Motown 50 | Biografie

Motown

Motown, die siegreiche Indie-Plattenfirma. Motown, eine schwarze Erfolgsgeschichte. Motown, eine Show der Superlative. Motown zwischen Chart-Höhenflügen und menschlichen Abgründen. Anreißer zum Thema Motown gibt es in Hülle und Fülle.

Vor gut 50 Jahren, am 12. Januar 1959, gründete Berry Gordy die Firma mit einem Startkapital von 800 Dollar, die er sich von seinen Eltern geliehen hatte.
Allein zwischen 1961 und 1971 landete Motown 110 Hits in den US-Top 10, im Schnitt also elf pro Jahr, knapp einen im Monat. 1988 verkaufte Gordy sein Label für 61 Millionen Dollar an MCA. Aber nicht nur um Hits und harte Dollars geht es hier beim Stichwort „Erfolgsgeschichte“. Denn Motown ist die in künstlerischer Hinsicht bedeutendste Plattenfirma des 20. Jahrhunderts.

„Nur“ ein anerkannter Songschreiber zu sein (etwa mit seinem Hit „Lonely Teardrops“ für den R&B-Sänger Jackie Wilson), reichte dem gewieften und nicht selten skrupellosen Geschäftsmann Gordy nicht. 1959 hatte er die Vision eines afroamerikanischen Musik-Imperiums. Um diese Vision zu verwirklichen, nutzte der Ex-Boxer das Prinzip der Fließbandarbeit, so wie er es von den Ford-Werken seiner Heimatstadt, der „Motor-Town“ Detroit kannte. Nur, dass bei Motown Jahrhundertsongs wie „Stop! In The Name Of Love“ oder „Reach Out“ vom Fließband liefen.

Dafür holte sich Gordy die besten Songschreiber und Produzenten, die er auftreiben konnte. Das Ehepaar Ashford & Simpson („Ain´t No Mountain High Enough“). Die Gebrüder Holland mit Lamont Dozier, bekannt als Holland-Dozier-Holland („Where Did Our Love Go“). Den im September 2008 verstorbenen Norman Whitfield („Papa Was A Rolling Stone“).

Die Liste der Sänger-Legenden, die bei Motown aufnahmen, ist schier unendlich: Diana Ross & The Supremes, The Temptations, The Four Tops, The Jackson 5, Marvin Gaye und Stevie Wonder, Lionel Richie, Boyz II Men oder Erykah Badu führen sie an.

Aber nicht nur begnadete Produzenten und Sänger machten den Motown-Mythos: Gordy stellte dafür die beste „Hausband“ aller Zeiten zusammen: die legendären Funk Brothers mit Keyboarder Earl Van Dyke, Bassist James Jamerson, dem Schlagzeuger Richard „Pistol“ Allen und anderen.  Auf hunderten Hits sind sie zu hören. James Jamerson – ein Genie – zupfte die grandiosen Basslinien, an denen man so viele Motown-Songs erkennt (nehmen wir „You Can´t Hurry Love“ von den Supremes) nur mit dem Zeigefinger – in waghalsigem Tempo. Kaum zu glauben aber wahr: Die Funk Brothers spielten auf mehr Nr. 1-Hits als die Beatles, Elvis, die Rolling Stones und The Beach Boys zusammen.

Den typischen Motown-Sound erkennt man schon nach wenigen Takten: Das Tamburin auf der Zwei. Die durchschlagenden, genialen Basslinien. Solide durcharrangierte Harmonieschema. Im Gesang die „Call & Response“-Form der Gospelmusik. Ausufernde Virtuosität und große Ornamente sparte man sich im „Hitsville“ und hielt sich dafür an das so genannte KISS-Prinzip („keep it simple, stupid).

Um seine Künstler zu echten Stars zu machen, verdonnerte Motown sie zu Tanz-, Sprech-, und Benimmunterricht. Die Kinder der Fließbandarbeiter von General Motors sollten lernen, wie man ein Weinglas richtig hält oder einer Frau beim Ausziehen des Mantels hilft, um das Image von Afroamerikanern in der Öffentlichkeit aufzubessern. Sie sollten sich als Botschafter fühlen. Das Arbeits-Ethos bei Motown war kolossal. Sein Studio, die „Schlangengrube“ genannt, hatte täglich 22 Stunden geöffnet. Wenn man die Motown-Vokalstars nicht dort antraf, waren sie wahrscheinlich auf Tour.

Auf berühmt-berüchtigten, den so genannten „Friday Meetings“ entschieden Gordy und sein Team rigoros darüber, welche neuen Motown-Songs genug Hit-Potential hatten. Nur sie veröffentlichte das Hitsville U.S.A. Gordy blockierte dort mit seinem Vetorecht immer wieder epochale Titel, die dann, Gott sei Dank, doch erschienen: „Cloud Nine“ von den Temptations (mit dem Motown seinen ersten Grammy gewann), später „What´s Going On“ von Marvin Gaye. Songs wie „I Heard It Through The Grapevine“ überarbeiteten seine Macher Dutzendmal, um sie immer wieder auf den „Friday-Meetings“ ins Rennen zu schicken. Die kommerziellen Dogmen des typischen Motown-Sounds unterliefen ab Beginn der 1970er Solokünstler wie Gaye und Stevie Wonder (der noch heute beim Label unter Vertrag ist) auf ihren Konzeptalben.

