Die Annalen des Rock’n’roll sind dermaßen vollgestopft mit Mythen, fingierten Einträgen und abwegigen Anekdoten, dass es sich kaum vermeiden lässt, hin und wieder das ganz große, ja, vor allem das echte Ding vor sich zu haben, dieses aber – ganz wie den sprichwörtlichen Wald – vor lauter Bäumen nicht als solches zu erkennen.
Noel Gallaghers Erinnerungen an seinen ersten Auftritt beim legendären Glastonbury Festival, inzwischen 13 Jahre her, sind episodisch und sehr persönlich – eher wie einzelne Szenen aus einem Film, in dem er ganz beiläufig gelandet ist. Da tauchen zum Beispiel Fetzen auf wie die nicht ganz planmäßige Übernahme eines Backstage-Wohnwagens, und zwar von exakt derjenigen Band, für die er zuvor als Roadie gearbeitet hatte, und gleich darauf erinnert er sich daran, wie er nach dem Gig von der Bühne kam und ihm als erstes berichtet wurde, dass die zweite in Großbritannien veröffentlichte Single von Oasis, „Shakermaker“, an jenem Tag bis auf den elften Platz der Charts geklettert war; dann fällt ihm ein, wie ein Mitarbeiter von Creation Records seine Enttäuschung darüber nicht länger verbergen konnte, schließlich bedeutete ein elfter Platz nun mal nicht die Top Ten, während die Band selbst, deren Mitglieder soeben zum ersten Mal erlebt hatten, wie es sich anfühlt, seine eigene Musik in ein überdimensionales Meer aus Menschen zu feuern, den gesamten Raum bis zum Horizont zu füllen, völlig aus dem Häuschen war – schließlich wussten sie nun, dass für sie keine Bühne zu groß war. Noel erinnert sich an ein wundersames Gefühl, eine Vorahnung, die besagte, dass sich die kollektiven Träume der Band schon sehr bald erfüllen würden. Oasis waren die Anführer einer neuen Generation britischer Gitarrenbands, einer Generation, die aus der Asche der einheimischen Dance-Kultur, gepaart mit US-amerikanischen Grunge-Einflüssen, hervorgingen. Doch hatten diese jungen Bands ihr Augenmerk stets auch auf den Mainstream gerichtet, ein Ding, das wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre. 60.000 Menschen hatten diesen ersten Auftritt in Glastonbury am eigenen Leib erlebt, und sie erzählten einer Million anderen davon, vom ultimativen Kick, den sie gespürt hatten: ausgelöst von einer Band, die es schaffte, zur Essenz des Rock’n’roll vorzudringen, die diesen klanglichen Kern gefiltert und veredelt hatte, bis er in all seiner zotteligen Perfektion zum Vorschein kam – und greifbar wurde. Sie hatten eine Band erlebt, deren Sound – damals wie heute! – so unglaublich viel mehr war als die Summe seiner Teile. Als wir uns vom Acker machten, wussten wir alle, dass wir etwas ganz Großes miterlebt hatten – und die Bands, die nach Oasis auftreten sollten, hätten eigentlich auch gleich hinter der Bühne bleiben können.
Spricht man heute mit den Gallagher-Brüdern darüber, wie es überhaupt zu dem besagten Auftritt in Glastonbury kam, kriegt man keine weitschweifig-romantisierten Anekdoten zu hören, denn selbst wenn ihre Geschichte auf den ersten Blick vielleicht wie ein Märchen klingt, ging es doch alles ganz anders los. Man muss sich gar nicht weit ins Delta vorwagen, um die klassischen Ursprünge des Rock wiederzuerkennen.
Einzelheiten ihrer Kindheit und Jugend im nicht gerade idyllischen Stadtteil Burnage in Manchester sind zur Genüge belegt, doch glücklicherweise gab es auch positive Dinge zu verzeichnen: Die alte Gitarre zum Beispiel, die ihr Vater eines Tages nach Hause brachte – und mit der sich Noel etliche Nachmittage versüßen sollte –, wie auch die Wochenendausflüge ins Maine Road-Stadion, um die Heimspiele von Manchester City zu verfolgen. Jedoch war die in der Ferne sichtbare Jagd nach dem runden Leder für die beiden weitaus weniger wichtig, als die Ränge, auf denen Unmengen von Leuten zusammen sangen – ein Anblick und eine Klangkulisse, die man sonst nirgends bekam, und auch heute nur dort erleben kann. Dazu kam, dass das, was diese Leute sangen, durch und durch erhebend war. Noel war drei Tage vor der Veröffentlichung des Sergeant Pepper-Albums der Beatles zur Welt gekommen, und doch erlebte er im Stadion seine eigentliche musikalische Initiation; dort nahm er ihr volles Potenzial zum ersten Mal wahr – und vielleicht ist es ja doch kein Zufall, dass Stücke wie „Don’t Look Back in Anger“ und „Champagne Supernova“ erst in einem Stadion ihre volle Wirkungskraft entfalten, ja, dass Oasis eine der wenigen Bands sind, die man sogar lieber in einem derartig riesigen Station sehen würde, als in einem kleinen überhitzten Club. Oder eben doch nicht, das gibt es natürlich auch. Doch denjenigen Kritikern, die das Werk von Oasis als populistisch abtun, entgeht das zentrale Gefühl, das bei jedem einzelnen Song mitschwingt: Es ist eine ewige Sehnsucht, die jeder Melodie eingeschrieben ist.
