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Booklettext: Long Yu – Song of the Earth – 9.7.2021 (VÖ) (DE/EN)

24.06.2021
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Zwei Lieder von der Erde
Mit der Komposition seines symphonischen Liederzyklus Das Lied von der Erde wollte Gustav Mahler die Schönheit der vertonten Texte zur Geltung bringen: Diese gehen zurück auf Verse führender Dichter der Tang-Epoche (618–906), des Goldenen Zeitalters der chinesischen Kultur. Der Komponist musste dabei auf eine deutsche Übersetzung zurückgreifen, die auf einer französischen Übersetzung des chinesischen Originals basierte; besonders faszinierte ihn, wie eindrucksvoll die Gedichte die Freuden des Lebens besingen und wie eloquent sie den Verzicht auf diese Freuden am Lebensende schildern. Doch so herrlich Mahlers Arbeit auch ist, die Schönheit der Originalgedichte kann sie nur erahnen lassen. Deshalb beauftragte der chinesische Dirigent Long Yu den chinesischen Komponisten Xiaogang Ye, die chinesischen Originalgedichte zu vertonen. Während Mahler sein Werk für Tenor und Mezzosopran bzw. Alt (oder Bariton) bestimmte, schrieb Ye für Sopran und Bariton und ordnete die Gedichte in einer anderen Reihenfolge an. Und während Mahlers Komposition seine von Trauer und Illusionslosigkeit bestimmte Weltanschauung ausdrückt, illustriert Yes Fassung seinen Anspruch, die Pracht und Schönheit der Originaldichtung wiederzugeben.
Das Projekt wurzelt unter anderem in Long Yus persönlichen Erfahrungen: Als Kind verbrachte er neun Jahre in Deutschland und machte sich dort die deutsche Kultur zu eigen. Heutzutage möchte er eine Synthese von deutscher und chinesischer Kultur erreichen und hofft, dass diese Gegenüberstellung zweier Werke dafür als Muster dienen kann. Er ist davon überzeugt, dass die Dichtung, die Mahler als Grundlage diente, für die heutige Welt eine besondere Bedeutung hat.
Die Frage, ob er Mahlers Zyklus als deutsches Werk sieht, bejaht Long Yu entschieden. Anfangs versuchte er, der Komposition durch sein Dirigat eine chinesische Anmutung zu geben, »aber schließlich spürte ich, dass man sie als deutschen Liederzyklus präsentieren muss. Nach dieser Entscheidung fühlte ich mich befreit. Ich konnte das Gefühl deutscher Lieder hineinlegen: Ich konnte Mahlers Anweisungen folgen und Empfindung, Sehnsucht und Leidenschaft vermitteln – und indem ich das tat, konnte ich paradoxerweise ein sehr chinesisches Verständnis der Dichtung ausdrücken, denn diese Stimmungen ziehen sich durch das ganze Stück. Chinesische Menschen wirken vielleicht zurückhaltend, aber unter der Oberfläche sind sie sehr emotional.«
Doch was bewegte Long Yu dazu, das Pendant für dieses Programm in Auftrag zu geben? »Ich hatte schon lange die Idee, einen chinesischen Komponisten zu bitten, diese sieben Gedichte auf eigene Weise neu zu vertonen. Und es musste ein bedeutender chinesischer Komponist sein.« Xiaogang Ye ist ein solcher Komponist. Er wurde 1955 in Shanghai geboren und studierte von 1978 bis 1983 Komposition an der Zentralen Musikhochschule in Peking, wo er nach Abschluss seines Studiums zum Composer in Residence und zum Dozenten berufen wurde. Danach ging er in den Westen, um bei Komponisten wie Louis Andriessen und Alexander Goehr zu studieren. Zurück in China wurde er zum Vizepräsidenten der Zentralen Musikhochschule ernannt. Der bemerkenswert produktive Komponist deckt eine große Bandbreite von Gattungen ab, darunter Symphonik und Kammermusik, Tanz-, Opern-, Film- und TV-Musik.
