Oh Wonder | Biografie

Oh Wonder – Ultralife – 2017

Wenn man bedenkt, dass heutzutage die meisten Karrieren im Popsektor auf perfekter Planung basieren und wenig bis gar nichts dem Zufall überlassen wird, sind Oh Wonder ein echtes Ausnahmephänomen: Diese beiden Musiker nämlich haben ganz zufällig zueinandergefunden. Auch hatte das Duo ursprünglich gar nicht vor, live zu spielen – dabei waren sie gerade erst über ein ganzes Jahr lang unterwegs um den Globus. Von einem Vertrag mit einem großen Label ganz zu schweigen – schließlich stand für sie doch immer fest, dass das alles nur ein klitzekleines DIY-Projekt sein würde.
Und nun starten sie richtig: Mit “Ultralife” – ihrem grandiosen zweiten Album, wobei man genauso gut von ihrem richtigen Debüt sprechen kann. Schließlich bestand der gleichnamige Vorgänger, der Ende 2015 erschienen ist, aus jenen Songs, die das Duo aus London zuvor nach und nach ins Netz gestellt hatte – immer schön ein neuer Song pro Monat. Doch bereits damit hatten sie Millionen von Zuhörern erreicht, weshalb Josephine Vander Gucht und Anthony West plötzlich Popstars wider Willen waren.
“Wir haben dieses Projekt ja nie so wirklich angeschoben”, sagt Josephine rückblickend. “Im Gegenteil hatten wir das Gefühl, dass wir eher davon mitgerissen werden. Ursprünglich hatten wir unsere ersten Songs schließlich nur deshalb bei Soundcloud hochgeladen, um sie als Songwriter anderen Künstlern zu präsentieren. Aber was dann passiert ist, hat uns wirklich komplett überrascht: Quasi vom ersten Tag an gab es da diese Verbindung zwischen uns und den Fans. Dabei hatten wir beide ja schon vorher Musik auf andere Art veröffentlicht – aber noch nie so schnell damit irgendwen erreicht. Damals waren wir ja noch anonym unterwegs. Noch nicht mal unsere Freunde wussten, was wir da eigentlich machten.”
Josephine, die eine klassische Klavier- und Geigenausbildung genossen hat, wollte gerade eine Karriere in Richtung Jura einschlagen, als sie Anthony in einem Studio in South London kennenlernte. Einst Mitglied einer Rockband und nun Produzent, machte er ihr das Angebot, ein paar ihrer Songs zu produzieren – doch als sie dann gemeinsam loslegten, passte das alles sogar noch viel besser zusammen. Um es in Anthonys Worten zu sagen: “Zwei Sterne seien da miteinander kollidiert.”
Sein Händchen für Arrangements und Produktionen – allein: niemand Geringeres als der legendäre Gil Norton hatte ihm das Produzieren nahegelegt – war das perfekte Gegenstück zu ihrem Ansatz als Songwriterin, ihrem klassisch geprägten Musikverständnis. Mehr noch: Zusammen hatten ihre Gesangsstimmen etwas Fesselndes. Und auch das Schreiben der Texte ging zu zweit so viel besser als auf eigene Faust.
Und so kam es, dass sie schon nach drei Monaten ihres “Ein neues Stück pro Monat”-Selbstversuchs eine internationale Fanbase hatten, die am 1. wirklich gebannt auf neues Material wartete. Und lawinenartig ging’s weiter, denn dann klingelten die Labels an, allerdings unterschreiben wollten Oh Wonder vorerst nichts. Man muss sich das fast schon auf der Zunge zergehen lassen: Erst als ein paar ihrer Songs Playzahlen im zweistelligen Millionenbereich verzeichneten (!), gestanden die beiden sich und dem Rest der Welt ein, dass sie eine “richtige” Band waren.  
Und erst als sie 15 Tracks im Alleingang als Album veröffentlicht hatten, beugten sich Oh Wonder ein weiteres Mal dem Druck der Fans – als sie immerhin die ersten vier Live-Shows ihrer Karriere ankündigten: In London, Paris, New York und L.A. Mehr war nicht geplant, schließlich wollten sie danach gleich wieder zurück in jenes Studio, das sie sich am hinteren Ende im Garten von Josephines Elternhaus gebaut hatten. Doch dann waren alle vier Konzerte binnen einer Woche ausverkauft, also legten sie nach – und tourten richtig: Hinterher hatten sie die Staaten gleich mehrfach durchkreuzt und hatten nebenbei auch in Südamerika, Australien, Russland und Fernost gespielt. 14 Monate waren’s: 162 Shows, 112 Städte. Und sage und schreibe 83.000 verkaufte Tickets.
