"Wake Up The Nation“ (VÖ: 09.04.2010)
„I’m schooled in the test of time“ – aus dem Song „Moonshine“
„Ehrlich gesagt hatte ich überhaupt nicht daran gedacht, eine neue LP aufzunehmen“, sagt Paul Weller über die Entstehung seines brandneuen Albums „Wake Up The Nation“.
„Nach ‘22 Dreams’ hatte ich praktisch keine neuen Songideen, höchstens den einen oder anderen Titel oder irgendein Reimpaar vielleicht. Daher entstand das neue Album ganz anders als sonst. Es fühlte sich fast schon so an, als ob ich wieder ganz bei Null anfangen würde.“
Bedenkt man, wie unglaublich lang Paul Weller schon dabei ist und dass sein Name seit eh und je für Experimentierfreude steht, für den unbedingten Willen, immer wieder neue Wege zu gehen, sollte eigentlich klar sein, dass man von ihm nicht zweimal dasselbe Menü vorgesetzt bekommt. Und tatsächlich ist es der Songwriter-Ikone gelungen, sich nach dem grandiosen Erfolg von „22 Dreams“, das als sein drittes Soloalbum Platz #1 der UK-Charts belegte und ihm indirekt einen BRIT-Award bescherte, auf seinem zehnten Studioalbum abermals selbst zu übertreffen.
Schlank und fokussiert wie er selbst auch, schließt sich mit „Wake Up The Nation“ zudem ein Kreis: 28 Jahre nach der Auflösung von The Jam, ist auf zwei der neuen Songs auch Bruce Foxton, der ehemalige Bassist, zu hören.
„Natürlich sind etliche Jahre vergangen, aber wir beide hatten richtig viel Spaß im Studio“, sagt Paul über die nach so langer Zeit recht überraschende Zusammenarbeit der beiden.
„Bruce hat nach wie vor einen ganz eigenen Style, einen unverwechselbaren Sound, und der passte nun mal perfekt zu dem Stück, das wir aufnehmen wollten: ‘Fast Car Slow Traffic’. Dann hat er auch noch auf ‘She Speaks’ Bass gespielt, was eigentlich nicht so unbedingt sein Ding ist, aber auch in dem Fall hat er dem Song sofort seinen Stempel aufgedrückt.“
Die Aufnahme-Sessions, aus denen „Wake Up The Nation“ hervorgehen sollte, begannen vor einem Jahr, im Januar 2009, zusammen mit Simon Dine, der auch schon an „22 Dreams“ mitgewirkt hatte. In Wellers „Hauptquartier“, seinem eigenen Black Barn Studio in Surrey, machten sich die beiden mit der Unterstützung von Toningenieur Charles Rees daran, einen Sound zu kreieren, für den sich Dine bereits eine Richtung ausgedacht hatte: „Simon wusste von Anfang an, wie die neue Platte klingen sollte“, berichtet Paul, „hart und urban nämlich, und irgendwie metallisch. Manchmal hab ich einfach den Gesang improvisiert und geschaut, was dabei herauskam. Das alles war ein ganz anderer Ansatz als sonst.“
Um die Hektik und die Enge des Lebens in der Großstadt einzufangen, stellten sie strikte Regeln auf: Akustikinstrumente und alles, was irgendwie nach Folk oder ländlicher Idylle klang, flogen raus. Somit war genügend Platz für Neues: satte Rock-Grooves, Riffs à la Bowie (zur Zeit der Aufnahmen von „Low“ oder „Diamond Dogs“) und eine Grundeinstellung, die Genregrenzen eiskalt ignoriert – die hatten sie sich noch von den Sessions zum letzten Album bewahrt.