Long Yu empfindet die Kombination der beiden Werke als sehr gelungen und bemerkt: »Jetzt sind nähere Vergleiche möglich, und die Menschen können sich ein Bild von beiden Seiten machen – davon, wie Liebe, Freude und Tod von Europäern und von Chinesen empfunden werden. In dem Projekt hört man, dass das letzte Stück des Mahler-Zyklus, ›Der Abschied‹, und das letzte Stück der chinesischen Komposition genau das gleiche Gefühl vermitteln.« Allerdings unterscheiden sich die Texturen: »Mahler schafft Ölgemälde, während Xiaogang Ye mit Aquarellfarben malt. Doch die Kombination dieser beiden Werke ermöglicht erkenntnisreiche Vergleiche.« Dass Ye die Fünftonleiter, Glissandi in den Singstimmen und den Klang traditioneller chinesischer Instrumente einsetzt, ist laut Long Yu weniger bedeutsam als die Emotionen, die seine Musik heraufbeschwört. Bemerkenswerterweise spielte auch das Shanghai Symphony Orchestra viel romantischer, nachdem der Dirigent auf die Ähnlichkeit der Gefühle in beiden Werken hingewiesen hatte.
Wie Long Yu ergänzt, ist ein solcher interkultureller Dialog in der heutigen Zeit außerordentlich wichtig. »Es scheint, als könnten wir die Welt, in der wir leben, über soziale Medien miteinander teilen, doch wir teilen sie nicht wirklich. Wir glauben zu verstehen, was passiert, aber in Wirklichkeit tun wir das nicht. Unsere Länder sind noch weiter auseinandergedriftet, weil jeder nur über sich selbst redet und keiner versucht, die Kultur anderer Gesellschaften zu verstehen. Und die derzeitige Pandemie macht es sogar noch unabdingbarer, dass wir versuchen, einander zu verstehen und miteinander zu fühlen. Was wir derzeit tun sollten, drückt für mich das deutsche Wort ›Nachdenken‹ aus.«
Ähnlich wie Long Yu empfinden das auch die Sänger. Der Tenor Brian Jagde, der Mahlers betrunkenen Dichter verkörpert, sieht dieses Album als eine Brücke zwischen zwei Kulturen. Und Michelle DeYoung ist überzeugt, dass jeder mit dieser musikalischen Brücke etwas verbinden kann: »Wir haben hier eine Aufnahme mit Gedichten, die frei, aber doch sinngemäß ins Deutsche übersetzt wurden, mit deutschen Sängern und einem westlichen Komponisten, und daneben einen Zyklus mit den gleichen Gedichten auf Chinesisch und mit chinesischen Sängern. Ich denke, das ist eine wunderbare Kombination, und der ganze Zyklus beruht auf Erfahrungen, die jeder im Laufe seines Lebens einmal macht, fröhliche oder traurige, sehnsüchtige oder leiderfüllte, und das alles inmitten in der Natur. Die Aufnahme war eine beeindruckende Erfahrung, und es war mir eine Ehre, daran teilzunehmen.«
Michael Church
 
 
Two Songs of the Earth
Gustav Mahler composed his symphonic song-cycle Das Lied von der Erde (The Song of the Earth) to honour the poetry of its libretto, which was based on verses by leading poets of the Tang period (618–906) – the golden age of Chinese culture. Mahler had to use a German translation, which was itself based on a French translation from the original Chinese, but he was captivated by the poems’ celebration of life’s pleasures, and by their eloquent renunciation of those pleasures at the end of life. Yet, great work though it is, Mahler’s music can only hint at the full beauty of the Chinese poems – and this is why the Chinese composer Xiaogang Ye was commissioned by the Chinese conductor Long Yu to compose a Chinese version with the same original poems. While Mahler’s setting is for tenor and mezzo-soprano/alto (or baritone), Ye’s is scored for soprano and baritone, with the poems in a different order. And while Mahler’s work reflected his philosophy of sadness and disillusion, Ye’s version demonstrates his ambition to express the grandeur and beauty of the original poetry.
