Fangen wir mal mit einem kleinen Abstecher in die Vergangenheit an. Einem Abstecher in eine Ära, als die größten Rap- und HipHop-Tracks noch in dunklen Kellerlöchern entstanden, anstatt in den Sitzungssälen der großen Musikkonzerne konzipiert zu werden. Als es im HipHop- und Dancehall-Bereich noch darum ging, die Menschen mit der Musik zu erreichen – also nicht immer höhere Verkaufszahlen. Als es wichtiger war, sich stilistisch abzusetzen als Einheiten abzusetzen. In eine Ära also, die eigentlich schon Geschichte war, als Damian “Jr. Gong” Marley und Nasty Nasir Jones sich auf die “Road to Zion” begaben und damit ihren ersten gemeinsamen Track für Damians “Welcome To Jamrock”-Album (2005) aufnahmen. Doch diese erste Zusammenarbeit gefiel beiden so unglaublich gut, dass sie schließlich den Entschluss fassten, ein komplettes Album gemeinsam aufzunehmen: Das Resultat heißt “Distant Relatives”. Es knüpft nahtlos an besagte Ära an und erscheint hierzulande am 14.05.2010.
Anders als alle bisherigen Projekte, bei denen Musiker aus Jamaika und Nordamerika zusammengearbeitet haben, ist “Distant Relatives” dabei weder irgendeine billige Remix-Version noch handelt es sich dabei um irgendeinen Feature-Auftritt auf einem einzigen Song. Im Gegenteil: “Distant Relatives” ist ein echtes Collabo-Album. Schließlich ging es den beiden darum, sich gegenseitig zu inspirieren und klangliches Neuland zu erforschen. So gesehen basiert der Longplayer auf allem, was sich seit dem Durchbruch des Dancehall-Genres vor rund vierzig Jahren und der Geburtsstunde des HipHop, die wenig später erfolgte, ereignet hat; sprich: die LP knüpft nahtlos an genreübergreifende Meilensteine wie den Song “Roots Rap Reggae” von Run-DMC featuring Yellowman, an den “Dolly My Baby”-Remix von Super Cat feat. Biggie Smalls oder auch an “The Jam” an, bei dem sich Shabba Ranks und KRS-One das Mikrofon teilten. Genau diese Kerbe war es, in die Damian Marley und Nas schon vor einigen Jahren mit “Road To Zion” schlugen. Kein Wunder also, dass Damian für sein “Welcome To Jamrock”-Album, auf dem ihr erster gemeinsamer Track enthalten war, gleich zwei Grammys mit nach Hause nehmen durfte.
“Distant Relatives” ist ein Gemeinschaftsalbum von zwei Musikern, die es ernst meinen: Beide wollten unbedingt zu den gemeinsamen Wurzeln von Reggae und HipHop vordringen. Was ihnen auch gelungen ist: Sie haben diese Wurzeln bis nach Afrika zurückverfolgt, in die Wiege der Menschheit also, wo auch diejenige Musik geboren wurde, die bis heute in aller Welt die Menschen zum Tanzen bringt.
Und wer bitte wäre für eine derartige Mission besser geeignet als diese beiden Herrschaften? Immerhin hat sich Damian “Jr. Gong” Marley, seines Zeichens jüngster Sohn von Bob Marley, schon längst einen Platz in den Annalen der Musikgeschichte gesichert, als es ihm nämlich gelang, als erster Reggae-Musiker einen Grammy-Award in einer vollkommen anderen Sparte zu gewinnen: Für seine Single “Welcome To Jamrock” konnte er 2005 den renommierten Preis in der Kategorie “Best Urban/Alternative” mit nach Hause nehmen, während sein gleichnamiges Hit-Album schließlich auch noch die Auszeichnung für das “Best Reggae Album” bekam. Seit der US-Rolling Stone ihn vor einigen Jahren auf die Liste der “Top 10 new artists to watch” genommen hat, konnte er einen Hit nach dem anderen landen und war so gut wie pausenlos in aller Welt auf Tour.
