The Mars Volta
ALBUM: „Octhaedron“ (VÖ: 19.06.2009 )
Schon knapp 18 Jahre musizieren Omar Rodriguez-López und Cedric Bixler Zavala bereits miteinander. Das Duo durchlebte in dieser Zeit ein erstklassiges Beispiel für musikalische Evolution: Sie blieben nie stehen, sondern ihre Kunst reifte und wuchs ständig weiter. Seit Omar Mitglied der Vorgängerband At The Drive-In wurde, ging die Band Stück für Stück experimentellere Wege, die At The Drive In letztlich auch zum Verhängnis wurden und zum Split führten. Omars episches Songwriting und Cedrics lyrische Novellen ergänzten sich perfekt auf den ersten zwei The Mars Volta-Alben. Das künstlerische Optimum aus den beiden Querdenkern herauszuholen, war immer die Motivation dieser Zusammenarbeit.
„Das durchgehende Ziel war sich immer weiterzuentwickeln,“ erzählt Frontmann Omar über die neusten Aufnahmen, die The Mars Volta nach Mexiko verschlagen haben. „Wir wollen immer das nächste Album anders klingen lassen als den Vorgänger, uns immer weiter entwickeln.“
Und so war es bei The Mars Volta von Beginn an. Noch während der entropischen späten Phase von At The Drive-In und vor dem dubbigen Seitenprojekt De:Facto von Omar und Cedric, in dem auch die späteren Mars Volta Mitglieder Ikey Owens und Jeremy Ward involviert waren, beschäftigten sich die beiden mit neuen Sounds. 2002 gab es das erste hörbare Lebenszeichen von The Mars Volta in Form der Drei-Song EP „Tremenulant“ – erschienen auf dem bandeigenem Label GSL. Die ersten Konzerte und Aufnahmen fingen das rasend wilde Chaos ihrer Anfänge ein – ein Durcheinander von losen Ideen, ehe sie sich ein wenig besannen und ihre Konzentration darauf legten, mit „ De-Loused In The Comatorium“ ein progressives Meisterwerk abzuliefern. Das Album als Ganzes war weitaus mehr als die Summe der zehn betäubenden, ausufernden Kompositionen. Das beeindruckende Debüt von The Mars Volta funktionierte als Klagelied und dramatische Darstellung des Lebens von Julio Venegas, ein Freund und Mentor der jungen Omar und Cedric. Venegas hatte sich das Leben genommen, nachdem er durch einen gescheiterten Selbstmordversuch entstellt und halbseitig gelähmt worden war. Auf dem Album taucht Venegas in Form der Figur Cerpin Taxt auf. Die Songs erzählen von den verschwommenen Gedanken während eines durch einen Selbstmordversuch geschuldeten Komas.
Allen Skeptikern zum Trotz, heimste das erste „Post At The Drive In Werk“ gute Kritiken ein und wurde auch ein kommerzieller Erfolg. Auf den ersten Mars Volta Headliner Shows wurde das Album in seiner Ganzheit gespielt. Nicht wenige dieser aufreibenden und bewegenden nächtlichen Marathons endeten mit Tränen vor Glück und Erleichterung. Ein ganz besonderer Moment war die unerwartete Goldauszeichnung. Ermutigt und gefestigt durch diesen Erfolg stärkten Omar und Cedric das Bandgefüge durch den Bassisten Juan Alderete de la Pena, Keyboarder Isaiah „Ikey“ Owens, Perkussionist Marcel Rodriguez-López (Omars Bruder), Flöten- und Saxophon-Spieler Adrian Terrazas und Schlagzeuger Jon Theodor. Die Arbeiten am zweiten, weit ambitionierteren Album begannen. Wie schon bei „De-Loused…“, wurde das Album vom Verlust eines engen Freundes inspiriert. Jeremy Ward, der Kopf hinter den Soundreglern der Band, starb unerwartet kurz nach der Veröffentlichung von „De-Loused…“. „Frances The Mute“ spiegelt Wards tragische Lebensgeschichte wieder – die erfolglose Suche eines Adoptivkindes nach seinen eigentlichen, biologischen Eltern. Wurde der Vorgänger noch mit Hilfe von Rick Rubin produziert, so war diesmal Omar alleine als Produzent verantwortlich. „Frances The Mute“ übertraf wieder alle Erwartungen und stieg auf Platz # 4 der Billboard Charts ein, als Gäste waren legendäre Musiker vertreten: Von David Campell über Larry Harlow bis zum Red Hot Chili Peppers Mitglied John Frusciante, der heute offizieller Mars Volta Studiogitarist ist. Mit „The Widow“ gelang sogar eine Hitsingle. Für die dazu gehörige Tour konnte mit Pablo Hinojos ein ehemaliges Mitglied von At The Drive-In wieder gewonnen werden. Die Konzerte waren die erfolgreichsten und intensivsten bis dato. „Frances…“ verkaufte sich über eine halbe Million Mal in den USA. Alles in allem ein überaus beeindruckendes Tribute an einen verstorbenen Freund.