Bei Motown wurde der „amerikanische Traum“ erstmals für Afroamerikaner wahr. Fünf Jahre, bevor der „Civil Rights Act“ ein de-facto Apartheidsregime in den USA beseitigte, gab es in Detroit eine wichtige Plattenfirma, die einem Afroamerikaner gehörte. Ein Familienunternehmen, das vorrangig Schwarze beschäftigte und das bahnbrechenden Erfolg im weißen Amerika hatte. Motowns Revolution fand in den Aulas der Highschools, in den Tanzsälen statt, wo die Bands der „Motortown-Revue“ Konzerte gaben. Getrost lässt sich behaupten: Ohne Motown und sein „Empowerment“ der afroamerikanischen Gesellschaft hätte es Barack Obama nicht geschafft.

Motowns „Claim“, sein Motto hieß in den 1960ern: The Sound of Young America. Das war weder Angeberei noch Wahlspruch, es war eine Tatsache. In den Zeiten der Bürgerrechtsbewegung machte Motown die coolste, die populärste Musik der Vereinigten Staaten. Sie erreichte schwarze und weiße Teenager. Auch in Europa. Die frühen Beatles, Dusty Springfield, die Northern Soul Bewegung, in unserer Zeit: Amy Winehouse – alle undenkbar ohne den Einfluss Motowns.

Doch dahin war es ein gut fünfzig Jahre andauernder langer Weg mit vielen Stationen. Im Folgenden eine (notgedrungen unvollständige) Zeitleiste:

12. Januar 1959: Der Songschreiber und Automechaniker Berry Gordy erwirbt ein Haus am West Grand Boulevard in Detroit, Michigan. Er richtet dort Büros und ein Tonstudio ein und nennt es „Hitsville USA“. Auf seinem Motown-Label und ´zig Sublabels (Tamla, Gordy, Soul, V.I.P., Rare Earth, Workshop Jazz, Mel-o-dy und anderen) etabliert Gordy in den 1960ern sein Imperium.

1959: Motown landet seinen ersten R&B-Hit mit Barrett Strongs „Money, That´s What I Want“ (#2 der US-R&B-Charts).

1960: Den ersten US-#1-Pophit bringen die Marvelettes dem Label mit „Please Mr. Postman“, den danach die Beatles und die Carpenters covern.

1964: Der Siegeszug der Supremes (später umbenannt in Diana Ross & The Supremes) beginnt. Bis 1967 dominieren sie zehnmal die #1 der US-Popcharts.

1966: Britische Rockfans streiten darüber, ob die Beatles oder die Rolling Stones, die „größte Band“ sind. Pendant im US-Soul, die Frage: Sind die Four Tops oder The Temptations die beste Band? 1966 stehen sich „Reach Out“ von den Four Tops und „Get Ready“ der Temptations in den Charts gegenüber. Lachender Dritte: Ihr Label Motown.     

1967: Der Motown-Song „I Heard It Through The Grapevine“, dessen Veröffentlichung Berry Gordy immer wieder abgelehnt hat, erreicht in der Version von Gladys Knight & The Pips #2 der US-Singlecharts. Das motiviert Gordy, eine ältere Version, die Marvin Gaye aufnahm, aus der Schublade zu holen. Gayes Fassung wird ein internationaler #1-Hit und erscheint später auf Platz 65 der „Greatest Songs of all Time“-Liste der US-Medienbibel Billboard.

1968: In den politisch brisanten Zeiten von Vietnam, dem Attentat auf Martin Luther King und den Black Panthers veröffentlicht Motown den ersten „Message-Song“ im R&B: „Cloud Nine“ der Temptations, er gewinnt einen Grammy.

1969–70: Die Jackson 5 mit ihrem damals 12jährigen Leadsänger Michael schnellen mit „I Want You Back“, „ABC“ und „I´ll Be There“ an die Spitze der US-Popcharts.

1970: Erst über die britischen Charts, wo der Song zuerst einschlägt, erreichen Motown-Urgestein Smokey Robinson und seine Band The Miracles einen lange verdienten Nr. 1-Hit in den USA mit „The Tears Of A Clown“.

1971: Gegen den Willen von Berry Gordy veröffentlicht Marvin Gaye sein sozialkritisches Konzeptalbum „What´s Going On“. 2003 wird es der „Rolling Stone“ auf Platz 6 seiner „500 Greatest Albums“ of All Time“-Liste aufnehmen.

1972:
Berry Gordy zieht mit Motown nach Los Angeles, in erster Linie um ins Filmgeschäft von Hollywood einzusteigen. Gordys Muse Diana Ross brilliert im Billie Holiday-Biopic „Lady Sings The Blues“.

