Leoniden | Biografie

Biografie 2024

Leoniden

“Sophisticated Sad Songs”

Album-VÖ: 23.08.24

Das Kölner Palladium ist voll bis zum Rand, vor der Bühne zieht die vollverschwitzte Crowd einen Kreis auf. Die Stimmung scheint am Siedepunkt, in den Gesichtern spiegelt sich Euphorie. Nur noch ein paar Sekunden, dann werden sich hunderte Individuen im kollektiven Tanzrausch verknäulen, den Weltschmerz herausbrüllen, negative Gedanken abschütteln. Oben auf der Stage und doch surreal auf Augenhöhe? Die nicht minder ekstatisch beseelten, schreiend herumspringenden, Saltos schlagenden, durch die Halle kletternden Leoniden. Das Kieler Fünfgespann hat die beschriebene Kurz-vor-Moshpit-Situation nicht umsonst bildlich festhalten und auf das Cover ihrer neuen Platte drucken lassen. In diesem Foto steckt alles, was die Leoniden sind, was sie auszeichnet, was sie antreibt: Der überbordende, von Punk-Spirit getragene Live-Moment; die Musik-gewordene, zuteilen intime Kompensation negativer Gedanken; der zugespitzte Kontrast zwischen »Sophisticated Sad Songs« und gemeinschaftlichen Glücksgefühlen.
»Wir haben in all den Jahren mit Leoniden noch keinen einzigen fröhlichen Song geschrieben und gelten trotzdem als Partyband« schmunzelt Sänger und Keyboarder Jakob Amr. Musikmachen war für die Leoniden immer Selbsttherapie, war immer Ausdruck und Ventil der eigenen Verkopftheit, war immer kathartisches Dampf-Ablassen. Als Gute-Laune-Tanzkapelle ist die Band wegen ihrer einzigartigen Live-Energie wenn überhaupt geframt worden – ihr eigener Anspruch waren stets »Sophisticated Sad Songs«. »Es hat uns schon 2017 gereizt, den Leuten zu beweisen, dass traurige Musik nicht automatisch wie Radiohead klingen muss«, erzählt Jakob. Der Titel des am 23. August 2024 auf dem bandeigenen Label Two Peace Signs Records erscheinenden vierten Albums in der Leoniden-Geschichte beschreibt so gesehen also nicht mehr und nicht weniger als den beständigen Kern der Band-DNA.
Überhaupt kann »Sophisticated Sad Songs« als eine Art Rückbesinnung auf das sogenannte Wesentliche, auf den eigenen Kodex und die ureigenen Wurzeln in verrauchten AJZ-Kellern gelesen werden. Und als Statement gegen das ewige ‚Höher-Schneller-Weiter‘, dem etliche von Festivalsommer zu Festivalsommer wachsende Rockbands zum Opfer gefallen sind. 2021 – das letzte Album »Comlex Happenings Reduced To A Simple Design« hatte gerade das Licht der Welt erblickt und Platz 1 in den deutschen Album-Charts geentert – wären die Leoniden beinahe selbst in die Wachstumsfalle getappt. Im Plenum wuchs beispielsweise die Idee, den größtmöglichen Tapetenwechsel zu vollziehen und das nächste Album im Ausland aufzunehmen – einfach, weil man es ob des stetig steigenden Erfolgs hätte machen können, vielleicht auch, weil man ein bisschen zu intensiv nach links und rechts geschaut hatte. Am Ende eines intensiven und langwierigen Prozesses der Band-internen Selbstreflexion passierte dann zum Glück das genaue Gegenteil: Lennart und Felix Eicke, Jakob Amr und Djamin Izadi haben vor der eigenen Haustür gefunden, was sie gesucht haben.
»Anstatt die Dinge unnötig zu verkomplizieren, sind wir zu unserem langjährigen Freund und Wegbegeleiter Magnus gegangen, haben die Artworks von unseren Kieler Nachbarn No Talent machen lassen und Marike in die Band geholt«, grinst Gitarrist Lennart. Heißt im Klartext: Das Leoniden-Ding ist ein Family-Ding geblieben – und hat über diesen Weg das nächste künstlerische Level erreicht. Im Zuge des Weggangs von Gründungsmitglied JP ist die Bassistin Marike Winkelmann seit 2021 immer intensiver ins Bandkonstrukt verwachsen. »Sie hat neue Dynamiken entfacht und die Arbeiten am Album extrem beflügelt«, berichtet Lennart. Für die Produktion von »Sophisticated Sad Songs« zeichnet sich mit Magnus Wichmann ein Day-One der Leoniden verantwortlich. Er hat die Band dabei unterstützt, sich zu erinnern, was sie eigentlich machen will; hat den Entschluss bestärkt, zum ersten Mal in der Bandgeschichte Albumsongs live einzuspielen.
