Einer Musikerin, die eben noch über literarische Meilensteine aus der Zeit des Postkolonialismus diskutiert und quasi im gleichen Atemzug und mit demselben Enthusiasmus ihre Bewunderung für ganz, ganz frühe Kylie-Minogue-Hits aus der guten alten Pete Waterman Entertainment-Hitschmiede zum Ausdruck bringt, begegnet man gewiss nicht alle Tage. Jedoch kommt es auch nicht alle Tage vor, dass sich eine Musikerin dermaßen vom Einheitsbrei der Popwelt abhebt und dabei einfach nur ehrlich und unverfälscht klingt. Willkommen in der Welt von Nerina Pallot.
Aufmerksame Radiohörer werden ihren Namen wahrscheinlich schon gehört haben, schließlich hat sie im letzten Jahrzehnt immer mal wieder mit den Charts in England und anderswo geflirtet und ist auch in Deutschland hin und wieder aufgetreten; zuletzt landete sie indirekt in den Charts als Songschreiberin für die bereits erwähnte Miss Minogue. Doch all das ist nur ein Teil der Geschichte – eine Tatsache, die sie entschieden mit ihrem neuen Album “Year Of The Wolf” klarstellt.
Vereinfacht ausgedrückt, ist ihr neues Album, das sie komplett mit der Britpop- und Studiolegende Bernard Butler produziert und aufgenommen hat, die Summe all ihrer Stärken und all jener Erfahrungen, die Nerina Pallot im Laufe der Jahre sammeln durfte. “Year Of The Wolf” deckt deshalb auch das gesamte Spektrum ab – von ihrem ausgeprägten Hang zu euphorischen Popsongs mit gewaltigen Refrains (siehe ihre erste Single “Put Your Hands Up”) bis hin zu schwärmerischen und bewegenden Balladen wie “History Boys”. Damit schlägt sie eine Brücke zwischen Pop und großer, gewichtiger Klangkunst – ein Brückenschlag, mit dem sie ihre Fans schon des Öfteren verblüfft hat.
“Die Sache ist, dass ich nun mal all diese Dinge in mir trage”, berichtet Nerina. “Ich kann die Leute einfach nicht verstehen, die mit Pop nichts zu tun haben wollen, denn ich weiß nur zu genau, wie schwierig es ist, einen guten Popsong zu komponieren. Da muss man sich doch nur den Hintergrundgesang bei einem x-beliebigen ABBA-Song anhören – die sind so komplex und so großartig. Das nenne ich grandiosen Pop.”
Typisch für sie ist beispielsweise, dass der muntere Popsound von “Put Your Hands Up” in krassem Kontrast zum Songtext steht: “Ich hatte da gerade Wide Sargasso Sea gelesen, den Vorgänger von Jane Eyre. Das ist ein ziemlich kaputtes Buch: nur Voodoo-Zeug und zwanghafte Liebesbeziehungen, darüber wollte ich unbedingt einen Song schreiben. Denn genau genommen hasse ich das ganze Zeug von Charlotte Brontë und Jane Austen – ich wünschte, die Frauen würden diese Bücher endlich mal von ihrer Leseliste streichen! In Wirklichkeit wird bestimmt kein Mr. Darcy auf einem Scheißpferd vor die Haustür geritten kommen und alle retten!”
Die Arbeit mit Butler bedeutete für Nerina, dass sie bestehende Regeln komplett über den Haufen werfen musste: “Ich habe Bernard schon immer bewundert. Die LP The Sound of McAlmont & Butler habe ich geliebt“, so ihr Kommentar. „Bevor ich mich an die Arbeit machte, habe ich mich lange hingesetzt und erst einmal darüber nachgedacht, was bei meinen älteren Aufnahmen eigentlich fehlte. Dass ich nie genügend auf den Groove geachtet hatte, das wurde mir schon während der Arbeit an Kylies Album klar. Und die Gitarre war auch zu sehr im Hintergrund gewesen. Bernard hat mir dann dabei geholfen, diese beiden Faktoren mehr ins Zentrum zu rücken.”