Insofern kann man auch sagen, dass die einzelnen Songs, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise, stets von Transzendenz handeln – und man könnte vielleicht sogar behaupten, dass wir es hier mit einer Form von englischer Soul-Musik zu tun haben… was zugleich erklären würde, warum das Verhältnis zwischen der Band und ihren Fans so unglaublich innig ist, warum ihr Hörerkreis nicht nur konstant groß bleibt und wächst, sondern sich auch andauernd erneuert, ganz egal was für Trends sonst so kursieren.
Es war Liam, der die Band gründete. Noel hatte noch nie in einer Gruppe gespielt, bis er dann eines Tages von seinem Job als Roadie für die Inspiral Carpets zurückkam und es schon kurze Zeit später vollbrachte, die anderen vier Mitglieder der ursprünglichen Besetzung zu überzeugen, dass er doch als fünfter Mann mitmachen müsste. Liam scheint der geborene Rockstar zu sein – seine Mutter erzählt beispielsweise Anekdoten, in denen Liam vergessene Textstellen in einem Krippenspiel durch spontane Elvis-Einlagen überspielt! –, während Noel eigentlich nur an einen Job als Bauunternehmer dachte, ganz wie der Vater. Keiner seiner Freunde war wirklich musikbegeistert, doch ein Konzert von The Smiths im Jahr 1984 sollte seine Welt aus den Angeln heben, während Liam nach den legendären ersten Manchester-Gigs der Stone Roses ähnlich angefixt war – womit zugleich der Grundstein für ihre spätere gemeinsame Karriere gelegt war.
Aus unklaren Gründen stellen sich viele den Durchbruch von Oasis als sehr plötzlich und vor allem reibungslos vor, als einen Spaziergang, doch so war es nicht: Die erste Rezension im britischen New Musical Express war eher unverbindlich, die zweite fast schon vernichtend. Trotzdem hatte keiner dieser Kritiker ein Problem damit, in Definitely Maybe, ihrem glühend heißen Debüt, im Handumdrehen einen absoluten Klassiker zu erkennen. Das unwillkürliche Thema der LP war der geteilte Traum, demjenigen Leben zu entkommen, in das sie hineingeboren worden waren. Und während ein Song wie „Rock’n’Roll Star“, mit einem Refrain, in dem lautstark „Tonight… I’m a rock ‘n’ roll star!“ verkündet wird, vielleicht auf den ersten Blick sogar etwas weltfremd wirken konnte, ging es in dem Song letztendlich gar nicht darum, ein Rockstar zu sein, sondern nur darum, wie man es schafft, sich trotzdem wie einer zu fühlen. Es ging vielmehr um das flüchtige Gefühl der Unsterblichkeit, das einen überkommt, wenn man als 18-Jähriger in eine Bar stolpert und genau weiß, dass man gut aussieht, sich gut fühlt, man, in einem Wort, der Inbegriff der Lebendigkeit ist; was natürlich auch bedeutet, dass man sehr wohl weiß, dass das Leben einem niemals mehr bieten wird als in diesem einen Moment. Diese heikle Gefühlslage, diesen gespaltenen Jugend-Kick, hat kein anderer Musiker besser eingefangen als Noel, während Liam die ständige Verkörperung dieses Gefühls zu sein scheint. Die in sechs Silben aufgebrochene Aussprache des Worts „Imagination“, gleich am Anfang von „Cigarettes & Alcohol“, macht diese Zeile zum mit Abstand größten musikalischen Moment der Neunziger.