Jakob erzählt, dass man dadurch »endlich mal weniger handwerklich« gearbeitet und sich dafür »deutlich mehr getraut« habe; dass viele Songs durch die Live-Recordings »schneller, doller, auch verzerrter« geworden seinen und seine instrumental anmutenden Gesangsparts dadurch an Power und Sicherheit gewonnen hätten. Tatsächlich klingt »Sophisticated Sad Songs« in seiner Gesamtheit noch nachdrücklicher, noch geladener, noch ungezwungener, noch konzentrierter als alle drei Vorgänger. Zum ersten Mal in der Bandgeschichte haben die Leoniden in einer Album-Entstehungsphase aktiv Darlings gekillt und etliche Demos verworfen – das macht die neue Scheibe kompakter, irgendwie auch homogener. Ein Genre-Salat ist »Sophisticated Sad Songs« – logisch, für ihren Indiepop-Postpunk-Synthgrunge-Cocktail sind die Leoniden schließlich bekannt und geschätzt – dennoch.
Am Anfang der zehnteiligen Tracklist steht das extravagante Phasenspiel »Motion Blur«, das mit der Zeile »I never was enough, cause I can always be much better« direkt den inhaltlichen Schwerpunkt des Albums andeutet. Die Leoniden setzen sich (selbst-)kritisch mit dem gesellschaftlich verordneten Diktat nach stetiger Selbstoptimierung auseinander – und arbeiten sich Stück für Stück zur Erkenntnis vor, dass es Dinge gibt, die viel wichtiger sind, als nacktes, ichbezogenes Wachstum: Freundschaft, Kommunikation, Zufriedenheit im Pausenraum der Leistungsspirale. Weil Happy Ends Leoniden-untypisch sind, dominiert auf lyrischer Ebene aber dennoch stets schwermütige Melancholie. Die erste Single – das sanftmütig klimpernde und orchestral aufbrandende »Never Never« – erzählt vom Sich-missverstanden-Fühlen, »A Million Heartbreak Songs« vom Dilemma, dass jede erstgemeinte Liebesballade im Kosmos Leoniden letztendlich ein von Sadness überschattetes Stück Musik ist.
Songs wie »Necklace« oder »Keep Fucking Up« lockern das Album durch ihren Schnellschuss-Charakter auf, sorgen für die nötige Balance und eine angenehme Prise Kopflosigkeit. »Calculator« – eine Ode auf den zwischenmenschlichen Austausch – oder der als Party-Banger getarnte Sad-Song »Sierra« fordern hingegen heraus. »You > you« fühlt sich an wie ein Referenzen-Puzzle, wie eine Verneigung vor der Untergrund-vernarrten musikalischen Sozialisation des Quintetts. Der treibend-triumphale Ohrwurm »Balance of Love« versprüht Pop-Appeal, das grellbunte »Tinnitus« schließt den Kreis mit einer saftigen Portion Weltschmerz. Tanzbar und für die großen Bühnen geeignet – das ist ja das Leoniden-Paradoxon – sind alle Tracks auf »A Million Heartbreak Songs« beinahe gleichermaßen.
Mit anderen Worten: Die Sound-Message-Schere erstreckt sich in maximaler Breite und wird den Status der Leoniden als gefeierte Abriss-Band nur ein Stück weiter manifestieren. Und das trotz oder gerade wegen anspruchsvoll-trauriger Lieder, die dazu in der Lage sind, kollektives Unbehagen in Momente gemeinschaftlichen Glücksgefühls zu transformieren. Auch in der anstehenden Festivalsaison werden die Leoniden über Bühnen klettern und hunderte Individuen im Moshpit verknäulen lassen – ob bei ‚Rock Am Ring‘ oder ‚Hurricane‘. Am 23. August 2024 erscheint dann »Sophisticated Sad Songs«.
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