Gut zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit Mary J. Blige mit ihrem Debütalbum die R&B- und Popwelt revolutioniert hat, und noch immer schlägt die Erfinderin des Hiphop-Soul aus New York mit jedem Album neue Wege ein und erfindet sich neu: Für ihr kommendes Studioalbum „The London Sessions“ (VÖ: 28.11.14) ist die Königin des R&B wochenlang ins Reich der Queen eingetaucht und präsentiert nun ihre ausgelassenen Session-Recordings mit UK-Senkrechtstartern wie Sam Smith, Disclosure, Naughty Boy und Emeli Sandé!
Auslöser für ihren verlängerten Aufenthalt in London waren gleich zwei inspirierende Kollaborationen: Zunächst veredelte Mary mit ihrem Feature-Auftritt bei „F For You“ den Track des jungen UK-Duos Disclosure, und wenig später stand sie auch noch für einen Remix des Rekord-Hits „Stay With Me“ mit Sam Smith im Studio. Da sie von der Energie und der musikalischen Vielfalt, die in der britischen Metropole auf sie wartete, regelrecht umgehauen war, fasste die neunfache Grammy-Gewinnerin kurzerhand den Entschluss, für einen ganzen Monat in diese Szene einzutauchen und ihr neues Album in den legendären RAK Studios aufzunehmen…
„Ich wollte mich hier nicht nur wie ein Gast, sondern wirklich heimisch fühlen für diese Zeit“, so Blige über die Arbeit an „The London Sessions“, zu der sie neben Disclosure und Sam Smith auch Emeli Sandé, Naughty Boy, Jimmy Napes, Eg White und SAM ROMANS als Gäste begrüßen konnte, wobei der Produzent Rodney Jerkins als Executive Producer hinter den Reglern stand. Nachdem mit „Right Now“ ein erster Vorgeschmack erschienen war – in diesem Fall machen Sam Smith, Disclosure und Mary gemeinsame Sache –, schrieb MTV.com bereits: „so innovativ wie schon lange nicht mehr.“ Kein Wunder, denn man merkt sofort, wie sehr die 43-Jährige von der neuen Umgebung inspiriert wurde: „Das gesamte Album klingt ausgelassen, nach guter Laune. Es war eine wirklich grandiose Erfahrung, in die Londoner Szene einzutauchen.“
Am 11. Januar 1971 kommt Mary Jane Blige in der New Yorker Bronx zur Welt. Nach einem Abstecher nach Georgia landet ihre Familie wieder in New York City, nunmehr in Yonkers, einem sozialen Brennpunkt, der nicht ohne Grund „Slow Bomb“ genannt wird. Ihr Vater, der das Vietnam-Trauma nicht verkraftet hat, lässt die Familie kurz nach ihrem vierten Geburtstag sitzen; ein Jahr später erfährt Mary sexuelle Gewalt. Halt findet sie einzig und allein in der Musik: Mit vier sind es z.B. Tracks wie „Everybody Loves The Sunshine“ von Roy Ayers. Es folgen erste Auftritte mit dem Kirchenchor, bis sie sich vom ersten eigenen Geld die Single „Rapper’s Delight“ von der Sugar Hill Gang kauft und erstmals mit HipHop in Kontakt kommt. Sie geht auf Blockpartys, übt fleißig ihre Breakdance-Moves, tut alles, um mit der harten Umgebung zurechtzukommen. Doch das Leben wird nicht leichter in den Achtzigern: Mit 16 muss Mary dabei zusehen, wie ihre Mutter von einer Nachbarin mit einem Messer attackiert wird. Der Kampf ums Überleben ist so aufreibend, dass sie sich nicht länger auf die Schule konzentrieren kann und in der 11. Klasse alles hinschmeißt. Doch 1989 sollte ein Besuch im Einkaufszentrum alles Weitere ins Rollen bringen: Spontan nimmt Mary in einer Art Karaoke-Studio eine Coverversion von Anita Bakers „Caught Up In The Rapture“ auf – die Kassette landet über Umwege bei Uptown Records, und Mary hat ihren ersten Plattenvertrag.
Bei ihrem Label Uptown Records arbeitet auch ein damals noch unbekannter Talentscout namens Sean Combs: Puff Daddy. Er erkennt ihr Potenzial, nimmt sie sofort unter seine Fittiche und produziert „What’s The 411“, Marys Debütalbum aus dem Jahr 1992, mit dem sie im Handumdrehen zum Superstar wird. Die Zahl 411 im Titel ist zwar noch eine Anspielung auf die miesen Jobs nach dem abrupten Ende ihrer Schullaufbahn – 411 ist die Nummer der Auskunft in den USA –, doch war schon mit dieser LP eine Diva geboren. Mary landet mit „You Remind Me“ und „Real Love“ erste Singlehits, verkauft ihr Album drei Millionen Mal und erfindet ganz beiläufig ein neues Genre: HipHop-Soul. Fulminanter kann eine Karriere kaum starten.