Sämtliche Entwicklungen, die darauf folgten, basierten auf diesem ekstatischen Fundament, auf diesen ersten großen Momenten: Das zweite Album, (What’s The Story) Morning Glory?, ging völlig durch die Decke, als „Wonderwall“ im Jahr 1995 zu einer weltweiten Hymne avancierte und Oasis sich zu einem Ausnahmephänomen in Großbritannien entwickelten – daran kann sich ohne Zweifel noch jeder erinnern. Im Königreich fanden die legendären Maine Road- und Knebworth-Megakonzerte statt; dann gab’s die Fehde zwischen den Brüdern und Liams argwöhnisches und doch ausgelassenes Verhalten zu einer Zeit, in der London so sehr unter Strom stand, wie es seit den Sechzigern nicht mehr der Fall gewesen war.
Und dann kam der Wahnsinn, der mit der Veröffentlichung ihres dritten Albums, Be Here Now, im Jahr 1997 einherging: ein Ausnahmezustand, wie man ihn im Inselstaat zuletzt in Form der „Beatlemania“ hatte erleben können – und zugleich ein Hype, dem natürlich kein Album der Welt gewachsen ist. Lässt man die spätere Einschätzung der Band außer Acht, wonach das Album voreilig erschienen ist, kann man heute, mit dem nötigen Abstand, doch eine Reihe von positiven Überraschungen darin erkennen: Denn es scheint immerhin die perfekte Beschreibung jener Zeit zu sein – der Siegeszug der Labour-Partei, Dianas Tod und die zunehmende Beliebtheit von Kokain in den Straßen Englands, was zusammen gedacht genau den Niedergang nach der Jahrtausendwende einleitete; wie auch ein omnipräsentes Gefühl der Orientierungslosigkeit, das später auch auf Standing on the Shoulder of Giants zum Ausdruck kam, jenem Album, das kurz vor dem unerwarteten Ausstieg von Bonehead und Guigs erschien. Zugleich war es die Phase des Wiederaufbaus: die Band musste sich neu strukturieren, und auch die Brüder hatten einige Dinge in ihren Leben gerade zu rücken – was derweil auch als Nachrichten von nationaler Wichtigkeit behandelt wurde, denn in gewisser Weise war es ja auch so: alle sahen hin –, bis sie mit Heathen Chemistry im Jahr 2002 ihr nächstes Werk vorlegten, die beste Ansammlung von Songs seit Morning Glory. Inzwischen waren mit Gem Archer und Andy Bell zwei neue Mitstreiter dabei, was für ordentlich frischen Wind sorgte.
Am auffälligsten an der bisherigen Bandgeschichte ist, dass die weltweite Zahl der Konzertgänger kontinuierlich gewachsen ist, was vielleicht daran liegt, dass die Höhen und Tiefen in der gemeinsamen Karriere der Gallagher-Brüder scheinbar indirekt das widerspiegeln, was auch wir alltäglich erleben. Während wir das Gefühl haben, dass sie Teil unserer Geschichte sind, so fühlen wir uns im Gegenzug auch als Teil ihrer Geschichte – und so hat Noel Gallagher die vielleicht bezeichnendste Aussage über die Band getroffen, als er gefragt wurde, warum die Bühnenshow denn nach wie vor relativ unspektakulär ist: „Wenn man den Akzent nicht so sehr auf die große Action-Show setzt“, so seine Antwort, „dann wird sich das Publikum automatisch mehr auf die Musik einlassen und sich mehr einbringen.“
Nunmehr hat es den Anschein, dass gerade ein neuer Abschnitt begonnen hat. Der zweite Abschnitt ihrer Karriere. Don’t Believe The Truth, ihr letztes Album aus dem Jahr 2005, zu Recht als Rückkehr zur alten Größe gefeiert, unterscheidet sich von den Vorgängern schon darin, dass nun die gesamte Band am Songwriting-Prozess beteiligt ist. Liam wächst nach wie vor als Songschreiber über sich hinaus, während Gem Archer und Andy Bell erstmalig mit wichtigen Beiträgen in Erscheinung treten und es zunehmend schwieriger wird, sich vorzustellen, wie die Band eigentlich ohne die beiden existieren konnte. Unterdessen scheinen Noels Melodien noch stärker als je zuvor mit der Welt verknüpft zu sein, ja, bisweilen wirken sie fast schon wie verschrobene Protestsongs gegen das zerklüftete Informationszeitalter. Wohin die Reise letztendlich gehen wird, kann man natürlich noch nicht sagen, doch diejenigen, die eines der Konzerte ihrer 2005/2006 absolvierten Welttournee erleben durften, werden bestätigen, dass Oasis heute mindestens so frisch und eindringlich klingen wie 1994 – und in sämtlichen Jahren dazwischen.
— Andrew Smith