Für das Album „Amputechture“ entschieden sich Omar und Cedric gegen ein zentrales, die Platte durchziehendes Thema. Omar verliebte sich in surreale Songstrukturen einzelner Tracks und ließ sich von Ketzerei, Intoleranz, Dämonenverehrung und alten Folgen der TV Serien „Night Gallary“ und „Twilight Zone“ beeinflussen. „Amputechture“ wurde das schwierigste Mars Volta-Album – Omar und Cedric betrachten es als ihr autistisches Kind, das am wenigsten mit anderen zu tun hat, aber die meiste Pflege braucht. Nichtsdestotrotz sind außergewöhnliche Songs wie „Viscera Eyes“ und „Day Of The Baphomets“ immer noch Live-Favoriten der Band und der Fans.
Die Zeit nach der Veröffentlichung von „Amputechture“ und der folgenden Tour schien von Unglück und Missgeschicken geprägt zu sein. Schlagzeuger Jon Theodore verließ die Band und es gestaltete sich schwierig, einen dauerhaften Ersatz zu finden. Viele Konzerte mussten ausfallen oder wurden aufgrund von unerklärlichen Equipment-Problemen verschoben und Cedric litt an einer seltsamen Krankheit, die ihn zum Humpeln zwang. Ein Techniker wurde psychisch verrückt und zu allem Überfluss wurde auch noch Omars Studio Opfer von Hochwasser. Die vielen seltsamen und unschönen Ereignisse passierten zu einer Zeit, als Omar aus Israel ein Ouija – ein Brett mit wahrsagerischen Fähigkeiten – für Cedric mitbrachte. Die Band glaubte an einen Zusammenhang zwischen dem sogenannten „Soothsayer“ und den unschönen Ereignissen. Das Brett sprach mit der Band und erzählte Geschichten von Verführung, Untreue und Mördern und Charakteren, die sich im bösartigen Goliath vereinigten. Um dem Spuk ein Ende zu setzen, fuhr Omar an einen unbekannten, verlassenen Ort und verbudelte das Brett an einer Stelle, die seine Bandkollegen hoffentlich niemals finden werden, und die er auch schnell vergessen wollte.
Die Altlast des sprechenden Brettes verarbeiteten The Mars Volta auf ihrem vierten Album „The Bedlam In Goliath“, das Anfang 2008 auf Platz #3 der Billboard Charts einstieg. „ The Bedlam In Goliath“ war eine Verkörperung des Verrückten und vermied das sukzessive Bild vergangener Mars Volta Platten, sondern startete sofort mit Ekstase auf dem Opener „Aberinkula“, auf dem zum ersten Mal der neue Schlagzeuger Thomas Pridgen zu hören war. „Ilyena“, „Goliath“, „Soothsayer“, „Tourniquet Man“ und andere Geschichten und Charaktere, die das Brett erzählt hatte, bildeten das Fundament des Albums. Der Track „Wax Simulacra“ brachte sogar eine Auszeichnung für die Best Hard Rock Performance bei den 51. Grammy Awards im Februar 2009.
Für Omar Rodriguez-Lopez ist ein Studio nicht bloß ein Werkzeug oder etwas, das die Instrumente an die richtigen Stellen positioniert. Das Studio ist sein Labor, sein Spielplatz, sein Ort, an dem alles entsteht, alles geändert wird, alte Songstrukturen am Ende nicht wieder erkennbar sind, neue Ideen entstehen, die immer wieder ver- und umgeworfen werden und so ungewöhnliche Wege einschlagen.