Nachdem sie mit „My Life“ ein zweites Album veröffentlicht hat, das ohne Zweifel zu den wichtigsten Platten des 20. Jahrhunderts zählt, legt sie ihre Zusammenarbeit mit Puffy vorerst auf Eis, macht aber weiterhin mit diversen Rap-Größen gemeinsame Sache: Ihren ersten Grammy gewinnt sie Mitte der Neunziger keinesfalls für einen R&B-Track, sondern für eine HipHop-Kollaboration mit dem Wu-Tang-Rapper Method Man: „I’ll Be There For You/You’re All I Need To Get By“. Inzwischen wird sie zwar offiziell als die „Queen of HipHop-Soul“ bezeichnet, doch hat der Erfolg auch seine Schattenseiten: Die kommenden Jahre hat Blige immer wieder mit Drogen- und Alkoholproblemen zu kämpfen, und auch ihre Beziehung mit K-Ci Hailey von Jodeci entpuppt sich als Reinfall.
Das Blatt wendet sich jedoch mit der Veröffentlichung von Album #3, „Share My World“: „Love Is All We Need“, das sie zusammen mit Nas aufnimmt, ist der erste von fünf Singlehits. Das Jahrzehnt endet mit der Veröffentlichung von „Mary“, auf dem sie eher in Richtung Soul aufbricht und mit Eric Clapton, Lauryn Hill, Elton John und ihrem mit Abstand größten Vorbild arbeitet: Aretha Franklin.
Den nötigen Ruhepol in ihrem Leben findet die R&B-Queen, nachdem sie im Jahr 2000 auf ihren zukünftigen Ehemann trifft: Martin „Kendu“ Isaacs hilft ihr dabei, endgültig Schluss mit den Drogen zu machen. Sie heiratet die Liebe ihres Lebens im Jahr 2003 und macht schon vorher musikalisch deutlich, dass sie ihr Leben nunmehr im Griff hat: „No More Drama“ lautet der Titel ihres fünften Albums. Und der ist Programm.
Die von Dr. Dre produzierte Single „Family Affair“ gehört zu ihren größten Hits dieser Zeit. Dabei ist auch „Family Affair“ durchaus wörtlich zu verstehen: Ab sofort kümmert sie sich nämlich um die drei Kinder von Kendu, mit dem sie seither in New Jersey lebt. Es folgen die Alben „Love And Life“, für das sie wieder mit ihrem alten Kumpel Diddy zusammenarbeitet, „The Breakthrough“ und ihr Best-of-Album „Reflections“. Insbesondere „The Breakthrough“ zeigt, wie sehr Mary in diesen Jahren das Musikbiz dominiert: Acht Grammy-Nominierungen bekommt sie dafür; drei Grammys gewinnt sie schließlich.
Während sie in den Nullerjahren auch mit Chaka Khan, Stevie Wonder, Whitney Houston und Bono von U2 auftritt, folgt auf ihr „Growing Pains“-Album noch ein ganz besonderes Karrierehighlight: Mary darf im Jahr 2009 beim Amtsantritt von US-Präsident Obama auftreten, wo sie „Lean On Me“ von Bill Withers präsentiert. Nach den Alben „Stronger With Each Tear“ (2009) und „My Life II… The Journey Continues (Act I)“ ging 2013 auch ihr Weihnachtsalbum „A Mary Christmas“ in die Top−10 der US-Charts.
Insgesamt hat Mary J. Blige in den letzten 22 Jahren weit über 50 Millionen Alben verkauft. Ihr Album „My Life“ aus dem Jahr 1994 ging als eines der „Top 100 Albums of All Time“ (Time Magazine) bzw. der „100 Essential Albums of the 20th Century“ (Vibe) in die Geschichte ein und landete auf Platz #17 der vom US-Rolling Stone aufgestellten Liste der „50 Essential Female Albums“. Die Sängerin, die für acht ihrer Alben gleich mehrfaches Platin gewann und bereits neun (!) Grammy-Awards in Empfang nehmen konnte (bei stolzen 31 Nominierungen!), wurde erst 2012 für einen Golden Globe Award nominiert.
2014 meldet sie sich nun also aus einer anderen Metropole zurück: „Ein Album aus der Perspektive der Londoner Szene aufzunehmen – das war die Idee. Und diese Freiheit, die man hier sogar im Radio hört, fühlt sich einfach mal unglaublich gut an an“, so Marys Kommentar. Auch ihre diversen Albumgäste können immer noch kaum fassen, was sie da gemeinsam mit der New Yorkerin erschaffen haben – immerhin der Wegbereiterin für Künstlerinnen wie Beyoncé, Alicia Keys, Rihanna oder Keri Hilson und nicht ohne Grund als einzig legitime Nachfolgerin von Ikonen wie Aretha Franklin und Billie Holiday gehandelt: „Wahnsinnig mutig klingt ‘The London Sessions’, und dazu sind diese Songs so wahnsinnig ehrlich“, so der Kommentar von Sam Smith, und auch Disclosure stimmen ihm zu: „Dieses Album zeigt einfach mal, weshalb Leute wie Mary so unglaublich erfolgreich sind: Sie hat keine Angst vor Veränderungen.“