Muss ein geistliches Lied für den Gottesdienst geschrieben sein oder kann es auch der privaten Andachtsübung dienen? Magdalena Kožená hält es für »unmöglich, eine Grenze zwischen Religiösem und Persönlichem zu ziehen. Alles hängt zusammen, ist Teil des Lebens. Glaube ist etwas sehr Persönliches. Aber wenn wir auf diesem Planeten leben, müssen wir an eine höhere Kraft glauben, was immer das sein mag. Das fühle ich, wenn ich diese Musik interpretiere.«
Das religiöse Liedschaffen des 19. Jahrhunderts verließ die Kirche in Richtung bürgerliches Wohnzimmer und Konzertsaal, für den Gottesdienst bestimmt war es nicht mehr. Doch schon Gesangbücher des frühen 18. Jahrhunderts waren für den Gebrauch »bey dem öffentlichen Gottesdienst auf Orgeln« wie »zu Haus zur Ermunterung der Andacht« gedacht – so auch Georg Christian Schemellis 1736 in Leipzig veröffentlichtes Musicalisches Gesang-Buch. Ihm entstammen fünf der hier zu hörenden – wie es auf dem Titelblatt heißt – »geistreichen« Lieder Johann Sebastian Bachs. Das Vorwort verbürgt seine Mitarbeit: Bach habe Melodien »theils ganz neu componiret, theils auch … im General-Bass verbessert«. Wie viele der 69 »Lieder und Arien« er komponierte, wie oft er nur Melodieführung und bezifferten Bass älterer Vorlagen änderte, ist umstritten. Sicher stammt das wunderbare Komm, süßer Tod von ihm, doch zu Recht hält Magdalena Kožená auch die Lieder, die möglicherweise nicht er selbst schrieb, für »sehr, sehr schön und hochrangig«.
Definitiv vollzogen ist der Schritt von der Musik für den Gottesdienst zum privaten Andachtslied oder intimen religiösen Drama in den Liedern Franz Schuberts. Dennoch sind auch diese Kunstlieder für Magdalena Kožená religiöse Musik. So thematisiert Der Leidende die Spannung zwischen ausweglosem Gefangensein im irdischen Leid und der – von Schubert musikalisch nicht erfüllten – Hoffnung auf die himmlische Erlösung. In Vom Mitleiden Mariä, dessen Text eine freie deutsche Paraphrase des lateinischen Stabat Mater ist, beklagt die Gottesmutter das Leidden ihres Sohnes. Für Magdalena Kožená ist dieses Strophenlied mit unablässig gehender Bewegung »fast wie ein Bach-Choral komponiert, sehr ungewöhnlich für ein Schubert-Lied«. In der Litanei auf das Fest Allerseelen greift Schubert musikalisch die Andachtsstimmung des Gedichtes auf, während er Himmelsfunken zu einem Pianissimo-Juwel macht, halb Hymne, halb romantischer Seelenerguss. Schließlich Totengräbers Heimweh, eine fast existentialistische Reflexion, ein Sich-Hingeben an den Tod und für Magdalena Kožená »ein unglaublich intensives Nachdenken darüber, weshalb wir hier sind und was nach dem Tod kommt. Man kann dieses Lied religiös nennen oder nicht. Aber der Schluss, dieses ›Ich komme, ich komm‹, da sieht jemand das Licht am Ende aller Dinge.«
Seine 53 Lieder nach Gedichten Eduard Mörikes schrieb Hugo Wolf 1888 binnen zehn Monaten in einem eruptiven Schaffensrausch, manchmal zwei, gar drei an einem Tag. Es sind Lieder von oft nervöser Intensität, und expressiver, am großen Vorbild Wagner orientierter Harmonik, stets mit dem Ziel – so Wolf – der »innigen Verschmelzung von Poesie und Musik«. Magdalena Kožená empfindet sie »fast als persönliche Dramen. Wolf ist unglaublich intensiv und dramatisch, seine geistlichen Lieder erzählen weniger von einem objektivierbaren Gott als von den Gefühlen einer Person Gott gegenüber. Daraus resultiert für mich ihre enorme Emotionalität. Es gibt da etwas sehr Persönliches, das der Gesang jedes Interpreten widerspiegeln muss.«
Henry Purcells fast opernhafte Kantate The Blessed Virgin’s Expostulation für Sopran und Continuo schildert die Sorge Mariens um ihren Sohn Jesus. Kulminationspunkt ist ein dramatischer Ausbruch, der ihre Angst, der rettende Engel Gabriel könne sie und ihren Sohn verlassen haben, musikalisch großartig ins Bild setzt.
Fast zeitgleich um 1880 entstanden und gleichermaßen unbekannt sind die Ave-Maria-Vertonungen von Antonín Dvořák und Giuseppe Verdi. Bei aller Schlichtheit gelingt Dvořák mit Hilfe melismatischer Gestaltung eine intensive Textausdeutung, während Verdi den zu Beginn in h-moll gehalten Deklamationsstil bei den Worten »Vergine benedetta« zu lyrischer Dur-Erlösung steigert.
Georges Bizets Agnus Dei liegt das Intermezzo aus der zweiten L’Arlesienne-Suite zugrunde. Allerdings dürfte nicht er selbst Urheber dieser Bearbeitung sein, die gleichwohl bei seiner Beerdigung erklang.
1914 regten jüdische Freunde Maurice Ravel zur Vertonung zweier hebräischen Melodien an. Kaddisch, eine »große persönliche Liebe« Magdalena Koženás, liegt ein aramäischer Text zugrunde. Es bedeutet »heilig« oder »Heiligung« und ist im Wesentlichen ein Lobpreis Gottes in der jüdischen Liturgie.
Notre Père von 1977 ist das letzte Werk von Maurice Duruflé und folgt bewusst den Meistern der Renaissance – ein Charakteristikum des verklärten Altersstils von Duruflé. Gleichwohl bildet das wunderbare Stück – zumindest chronologisch – den Endpunkt von Magdalena Koženás und Christian Schmitts nachdenklicher und zum Nachdenken anregender Reise durch drei Jahrhunderte geistlicher Lieder und Arien. Ob Originalkomposition oder Bearbeitung, in diesem ungewöhnlichen Genre fanden die Komponisten zu einer tief persönlichen Sprache.
Oswald Beaujean
1/2014