Für das neue Album „Octahedron“ versuchte Omar sich mal wieder an einer komplett neuen Strategie – einer, die er so noch in der Band noch nicht ausprobiert hatte. Als das Fundament der Songs im Grunde fertig war, zog er sich nicht ins Studio zurück, um endlos an den Aufnahmen weiterzufrickeln. Er ging einen anderen Weg. Anstatt seine akustischen Vorstellungen wie bisher immer mit Overdubs und anderen Effekten zu verwirklichen und dabei die Fundamente zu verfälschen, entschied er sich diesmal dafür, an jedem Detail, jeder Glocke und jedem Pfeifen festzuhalten. Das Ergebnis, so Omar, ist, dass es sein erstes Album ist, das man mit Genuss hören kann. All das, was Musik so interessant macht, ist auf diesem Album klar, deutlich und einfach zu hören. Um diesen Geist zu behalten, kürzte Omar die Band zu einer Sechsköpfigen. Hinoyos und Terrazas verließen die Band freundschaftlich.
„Es war eine große Herausforderung, mich zusammenzureißen,“ erzählt er, „Unendlich viele Spuren oder ausufernde Instrumentalpassagen dort und da hin zu packen, war für mich zu einfach. Also legte ich mir selber Fesseln auf, indem ich mir sagte: Nein, da kommen keine 97 weitere Teile in diesen Song. Ich zügelte mich und behielt den Kern der Songs, so wie er war, bei.
„Octahedron“ ist ein berauschendes Album mit den Emotionen, die schon immer das Markenzeichen von The Mars Volta waren. Ihre neugefunden Einfachheit und Konzentration führt zu den eindringlichsten und intensivsten Songs der Bandgeschichte. Textlich befasst sich Cedric mit dem Themenkomplex Verschwinden. Inspiriert wurde er u.a. von Kidnappern, die ihr Unwesen im aktuellen Heimatland der Band Mexiko treiben, von mysteriösen Verschwinden, die unter dem Begriff „Urbane Mythen“ zusammen gefasst werden, und von der Art und Weise wie sogar die stärksten und reinsten Emotionen und Gefühle einfach so abebben und ganz verschwinden.
Das Album beginnt mit dem schmerzvollen „Since You’ve Been Wrong“. Cedrics kraftvolle Stimme baut eine tieftraurige Stimmung mit leidenschaftlicher Melancholie auf, die den Hörer genau so unerwartet trifft wie die direkte Rocknummern (der glänzende, futuristische Beat in „Teflon“ oder die straffen Jagdrhythmen in „Cotopaxi“). Ohne die Experimentierlust vergangener Veröffentlichungen kommt „Octahedron“ aus. Die Energie steckt in Omars Gabe für außergewöhnliches Songwriting, in atemberaubenden Gitarrenläufen mit höchster Intensität und gefühlvoller Kraft ("Luciforms“), in den sich im Ohr festbeißenden Hooks und Melodien, wie bei den peitschenden Rhythmen in „Desperate Graves“. „Alles, was für mich zählt, ist, ob dich etwas bewegt oder nicht,“ erklärt Omar. „Ich habe nie mit Absicht versucht, trickreich oder kompliziert zu sein. Wenn ich von Sounds Gänsehaut bekommen, benutze ich sie. Alles was zählt, ist, ob mich etwas trifft, etwas berührt.“
Letztendlich ist das Album ein weiteres in der Reihe von Omar und Cedrics Manifesten an ihren unangreifbaren Glauben in ihren musischen Weg, egal wo er sie auch hin verschlägt. Bis hierhin gab es noch keinen Grund, einen ihrer kreativen Ausflüge zu wiederholen – schon gar nicht, wenn solch demonstrativ kraftvolle Platten wie „Octahedron“ dabei entstehen.
„Der einzige Grund für unsere große Fanbase ist, dass ich meinen Instinkten glaube,“ erklärt Omar. „Wir haben nie zwanghaft versucht, Erfolg zu wiederholen, um jemanden glücklich zu machen. Wir sind nur uns selbst treu geblieben und schrieben Musik, die wir machen wollten. Unsere Fans empfinden das als echt, authentisch und unverfälscht.“
Und auf „Octahedron“ spürt man diese Unverfälschtheit mehr denn je.