Sogar noch mehr passierte unterwegs, denn ihre Songs verselbständigten sich und tauchten in etlichen Serien als Soundtrack auf: Bei “Scream”, “Elementary”, “Made In Chelsea” genauso wie bei “Catfish – Verliebte im Netz”, “Coronation Street” oder auch im Film “Collide”. Der verträumte Track “Drive” war im Piloten zur BBC-Hitserie “Doctor Foster” zu hören. Und “All We Do” war einfach die perfekte (geisterhafte) Titelmusik für die Detektiv-Serie “Unforgotten”.
“Diese Band hat uns einfach mal gezeigt, was für eine Kraft Musik haben kann”, meint Josephine. “Sie hat uns so unvorstellbar viele Möglichkeiten beschert und uns an Orte transportiert, an die wir früher nicht mal im Traum gedacht hätten. Wir bekommen Nachrichten von unseren Fans, in denen sie uns mitteilen, wie sehr unsere Musik ihnen dabei geholfen hat, ihr Leben zu verändern. Dass nichts davon geplant war, macht’s dabei nur noch umwerfender.”
Manchmal kann es eben doch so kommen, dass aus dem ewigen Underdog das nächste große Ding wird. Geschrieben in New York und London, von ihnen beiden komplett selbst produziert und abgemischt, nimmt “Ultralife” die Essenz des experimentellen Erstlings – die hypnotischen Paargesänge, die ungeschönt-emotionalen Texte, das Ätherisch-Schöne – und geht noch weiter und tiefer: Dank des Gewichts, das ein größerer Erfahrungsschatz mit sich bringt, des größeren Selbstvertrauens nach den ersten Erfolgen, der Stimmigkeit und Schlüssigkeit, die entsteht, wenn man ein Album wirklich plant, als Ganzes denkt.
“Ja beim letzten Album hatten wir ja überhaupt keinen Plan, was wir da überhaupt gerade machten”, lacht Anthony. “Wir hatten ja nicht mal einen bestimmten Sound im Sinn. Wir haben jeden Aspekt von Oh Wonder durchs Ausprobieren gelernt: Wie unsere Stimmen zusammen funktionieren, wie man diese Songs live präsentiert… und was toll war an den Aufnahmen zum zweiten Album, ist, dass wir nun die ganzen Sachen, die wir da gelernt hatten, perfekt anwenden konnten.”
Der strahlende Albumvorbote, zugleich Titelstück von “Ultralife”, bringt schon sehr gut auf den Punkt, was den aktuellen Sound von Oh Wonder ausmacht: Ganz klar der schnellste Song ihrer bisherigen Laufbahn, könnte die Mischung aus Piano und Beats nicht euphorischer und verführerischer sein – was die Single zum perfekten Frühsommer-Soundtrack macht. “Was wir während der Arbeit an dem Album jedoch gar nicht bemerkt haben”, holt Josephine aus, “ist der rote Faden, der Erzählbogen: Es geht nämlich darum, andere Menschen zu brauchen – aber eben auch Zeit für sich selbst zu brauchen.” “Solo”, der Eröffnungstitel, handelt von dieser Freiheit: Es ist eine Ode ans Alleinsein und die damit verbundenen Freiräume. Der abschließende Titel “Waste” hingegen handelt davon, wie sinnlos sich das Leben anfühlt, wenn man niemanden hat, mit dem man seine Erfahrungen teilen kann. “Beide Songs sind schon ziemlich früh entstanden, als wir uns direkt im Anschluss an eine Tour für einen Monat eine Airbnb-Wohnung in Brooklyn genommen haben. Wir hatten da bloß ein Klavier. Und im Verlauf des Albums füllen wir gewissermaßen die Lücke zwischen diesen beiden Extremen.”
"Auf Tour zu sein hat etwas unglaublich Vereinsamendes: Da kommt es vor, dass du in einem Raum mit 3.000 Menschen stehst, die deinen Namen rufen – und du dich trotzdem einsam fühlst. Pervers eigentlich. Man vermisst seine Freunde, seine Familie, aber zugleich sehnt man sich auch nach einer Auszeit, um sich wieder aufzubauen. “Ultralife ist der Versuch, eine Balance zwischen diesen Polen zu finden."