Und wie ihm das gelungen ist: “Turn Me On Again” zischt mit massivem Nachdruck an einem vorbei (ihr knapper Kommentar dazu: “Die Leute interpretieren doch viel zu viel rein in die Popmusik: guter Pop sollte dreieinhalb Minuten dauern und von Sex handeln”), während ihr mit dem autobiografischen “I Think” gelingt, Marschtrommeln und Pausenhofgesänge mit dem lässigen Refrain “Don’t give me your shit” zu kombinieren, und zwar dermaßen charmant, dass einem schwindelig wird.
Nerina Pallot entdeckte ihre Liebe zur Musik schon sehr früh, nachdem ihre Eltern von einer Auktion mit einem Klavier zurückgekehrt waren, für das sie £30 ausgegeben hatten. Mit 13 komponierte sie ihre ersten eigenen Songs, wenngleich das alles noch stark nach ihren frühen Helden klang – Kate Bush und Elton John. Doch ihr Leben in den Neunzigern, als Teenager auf der Kanalinsel Jersey, fühlte sich kein bisschen nach Musikkarriere an und sah auch nicht danach aus: Sie schickte ihre Demoaufnahmen regelmäßig nach London, doch musste sie die Tapes wenig später immer wieder bedrückt aus dem eigenen Briefkasten fischen; dann schaute sie sich andere Bands an und dachte, “dass ich das auch könnte, aber ich hatte ja damals eine Spange und überhaupt war ich ein Mädchen und die hätten mich da niemals mitmachen lassen.”
Da ihre Mutter, immerhin selbst eine Jazzsängerin in den Siebzigern, sie dazu ermutigte, sich zu bewerben, ergatterte Nerina dann doch noch ein Musikstipendium und verließ die kleine Kanalinsel, um es in der großen weiten Welt zu versuchen.
Die Geschichte von Nerina Pallot kann man unterschiedlich lesen: entweder als Paradebeispiel dafür, wie hartnäckig man sein muss, um im Popgeschäft einen Fuß in die Tür zu bekommen, oder aber als logische Konsequenz, als einzige Möglichkeit sozusagen, die ihr noch blieb: “Ich war halt nicht so dolle in allen anderen Bereichen”, erzählt sie mit einem Achselzucken. Wie dem auch sei, fest steht, dass sie mit Mitte zwanzig einen Vertrag mit einem Majorlabel unterzeichnet und ihr Debüt mit dem Titel Dear Frustrated Superstar veröffentlicht hatte, das zwar von den Kritikern abgefeiert wurde, sich aber trotzdem nicht so recht aus den Regalen bewegen wollte. Also versuchte sie auch in den Jahren danach, nervtötende Jobs, Anflüge von Depressionen und endlos lange Songwriter-Sessions bis in die frühen Morgenstunden irgendwie unter einen Hut zu kriegen, und nahm schließlich doch wieder eine Hypothek auf, um ihr zweites Album Fires selbst zu finanzieren. Ein Schritt, der sich rentieren sollte: Ihr Name tauchte in den Airplay-Charts auf, das Album verkaufte sich über 10.000 Mal, und das, obwohl sie es auf ihrem eigenen Indie-Label veröffentlicht hatte (ein Schritt, für den sie sich auf das Buch The Manual von KLF beruft, jenes legendäre Handbuch für schnellen Erfolg in der Musikbranche). Danach unterzeichnete sie bei Warner und landete mit dem Song “Everybody’s Gone To War” erstmals sogar in den Top−20 der UK-Charts und auf Platz 17 (Jugend 4, Mainstream 3) der deutschen Airplaycharts, spielte viele Konzerte und trat sogar im Rahmen des SWR3 New Pop Festivals auf.