Ähnliches gilt bekanntermaßen für Nas, wobei dessen Erfolgsgeschichte schon deutlich früher beginnt: Seit er sich 1991 mit seinem ersten Gastauftritt auf dem Track “Live At The Barbeque” von Main Source einen Namen machte, hat der Rapper aus dem berüchtigten Queensbridge-Ghetto die HipHop-Welt wiederholt mit seinem Flow aus den Angeln gehoben. Schon 1992 wurde sein Song “Halftime” international bekannt, als er im Film „Zebrahead“ zu hören war. Mit “Illmatic” erschien zwei Jahre später sein gefeiertes Debütalbum, das seither zu den absoluten Sternstunden des HipHop zählt. Der Sohn des Jazztrompeters Olu Dara hat seither acht weitere Soloalben und drei Compilations veröffentlicht, 11 Grammy-Nominierungen erhalten und weltweit über 20 Millionen Alben verkauft, wodurch er seit geraumer Zeit zu den wichtigsten Vertretern des oftmals totgesagten Rap-Genres gerechnet wird. Genau genommen war er es, der den HipHop immer wieder gerettet hat.
“Als wir mit den Aufnahmen begannen, zerbrach ich mir den Kopf darüber, welche Richtung wir wohl einschlagen sollten”, erklärte Nas vor kurzem bei einem Interview im Grammy-Museum. “Schließlich gehört das ja so oder so alles zusammen: Rap und Reggae. Aber dann kam eins zum anderen und die Sache nahm langsam aber sicher klare Konturen an. Wir hatten unterschiedliche Ideen und Ansätze, allerdings gab es eines Konstante: Irgendwie ging es immer um Mitspracherecht und um Machtverhältnisse. Schon der Titel ‘Distant Relatives’ zeigt, dass es uns um die gesamte Menschheit und deren Entwicklung geht.”
Was den Sound des Longplayers betrifft, kombinieren die beiden Live-Elemente mit Studioproduktionen, die Damian gemeinsam mit seinem älteren Bruder Stephen Marley beigesteuert hat – Stephen hat übrigens als Produzent ebenfalls schon den einen oder anderen Preis absahnen können. Dazu gibt es Albumgäste, die zeigen, wie groß das Netzwerk der HipHop-Diaspora doch ist: Rap-Superstar Lil Wayne aus New Orleans ist genauso mit von der Partie wie der in Somalia geborene und in Kanada aufgewachsene Überflieger K’naan.
“Es sollte weder nach meinem typischen Sound klingen, noch nach dem, was man von Nas kennt”, kommentierte Damian Marley. “Wir mussten vielmehr eine Mischung finden, die deutlich macht, wie eng die beiden Genres doch miteinander verwandt sind. Natürlich sollte man schon erkennen, dass wir beide diese Scheibe aufgenommen haben. Und ich muss sagen, dass ich extrem viel Spaß bei der Arbeit hatte. Was auch daran liegt, dass wir wirklich zusammen in der Aufnahmekabine standen. Denn gerade als Texter und Sänger ist es so, dass ein Messer das andere schärft. Man gibt automatisch alles, wenn da noch ein zweiter Mann mit einem in der Kabine ist. So gesehen habe ich auch viel aus der Arbeit lernen können.” Lernen ist überhaupt ein zentrales Wort, wenn man von “Distant Relatives” spricht: Denn gerade die jüngeren Zuhörer werden gewiss die eine oder andere Sache über kulturelle Zusammenhänge und die Geschichte von Afrika, Amerika und der Karibikregion lernen können. Nur haben sich derartige Geschichts-“Lessons” noch nie so ausgelassen und tanzbar angehört.
“Oh ja, was da noch alles kommt, wird unfassbar viel Spaß machen”, sagt Nas abschließend. “Ich glaube, man sollte immer Spaß dabei haben, wenn man Menschen hilft oder ihnen etwas vermitteln möchte. Wenn ich jedoch daran denke, was wir noch alles mit diesem Album vorhaben, dann fällt mir auf, dass dem eigentlich keine Grenzen gesteckt sind. Das hier ist erst der Anfang.”