1973: Stevie Wonder liefert mit seiner Single „You Are The Sunshine Of My Life“ einen überdimensionalen Evergreen ab, den Frank Sinatra, Liza Minnelli, Ella Fitzgerald covern (nicht zu vergessen Richard Clayderman oder Wencke Myhre).

1977: Der Mega-Hit „Easy“ zementiert den Ruhm der Commodores. Später wird Leadsänger Lionel Richie solo Grammys abräumen und hunderte Millionen Platten verkaufen.

1980: Auch als Solosängerin ist Diana Ross nicht zu toppen, und stellt mit ihrer von Nile Rodgers und Bernard Edwards (Chic) produzierten Supersingle „Upside Down“ aus ihrem Bestselleralbum „diana“ alles auf den Kopf.

1981: Mit Rick James („Super Freak“), Teena Marie und der Gospelband DeBarge startet Motown nicht ganz so erfolgreich in die 80er.

1988: Berry Gordy verkauft Motown an MCA.

1994:
„II“, das zweite Album von Boyz II Men, produziert von Babyface und Jimmy Jam & Terry Lewis, wird Inbegriff des R&Bs der 90er. Die Singles „I´ll Make Love To You“ und „On Bended Knee“ lösen einander direkt auf #1 der US-Charts ab. Das hatten zuvor nur Elvis und die Beatles geschafft.

1997: Erykah Badus Debütalbum „Baduizm“ schickt Druckwellen durch die Popkultur. Badu gewinnt zwei Grammys, man ernennt sie zur „First Lady of Neo Soul“.

2001: Neuer Stern am Motown-Himmel ist die Singer-Songwriterin India.Arie aus Atlanta. Ihre Single „Video“ ist ein Abgesang auf sämtliche Schickie-Mickie-Klischees in der R&B-Welt. Ihr danach erscheinendes Debütalbum „Acoustic Soul“ nominiert man für sieben Grammys.

Und in Deutschland?

In Deutschland kennt jedes Kind Motown-Songs wie „I Just Called To Say I Love You“ von Stevie Wonder. Als Wonder im September 2008 in der Münchner Olympiahalle auftrat, nach 24 Jahren Abwesenheit, umjubelte ein Publikum zwischen 12 und 70 den „letzten echten Helden des musikalischen Märchens Motown“ (Süddeutsche Zeitung). Das Märchen begann in Deutschland, als 1965 die Supremes mit „Stop! In The Name of Love“ Platz 3 der Charts stürmten.

Bis zu den 1980ern blieb Motown eine Nische in den deutschen Charts – Ausnahmen: Thelma Houston 1977 mit „Don´t Leave Me This Way“ (#5). Stevie Wonder im selben Jahr mit seinem Funk-Kracher „Sir Duke“, danach, 1980, mit „Master Blaster“. 1984 war hierzulande ein gutes Jahr für Motown: Lionel Richie triumphierte solo mit „Hello“ (#2), Rockwell mit „Somebody´s Watching Me“ (#2) und Wonder mit eben „I Just Called To Say I Love You“ (#1). Ein Jahr danach kamen Richie und die Commodores mit dem Lamento „Nightshift“ (#4) zurück, das sie nach dem tragischen Tod von Marvin Gaye veröffentlichten (den 1984 der eigene Vater erschossen hatte). Richie ist der Motown-Star mit der höchsten Präsenz im deutschen Fernsehen: 2000, 2004 und 2007 lud Thomas Gottschalk ihn bei „Wetten, dass?“ ein.

Heute hat sich der Motown-Sound komplett ins Bewusstsein der Popmusik eingegraben, durch Amy Winehouse, auch durch die Schweizer Sängerin Stefanie Heinzmann, deren Debütsingle „My Man Is A Mean Man“ – kompletter Neo-Motown – im Frühjahr 2008 die Top 5 im deutschsprachigen Raum erreichte.

Last but not least

Vom wirklich bekanntesten aller Motown-Songs war bis jetzt noch gar nicht die Rede. Stevie Wonder ist ein grundbescheidener Mensch. Seine größten Hits waren Tribute an große afroamerikanische Persönlichkeiten: „Sir Duke“ schrieb Wonder in Hommage an den Jazzkomponisten und Bandleader Duke Ellington. „Isn´t She Lovely“ war eine Liebeserklärung an seine Tochter Aisha. Und sein Megahit „Happy Birthday“ gilt Martin Luther King – Ikone der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. 1981 erschien „Happy Birthday“ im Rahmen einer Kampagne Wonders mit dem Ziel, den Geburtstag von Dr. King zum Feiertag in den USA zu erheben, was (erst) 1986 gelang. Heute ist „Happy Birthday“ auch in Deutschland ein gängiges Geburtstagslied. Bei den Jüngeren könnte es womöglich „der Geburtstags-Song“ schlechthin sein.
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