Ihre jüngst verbuchten Erfolge als Auftragssongschreiberin haben, so Nerina, eher etwas von einem glücklichen Zufall, einen Masterplan habe sie damit sicher nicht verfolgt. “Ihrem A&R gefiel ein Song, den ich aufgenommen hatte, und der meldete sich dann, weil er ihn für Kylie haben wollte. Ein paar Monate später stand sie dann auch schon in unserem Studio, das im miesesten Teil von London liegt, und dann haben wir gemeinsam Songs für ihr ‘Aphrodite’-Album aufgenommen. Ich hab ihr allerdings nicht erzählt, dass ich all ihre alten LPs besitze; dann hätte ich mich zu sehr wie eine Stalkerin gefühlt.”
Auch wenn sie es selbst nie zugeben würde (die meisten Musiker längst das Handtuch geworfen), kann man durchaus sagen, dass Nerina Pallot mit der Fertigstellung ihres neuen Albums einen weiteren Karrierehöhepunkt erreicht hat. Auch privat kam das Glück vollkommen überraschend, als sie vor ein paar Jahren von ihrem heutigen Ehemann, dem Produzenten Andy Chatterley, über einen gemeinsamen Bekannten kontaktiert wurde, nachdem Chatterly sie im Fernsehen gesehen hatte. (Inzwischen haben die beiden einen gemeinsamen Sohn, den kleinen Wolfgang – übrigens auch der “Wolf” im Albumtitel.) “Ja, ich weiß, dass es voll bescheuert klingt, aber als ich ihn zum ersten Mal am U-Bahnhof Wapping sah, stand für mich fest: ‘Diesen Mann werde ich heiraten.’ Eine halbe Stunde später saßen wir in einer Kneipe und er machte mir einen Antrag. Die Hochzeit fand dann sechs Wochen später statt, es war Valentinstag.”
Ein Großteil der Songs von Year Of The Wolf entstand während ihrer Schwangerschaft im vergangenen Jahr; und selbst wenn sie darüber nicht so gerne spricht (“Es gibt so viele Frauen, die so tun, als wären sie die ersten Menschen auf diesem Planeten, die ein Kind bekommen – und das ist so unfassbar langweilig”), scheint es so, als habe diese Erfahrung ein ganz neues kreatives Potenzial in ihr geweckt. Insbesondere der eindringliche Track “History Boys” hat einen Tiefgang, den man auf ihren früheren Aufnahmen allenfalls erahnen konnte.
“Da hatte ich gerade erst erfahren, dass ich schwanger war, als ich den Song geschrieben habe, und ich wusste sofort, dass es ein Junge sein würde. In derselben Woche wurde Tony Blair wieder zum Irak-Einsatz befragt, und sie zeigten all diese Frauen im Fernsehen, die ihre Söhne im Krieg verloren hatten. Ich hatte einfach so viel Mitgefühl für sie, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Den eigentlichen Song schrieb ich dann erst gegen drei Uhr in der Früh. Er bedeutet mir auch wahnsinnig viel.”
Im Laufe der Jahre hat Nerina, fast schon still und heimlich, eine sehr loyale Fanbase um sich versammelt und etliche Kollegen ihrer Zunft für sich begeistern können. Sie wurde bereits bei den BRITs und den Ivor Novello Awards nominiert und durfte auch schon die schrägeren Aspekte des Lebens als Gelegenheitspopstar kennen lernen (so konnte sie z.B. vor laufender TV-Kamera zu Russell Brand sagen, dass sie gerne Katzenfutter nascht). Inzwischen hat die 37-Jährige wieder einen Vertrag mit Polydor abgeschlossen und meldet sich mit dem eindrucksvollsten Album ihrer Karriere zurück: “Year Of The Wolf” garantiert ihr schon jetzt ein noch größeres Jahr 2012.
“Nun, ich hoffe mal, dass die LP den Leuten gefällt”, sagt sie abschließend mit einem Lächeln. “Man gibt einfach alles, wenn man so ein Album aufnimmt, und dann weiß man hinterher trotzdem nicht, ob die Platte nun auf Platz 1 oder auf Platz 100 landen wird – das kann keiner im Vorfeld sagen. Man darf sich darüber auch gar nicht den Kopf zerbrechen, die Musik muss einfach nur so ehrlich und echt sein wie möglich.”