„Je nach Bedarf haben wir für die einzelnen Tracks unterschiedliche Gastmusiker eingeladen“, sagt Paul. „Kevin Shields (My Bloody Valentine) ist auf einem Stück zu hören. Clem Cattini (der legendäre Session-Drummer) und Bev Bevan (The Move/ELO) waren an mehreren Songs beteiligt. Little Barrie steuert mehrfach Gitarrenspuren bei. Andy Crofts (Keyboarder in Wellers Band, wenn er auf Tour ist) hat nicht nur Gitarre und Bass gespielt, sondern auch Keyboard und ein bisschen Stylophon. Entscheidend war daher nur, das alles einzufangen – und zu schauen, was davon überhaupt zusammen funktionierte.“
Das Ergebnis ist eine LP mit 14 waschechten Rock’n’roll-Tracks, die ein Insider bereits als eine „Mischung aus Stockhausen und The Small Faces“ beschrieben hat. Wenn es ausnahmsweise nicht ganz so rockig zugeht – „Aim High“ wäre so eine Ausnahme; in diesem Fall dreht sich alles um einen satten Groove –, klingen auch Songs wie „Grasp And Still Connect“ und „7 & 3 Is The Strikers Name“, der zugleich als limitierte Single erscheint, so druckvoll und aggressiv, dass sie alles andere in den Schatten stellen. Doch war ehrlich gesagt auch gar nichts anderes zu erwarten, schließlich haben wir es hier mit einem Songwriter zu tun, dessen Einflüsse alles von Alice Coltrane bis Vaughan Williams abdecken, und der momentan unter anderem auf das „Witch Cults Of The Radio Age“-Album von Broadcast oder die britische Folk-Band Erlend And The Carnival steht. Noch Fragen?
Auch in seinen Texten schlägt Weller dieses Mal einen anderen Ton an: Ging es auf „22 Dreams“ eher um ausufernde Tagträume, begegnet man auf „Wake Up The Nation“ einem Sänger, der hellwach ist und dazu bereit, die Welt wieder einmal aus den Angeln zu heben. Wer also auf Weller als Polemiker steht (man denke an „Money Go Round“ oder „Soul Deep“), der darf sich freuen: So wütend wie auf dem neuen Album hat er sich seit Jahren nicht präsentiert.
„Das Titelstück ist fast schon eine Art Fanfarenstoß, ein Weckruf für unser Land“, sagt Paul.
„Die Aussage lautet, dass wir uns gegen diese ganze Mittelmäßigkeit aufbäumen müssen und dafür sorgen sollten, dass in diesem Land ausnahmsweise mal wieder etwas Großartiges passiert. Die Medien, das Fernsehen, die Musik, die Politik – das alles ist heutzutage einfach nur farblos. Und es liegt keinesfalls an den Leuten, also nicht daran, dass ihnen alles gleichgültig wäre – sie fühlen sich vielmehr entrechtet. Echte Demokratie existiert nicht mehr. Millionen Menschen sind vor dem Irak-Krieg auf die Straße gegangen, und doch konnten sie dadurch nichts bewegen.“
„Was die Musikwelt betrifft, liegt jawohl auf der Hand, was meine Kritikpunkte sind, aber bei Superstar-Sendungen wie ‘X Factor’ sind die Standards einfach viel zu niedrig; das sind doch keine Leute, zu denen man aufschauen kann! Vielleicht klinge ich altmodisch, wenn ich das sage, aber ich hatte Bands wie The Beatles oder The Kinks als Vorbilder. Darum waren auch Leute wie Rage Against The Machine so gut und so wichtig. Was fehlt, ist eine massive Gegenbewegung zu diesem ganzen oberflächlichen Superstar-Kult.“
Weller unterstreicht seine deutlichen Ansagen mit musikalischen Meisterleistungen: „No Tears To Cry“ ist eine überdimensionale Ballade, in der man den Einfluss der Walker Brothers deutlich heraushören kann, während sich „Trees“ aus fünf Episoden zusammensetzt, in denen er unterschiedliche Stationen eines Lebens verhandelt, während er musikalisch Ragtime, Polka, Punk, Psych-Pop und schließlich sogar Gospel in einem Song unterbringt, der kaum länger ist als vier Minuten.
„Die Idee zu diesem Song kam mir, nachdem ich meinen Vater kurz vor seinem Tod im Altersheim besuchte“, berichtet Paul.
„Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich das Leben dieser alten Menschen wohl anfühlt. Ein paar der älteren Damen waren bestimmt mal hübsche junge Mädels gewesen, und nun saßen sie dort rum und warteten scheinbar nur darauf, zurück unter die Erde oder in die Atmosphäre zu kommen – oder was auch immer mit uns geschehen mag, wenn wir das Zeitliche segnen.“
Absolut leidenschaftlich und dabei unbedingt dem guten alten Rock’n’roll verpflichtet: Paul Weller ist es wieder einmal gelungen, den perfekten Soundtrack zum neuen Jahrzehnt abzuliefern.
„Ich kann es kaum abwarten, endlich wieder auf Tour zu gehen und die neuen Songs den Leuten zu präsentieren“, sagt er abschließend.
„Wake Up The Nation“ ist die Art von Weckruf, die man definitiv nicht verschlafen sollte.