Gesang und narrensicheren Basslinien. „TKO“ und „After Dark“ sind genau die unwiderstehlichen, tanzbaren Hymnen mit provozierenden Texten, die Fans weltweit inzwischen von der Band erwarten. Doch mit „This Island“ hat ihr Stil auch ein neues Level erreicht, wenn ihre Underground-Ästhetik auch in strategischen Pop-Glanz getaucht wird, und der klangliche Reichtum die Ambitionen der Band erfüllt, wenn er, so Kathleen, „unsere Botschaft zu etwas macht, das du mit deinem Körper fühlen kannst.“
Alle, die sich noch an Hanna und ihre frühere Band Bikini Kill erinnern, eine einflußreiche Größe der feministischen Riot Grrrl-Bewegung der frühen 90er, werden nicht überrascht sein, dass Songs wie „New Kicks“ und der Anti-Bush-Roman „Seconds“ gegen die aktuelle US-Administration zu Felde ziehen. Für hochgezogene Augenbrauen dürfte eher sorgen, wie tief „This Island“ auch ins persönliche Leben der Bandmitglieder vordringt. Etwa mit dem berührend-schönen „Tell You Now“ (das vom legendären Cars-Chef Ric Ocasek produziert wurde) und „Don’t Drink Poison“, das zu frenetischem Beat und Speed-Riffs eine „Geschichte über feministische Spionage“ erzählt. Johanna erklärt, dass sich der Text dieses Songs „auf die Codes bezieht, mit denen wir untereinander kommunizieren, und wie wir zusammen als Band bizarre und enfremdende Situationen überleben.“ Der Song „Viz“ (eine Abkürzung für „visibility“) ist zugleich ein intimer Blick auf die Erfahrungen, die JD in der Öffentlichkeit gesammelt hat, und ein eingängiger Club-Track, der die lesbische Kultur und Community feiert.
Die Wurzeln von Le Tigre reichen zurück zu einer Show von Bikini Kill in Portland, Oregon. Johanna, damals im Publikum, war schwer beeindruckt und gab Kathleen nach dem Konzert eine Ausgabe ihres feministischen ArtZines „Snarla“. Schnell freundeten sich beide an, und als Kathleen bald nach ihrem ersten Solo-Album „Julie Ruin“ nach New York zog, fragte sie Johanna, ob sie ihr nicht dabei behilflich sein könne, das Material auf die Bühne zu bringen. Was damit endete, dass sie gemeinsam gleich komplett neue Songs schrieben, zusammen mit der befreundeten Video-Künstlerin Sadie Benning. Kurz nach der Veröffentlichung des selbstbetitelten Le Tigre-Debüts verließ Benning jedoch die Band, um sich auf ihre Kunst-Karriere zu konzentrieren. JD Samson, bis dahin als Technikerin für das Trio im Einsatz, ersetzte sie.
In dieser Besetzung haben Le Tigre die EP „From The Desk Of Mr. Lady“, das Album „Feminist Sweepstakes“ und eine Remix-Sammlung veröffentlicht. Diese ebenso eingängigen wie risikofreudigen Aufnahmen brachten der Band viel Lob ein, während sie sich parallel mit einer elektrifizierenden Bühnen-Performance eine loyale und leidenschaftliche Fan-Gemeinde erspielen konnte. Videos, choreografische Elemente und entsprechende Outfits gehören zu einer Show im Wortsinn, die das Trio als Live-Phänomen etabliert hat. Le Tigre sind denn auch intensiv getourt, in den USA, in Europa und in Japan, und traten zuletzt etwa beim „Coachella“-Alternative-Festival in der südkalifornischen Wüste auf.
Doch nicht nur Johanna macht deutlich, dass Le Tigre zwar gewachsen ist, was jetzt mit ihrem Major Label-Einstand „This Island“ auch musikalisch dokumentiert wird, dass sich das Wertesystem der Band aber nicht verändert hat. Mit einem Bein stehen sie nach wie vor fest im Underground, was auch durch ihr neues, eigenes Label Le Tigre Records dokumentiert wird, auf dem der komplette Back-Katalog der Band wiederveröffentlicht werden soll. Johanna sagt: „Unser Do-it-yourself-Hintergrund und unsere Geschichte mit Mr. Lady, einem kleinen, radikal-feministischen, lesbischen Label, sind ein wichtiger Teil dessen, was wir heute darstellen. Ohne diese Geschichte hätten wir nicht das Selbstvertrauen und die Ambition, ein größeres Publikum zu suchen.“
„Wir wollen“, fährt sie fort, „die Tür aufstoßen, damit mehr radikale Kunst finanziell besser ausgestattet wird. Und wir wollen einen größeren Einfluss auf die Kultur insgesamt haben.“ Deshalb ist jedes Bandmitglied auch in andere Projekte eingebunden und unterhält intensive Bande zu einer sich überschneidenden, feministischen Kunst- und Musik-Szene. So schrieb Kathleen kürzlich das Vorwort zu „Scheherazade“, einer All-Women-Comic-Anthologie, die von Megan Kelso herausgegeben wurde, und trat zudem als Kuratorin einer Ausstellung der Fotografin Tammy Rae Carland in Erscheinung. Johanna schrieb derweil an einem Essay für den Katalog der Whitney-Bienniale mit. JD stellte zusammen mit der Fotografin Cass Bird einen lesbischen Kalender zusammen und ist zudem in einer weiteren Band, den New England Roses, aktiv.
Während im heraufziehenden US-Wahlkampf entscheidende Themen wie die Ehe von Homosexuellen, das Recht auf Abtreibung und ein Krieg, der keinen Frieden gewonnen hat, in den Mittelpunkt der Debatten drängen, „ist es für uns unglaublich wichtig, jetzt eine Präsenz in der Pop-Kultur zu haben“, wie Kathleen sagt. Und JD ergänzt: „Wir sind ganz aufgeregt, die Mainstream-Medien herauszufordern – ich denke, die Leute sind bereit dafür.“