The origin of this project lay in the fact that, in his youth, Long Yu spent nine years in Germany, ab sorbed its culture, and made it his own. He now wants to achieve a synthesis of German and Chinese culture, and hopes this juxtaposition of works will be an exemplar of that synthesis. And in his opinion, the poetry from which Mahler’s work drew its libretto has a particular resonance for the world today.
Asked whether he thinks of the Mahler work as a German text, Long Yu answers in the affirmative. Initially he tried to give the piece a Chinese feeling in the way he conducted it, “but in the end I felt it had to be presented as a cycle of German lieder. And having decided on that, I felt more free. I could put German lieder feelings into the piece: I could respond to the directions Mahler used – to communicate Empfindung (sensitivity), Sehnsucht (yearning), and Leidenschaft (passion) – and in so doing I could paradoxically express a very Chinese understanding of the poetry, because these directions run through the whole piece. Chinese people may seem reserved, but they are very emotional below the surface.”
But how did Long Yu get the idea of commissioning the companion piece in this programme? “I have long had the idea that I wanted to commission a Chinese composer to re-do these seven poems in their own way. And it would need to be a very important Chinese composer.” Xiaogang Ye is one such. Born in Shanghai in 1955, Ye studied composition at China’s Central Conservatory of Music from 1978 to 1983, and after graduation was appointed resident composer and lecturer at that institution. He then travelled west to study with composers including Louis Andriessen and Alexander Goehr, then returned to China to become vice president of the Central Conservatory. As a composer he is remarkably prolific, working in a wide variety of genres including symphonic and chamber music, dance, opera, and music for film and TV.
For Long Yu, the yoking together of these two works has turned out very successfully. “Close comparisons are now possible,” he says, “with people able to see the double picture – how Europeans feel about love, pleasure, and death, and how the Chinese feel about the same things. In this project, you can hear that the last piece of the Mahler, ‘Der Abschied’ – ‘The Farewell’ – and the last piece in the Chinese work both purvey exactly the same emotion.” Though not through the same textures: “Mahler creates oil paintings, while Xiaogang Ye paints in watercolour. But the juxtaposition of these two pieces allows fruitful comparisons.” The fact that Ye employs the five-note scale, vocal glissandi, and the colour of Chinese traditional instruments is less significant, says Long Yu, than the emotions his music evokes. It was notable that after he had explained this emotional congruence between the two works, the performance by the Shanghai Symphony Orchestra became much more romantic.
Moreover, this cross-cultural dialogue, Long Yu adds, is highly relevant today. “We are living in a world which social media seems to allow us to share, but we don’t really share it. We think we understand what is happening, but in reality we don’t. Our respective countries have moved further apart, because everybody’s talking about themselves, and nobody is trying to understand the culture of other societies. Yet the current pandemic makes it ever more imperative that we should try to understand and sympathize with each other. For me the German word Nachdenken – to ‘rethink’ – reflects what we should be doing at this time.”
The singers echo Long Yu’s sentiments. Tenor Brian Jagde, who incarnates Mahler’s drunken poet, sees this album as a bridge between two cultures. Michelle DeYoung believes this musical bridge is something everyone can relate to: “We have this recording of these poems translated into German – loosely, but still faithfully – with Western singers, and a Western composer, and this is coupled with the cycle of the same poems in Chinese with Chinese singers. I think the juxtaposition is wonderful, and the whole cycle is based on experiences everyone has as they go through life, whether it’s joyous or sad, longing or grief-stricken, and the whole combination is set in the context of nature. It has all been an amazing experience, and I feel honoured to be part of it.”
Michael Church

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