Für die vielleicht positivste Nachricht im Bereich des Jazz sorgte 2011 die junge Bassistin, Sängerin, Komponistin und Bandleaderin Esperanza Spalding.
Die 27-Jährige aus Portland/Oregon vollbrachte nämlich das Kunststück, den Grammy in der Kategorie
“Best New Artist” zu gewinnen – gegen die übermächtig erscheinende Konkurrenz von
Justin Bieber,
Florence and the Machine, Mumford & Son und
Drake.
Aber auch die negativste Nachricht des Jahres hatte mit den Grammys zu tun und betraf die Abschaffung vieler Kategorien.
Eines der prominentesten Opfer der radikalen Streichaktion (31 von 109 Kategorien wurden eliminiert) ist der Latin-Jazz geworden, was in der Szene für einen bemerkenswert lauten Aufstand sorgte.
Gestrichen wurde den Jazzern auch die Kategorie “Best Contemporary Jazz Album”, so dass nun insgesamt nur noch vier Auszeichnungen in dieser Musikart vergeben werden, die sonst gerne als “die klassische amerikanische Musik” gerühmt wird.
Da kann man nur hoffen, dass andere Jazzmusiker
Herbie Hancock und Esperanza Spalding nacheifern und den Popstars die Grammys in deren Kategorien wegschnappen.
Spalding könnte dies eventuell schon mit dem Album “Radio Music Society” gelingen, das sie im Frühjahr 2012 herausbringen wird.
Januar:
Gregg Allman: Haut auch kritischste Hörer aus den Stiefeln
Am Anfang stand für
Gregg Allman der Blues. Als Jugendlicher verbrachte er mit seinem Bruder Duane viele Nächte vorm Radio, um das Blues-Programm des legendären Radiosenders WLAC zu hören.
Dessen Musik prägte später auch grundlegend den Sound der Allman Brothers Band, mit der Gregg in den Olymp der amerikanischen Rockszene aufstieg und in die Rock and Roll Hall of Fame einzog.
2011 kehrte Gregg Allman – laut Rolling Stone einer der 100 besten Rocksänger aller Zeiten – auf
“Low Country Blues”, seinem ersten Soloalbum seit vierzehn Jahren, zu seinen musikalischen Ursprüngen zurück.
Dafür wurde er hier mit dem Vierteljahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Auch der Rezensent des HiFi-Magazins AUDIO war restlos begeistert:
“Die Allman Brothers lassen es schon seit geraumer Zeit ruhig angehen, nur ab und zu gibt es mal eine Show. Bandleader Gregg Allman covert mit erlesener Begleitband auf ‘Low Country Blues’ einige seiner Lieblinge. Zwischen Muddy Waters und Otis Rush passt das Traditional ‘Rolling Stone’. Spätestens hier haut die Präsenz von Mr. Allman auch den kritischsten Hörer aus den Stiefeln.”
Chick Corea, Stanley Clarke & Lenny White: Unschlagbares Trio
In den 1970er Jahren schrieben Pianist
Chick Corea, Bassist
Stanley Clarke und Schlagzeuger
Lenny White mit der Jazz-Rock- und Fusion-Band
Return To Forever Musikgeschichte.
Was kaum bekannt war: begonnen hatten sie damals als rein akustisches Trio. Ein Album aber gab es von dieser Besetzung nie – bis sie nun
“Forever” herausbrachten.
“Eine reizvolle Doppel-CD”, meinte Hans Hielscher im KulturSpiegel. “Denn Chick Corea ist sowohl am Flügel als auch an den Keyboards zu hören; und Stanley Clarke spielt akustischen wie elektrischen Bass. Mit dem Drummer Lenny White bilden die beiden ein unschlagbares Trio. Auf der zweiten CD kommen Jean-Luc Ponty (Violine) und der Gitarrist Bill Connors dazu – eine Wiederauferstehung der Kultband Return To Forever. Und Chaka Khan singt ‘I Loves You Porgy’ – absolut jazzig!”
Im November erhielten Corea, Clarke und White für “Forever” einen Latin Grammy, im Dezember wurden sie für zwei “normale” Grammys nominiert.
Februar:
Imelda May: Unerhört gute Adrenalinschübe
Imelda May feiert Erfolge über Erfolge… und ein Ende ist offenbar noch lange nicht in Sicht! Ihr zweites Album
“Mayhem” schlug so gut ein, dass im Oktober unter dem treffenden Titel
“More Mayhem” noch eine Sonderedition mit sechs fantastischen Bonus-Tracks nachgeschoben wurde.
“Optisch unmd musikalisch muss man bei Imelda keine Vergleiche bemühen”, schrieb Helmut Blecher in All My Music (AMM). “Sie spielt in ihrer eigenen Liga, in der sie auf mitreißende Art einen psychedelisch durchwirkten Soundtrack aus Rockabilly, Blues, Jazz und Surfmusik kreiert. […] Wer seinen Hörern solch unerhört gute Adrenalinschübe – dosiert in 15 Songeinheiten – verabreicht, hat schon jetzt einen Platz im Pop- und Rockabilly-Olymp sicher.”