"Ein wichtiger Einfluss für dieses Album war Jon Krakauers Buch “Into The Wild, gibt Anthony zu bedenken. "Wer’s nicht kennt: Das basiert auf einer wahren Geschichte und erzählt von einem Vorstädter, der eigentlich nach Harvard gehen sollte, dann aber dem Druck der Gesellschaft entflieht – indem er einfach in die Wildnis geht. Bevor er schließlich in Alaska ums Leben kommt, kratzt er die folgenden Worte in eine Felswand: “Glück ist nur dann wirklich, wenn man es mit anderen teilt. Er sieht also ein, dass das Leben in der Einsamkeit nicht vollwertig ist. Wir beide haben das Buch gelesen, und nachdem wir dann ein ganzes Jahr auf Tour waren, konnten wir ganz neue Parallelen darin entdecken.”
 
Während der wenigen Monate, in denen Oh Wonder ihr neues Album geschrieben haben, erschien gleich eine ganze Reihe von (für sie) einflussreichen LPs – von James Blake, von Bon Iver, von D. D. Dumbo, Frank Ocean und Beyoncé. Sie alle ließ das Duo auf sich wirken – und fasste schließlich den Plan, ein Album zu machen, dass mindestens so lebensbejahend ist wie ihr Debüt melancholisch war. Das sommerliche “Heart Strings” entstand z.B., nachdem sie die Beach Boys und die Beatles gehört hatten; im Fall des ausgelassen-lockeren, in Richtung Hip-Hop nickenden “Lifetimes”, hatten sie direkt davor ein Drake-Konzert gesehen.
Als sie dann im letzten Herbst wieder zurück in London waren, schrieben sie das Titelstück “Ultralife”, das schillernde “Bigger Than Love” und jenen Gute-Laune-Hitkandidaten mit Electronica-Einschlag namens “High On Humans” – der von Josephines Begegnungen mit Fremden inspiriert ist, denn nach einer U-Bahn-Fahrt von Heathrow nach Hause sah sie ihre Mitmenschen plötzlich mit ganz anderen Augen. “Erst einmal waren da diese zwei Frauen, die bei Sunglasses Hut arbeiteten, und mit denen ich mich eine geschlagene halbe Stunde über Hot Sauce unterhalten habe. Das war so toll! Wir waren einander fremd gewesen, aber die Verbindung war sofort da.”
“Und als ich dann umgestiegen war in den nächsten, oberirdischen Zug, unterhielt ich mich da mit einem Typen, der vollkommen blutüberströmt war, weil ihm seine Zähne rausgeschlagen worden waren. Ich erzählte ihm, dass mir das auch schon mal passiert ist – und plötzlich unterhielt sich der ganze Waggon: Alle erzählten von ihren Verletzungen und OPs. Ich konnte mit ansehen, wie dieser Kontakt den Leuten neue Kraft gab. Ich rief sofort Anthony an, sang ihm den Refrain am Telefon vor, und den Rest des Songs schrieben wir noch am selben Abend.”
Anstatt sich zu sehr auf Computer zu verlassen, spielen Live-Instrumente die größte Rolle auf “Ultralife”: Schlagzeug und Bass, gepaart mit Anthonys analogen Synthesizern, garantieren diesen warmen Sound, der die gesamte LP auszeichnet. Während Teile der Aufnahmen, so z.B. die Streicher-Parts, im The Pool Studio in Bermondsey stattfanden, haben Oh Wonder größtenteils im eigenen Homestudio gearbeitet – wobei sie sich schon nach den Busfahrplänen der Londoner TFL richten mussten.
“Oh ja, unser Studio liegt an einer stark befahrenen Achse. An einer Ecke, wo gleich zwei Buslinien verkehren”, erklärt Anthony. “Und jedes Mal, wenn wir aufnehmen wollten, kam noch ein Bus. Und noch einer. Deshalb konnten wir die Gesangsparts immer erst nach 10 Uhr abends aufnehmen.” “Und trotzdem sind ein paar Busse zu hören”, ergänzt Josephine. “Das Album beginnt sogar mit so einem Bus, womit wir an die Tatsache erinnern wollen, dass das Londoner Transportsystem eine große Hürde während der Entstehung dieses Albums war. Außerdem gibt’s eine Polizeisirene aus New York, wo wir ganz ähnliche Probleme mit Verkehrsgeräuschen hatten.”
“Natürlich hätten wir uns das Leben sehr viel leichter machen können: In einem gut isolierten Studio… aber so ticken wir nicht. Unser eigenes Leben steckt in diesen Songs, und da fühlte es sich einfach falsch an, die Nachtbusse komplett auszublenden.”
Mehr Infos über Oh Wonder gibt es hier und auf ihrer Facebookseite.
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