In den USA, wo die Irin mit “Mayhem” prompt Platz 1 der New Artist Charts von Billboard eroberte, jubelte die New York Post: “Das ist eine Scheibe, die man sich nicht entgehen lassen darf: rassig, aber rauh, raffiniert und rasant zugleich - der perfekte Soundtrack zur Abkühlung in einem heißen Sommer.”
Tigran: Melodien mit regionalem Kolorit und temperamentvolle Improvisationen
Eine Kollektion dynamischer Solostücke präsentierte der Pianist
Tigran Hamasyan auf seinem Album
“A Fable”. Die Bandbreite der dreizehn überwiegend lyrischen Songs reichte von charmant verfeinerten Stücken bis hin zu schwungvollen Experimenten mit rhythmischer und harmonischer Vielfalt.
Tigran, der 2006 den renommierten Internationalen Jazz-Piano-Wettbewerb des Thelonious Monk Institute gewann, erweist sich auf “A Fable” einmal mehr als einer der vitalsten und originellsten jungen Jazzkünstler der Gegenwart.
Das Magazin FonoForum meinte in einer Besprechung des Albums:
“Dass der armenische Pianist Tigran Hamasyan als ‘Wunderkind’ herumgereicht wurde – vorbei. Mittlerweile 24 und vielfach prämiert, spielt er als Solovirtuose und Leiter eines Trios längst in den oberen Rängen der Erwachsenenliga. Auf dem ersten Soloalbum erzählt er ‘Geschichten’, die gern auf folkinspirierten Themen, Poemen und Impressionen aus seiner Heimat basieren. Einfache Melodien mit regionalem Kolorit münden in temperamentvolle Improvisationen, doch Tigran bleibt spielerisch bis verspielt. Ob er klimpert wie eine Spieluhr, singt, pfeift oder sich den Walzer ‘Some Day My Prince Will Come’aus dem Disney-Film ‘Schneewittchen’ vornimmt.”
März:
Mari Boine: Schamanistische Musiktraditionen mit modernem Dreh
“Den uralten, schamanistischen, musikalischen Traditionen der Samen im nördlichen Teil Skandinaviens, der einst auch als Lappland bekannt war, gibt die Vokalistin und Trommlerin einen modernen Dreh”, heißt es im All Music Guide über Mari Boine.
“Obwohl ihre hochrhythmischen Songs im wortlosen, jodelähnlichen Vokalstil Yoik (oder Joik) wurzeln, verwendet Boine in ihren Arrangements Einflüsse von Jazz und Rock sowie andere ethnische Elemente.”
Zu
Mari Boines 25-jährigen Bühnenjubiläum ist mit
“Áiggi Askkis: An Introduction To Mari Boine” erstmals eine “Best Of”-CD der samischen Sängerin erschienen, die seit ihrem denkwürdigen Auftritt in dem legendären (1990 von Rupert Hine produzierten) “Kettenbrief”-Video
“One World, One Voice” Fans in aller Welt hat.
Wer Mari Boine dennoch nicht kennen sollte, kann dies nun endlich in kompakter Form nachholen. Denn die beiden CDs versammeln 30 Tracks aus dem Œuvre, das die Sängerin in ihrer 25-jährigen Karriere veröffentlicht hat.
Wie es sich für eine “Best Of”-Kopplung gehört, befinden sich auf den beiden CDs ihre stärksten Songs sowie ein paar exzellente Remixe von Chilluminati, dem Mungolian Jet Set und Future Prophecies.
Selbst für ausgesprochene Boine-Kenner dürfte das Doppelalbum nicht ohne Reiz sein, enthält es doch auch sechs faszinierende Aufnahmen, die man auf keinem ihrer bisherigen Alben finden konnte.
Paul Simon: Ein Album, das einem den Glauben an Intelligenz und Substanz von Popmusik zurückgibt
Es gibt Musiklegenden, die sich im Alter damit begnügen, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen, und es gibt Musiklegenden, die einen immer wieder mit faszinierenden neuen Aufnahmen überraschen.
“Kein Hauch von Alter in der Stimme, keine Spur von Nostalgie in den Texten, keine sentimentale Religiösität im Angesicht der eigenen grauen Haare”, bilanziert Michael Lohr im Fachmagazin Akustik Gitarre. “Humorvoll, schlank und elegant, modern und zugleich zeitlos kommt die Musik des fast 70-Jährigen daher, weltgewandt, gesättigt von menschenfreundlich-selbstkritischer Spiritualität und gesundem Sarkasmus. Balladen wie ‘Questions For The Angels’ berühren mit tiefer Zartheit, Groove-Songs wie ‘Love Is Eternal Sacred Light’ reißen einfach mit. Solche Titelgebungen zeigen Simon auf Sinnsuche – verraten jedoch zunächst nicht, welch ein Kaleidoskop an Empfindungen, Überlegungen, Beobachtungen und Ironien der Amerikaner da einfließen lässt.
Auch die Musik dieses ebenso tiefen wie leichtfüßigen Albums speist sich aus zahllosen Quellen entlang Simons langem Weg: Anmutiges Folk-Gitarrenspiel, Percussion aus aller Welt, Flüssigkeit afrikanischer E-Gitarren, Heiterkeit karibischer Rhythmen, alles mit dem Fluss kristallklarer Melodien. Man genießt jede Sekunde eines Albums, das dem Hörer den Glauben an Intelligenz und Substanz von Pop-Musik zurückgibt.”