PUR – Persönlich (VÖ: 04. November)
PUR & Friends auf Schalke ist ein ganz besonderes Ereignis. Immer wieder. Dieses Stadion-Konzert beschert den Fans und der Band sehr große, ergreifenden Momente. Die Musiker haben in diesem Jahr mit 68 000 Zuschauer:innen „40 Jahre PUR – 20 Jahre PUR auf Schalke“ nachträglich gefeiert. Auf diesen Auftritt zuzusteuern, das war fast wie ein Rettungsanker in stürmischer See. So empfand es jedenfalls Hartmut Engler. Endlich löste sich die pandemiebedingte Schreibblockade des PUR-Frontmanns, er konnte seine Gedanken und Empfindungen in die Lieder des brandneuen Albums „Persönlich“ fließen lassen. Mit feinsinnigen Metaphern. Hartmut Englers Liedzeilen wirken nie verkopft, sie sind nah dran an der Realität und stets glaubwürdig.
Als einer der ersten Songs entstand „Voll sein“, zugleich emotional aufgeladenen und mitreißend. „Mir fehlen die Geschichten“, singt Hartmut Engler. Damit bringt er genau jene Zeit auf den Punkt, in der er einfach keine Texte schreiben konnte. „Ich bin mit der Gesamtsituation überhaupt nicht zurechtgekommen“, bilanziert er die Corona-Hochphase. „Sicher muss ich heute keine 150 Konzerte pro Jahr mehr spielen. Aber ich brauche ein Ziel, auf das ich mich freuen kann.“ So wie die Show auf Schalke - Mit dabei: Voll sein, der erste Song vom neuen Album. Im Refrain tatkräftig unterstützt vom begeisterten Publikum. Schließlich fangen Sätze wie „Ich will voll sein, wundervoll sein. Voller Freude, voller Liebe, voll bis oben hin mit Herz“ die Sehnsucht nach reiner Lebenslust perfekt ein.
„Verschwörer“ entspringt ebenfalls der Pandemie, befeuert durch Querdenker. Es gehe aber nicht nur um sie, stellt Hartmut Engler klar. In erster Linie handele das Stück grundsätzlich von Verschwörungstheorien. In einer Laut- und einer Leise-Fassung. Für die erste Version zeichnet der PUR-Manager Götz von Sydow, federführender Produzent des neuen Albums, verantwortlich, für die zweite das Gründungsmitglied Ingo Reidl. Weitere Musik komponierten der Keyboarder Matthias „Matze“ Ulmer und der Gitarrist Martin Ansel, der die Band aus Baden-Württemberg inzwischen verlassen hat. Alle arbeiteten wegen Covid allein in ihren heimischen Kellerstudios. „Ich wurde von vier Seiten mit tollen Songs bombardiert“, bringt es Hartmut Engler auf den Punkt. „Deshalb ist es nun ein Album mit 16 Titeln geworden.“ Seinen Gesangspart nahm er dann in den Bauer Studios in Ludwigsburg auf: „Ich brauchte nach der langen „Homestudio“-Phase zur Abwechselung mal wieder die Wohlfühlatmosphäre eines Tonstudios wie in den „guten alten Zeiten.“
So ging es eigentlich recht gut voran, nachdem der Knoten geplatzt war. Einzig der Titel „Ist es mein Gesicht?“ bereitete dem Sänger irgendwie Kopfzerbrechen. Zu Matze Ulmers großartiger Musik wollte ihm partout kein Text einfallen. Also bat er Heinz Rudolf Kunze um Hilfe. Der verfasste einen wunderbaren Text, gespeist aus der griechischen Mythologie. Daraus entwickelte Hartmut Engler final ein Duett. Sofort war für ihn klar, wer in die Rolle der Wahrsagerin schlüpfen sollte: Cassandra Steen. Aus dieser Zusammenarbeit entstand ein für PUR ungewöhnlicher Song.
Die Liebeshymne „Abrakatrina“ braucht dagegen keine weiteren Erläuterungen… Mit „Persönlich“ beantwortet er die oft gestellte Frage, wie es denn so ist, wenn man seine persönlichen Erfahrungen und Gefühle öffentlich macht und fordert den Hörer dazu auf, die Geschichten aus seinen Liedern für sich selbst persönlich zu machen. Begegnungen mit Menschen hinterlassen bei Hartmut Engler eben immer Spuren. „Im Pool“ schrieb er für einen seiner engsten Freunde. Mit ihm feierte er 1996 seine ersten großen Erfolge – während einer Reise im Pool mit einem Drink. „Als wir dann 2021 noch mal im selben Pool saßen, kam ich auf die Idee, das Ganze weiterzuspinnen“, sagt Hartmut Engler. „Ich fragte mich: Was könnten wir in 25 Jahren machen?“ Das Ergebnis: ungebremste Leichtigkeit. „Herzlich willkommen“ ist der gelungene Versuch, in einer schweren und unsicheren Zeit völlig unbeschwerte Momente wahrnehmen zu können – Hartmut Englers LehrmeisterInnen waren seine beiden Nichten im Strandurlaub.
Mit der Stimmungslage ist es wie mit der Liebe: man weiß oft erst wirklich was einem fehlt, wenn es unerreichbar verloren scheint: „Laune“ lädt zu einem Rendezvous mit der verloren geglaubten guten Laune ein. „Komet (Muonionalusta)“ oder: wie ein ganz irdisches Geburtstagsgeschenk zu philosophischen Betrachtungen über die eigene und die menschliche Existenz mit ihrem Platz in der Ewigkeit führen kann… „Ein gutes Morgen“, das musikalisch deutlich in Coldplay-Gefilde führt, schildert Hartmut Englers Reaktion auf den russischen Einmarsch in der Ukraine. „In den ersten Tagen war ich nur in Weltuntergangsstimmung“, bekennt er. „Ich dachte: Dieser Wahnsinn zerstört alles, an was wir uns festgehalten haben.“ Erst nach vier, fünf Wochen beruhigte er sich wieder etwas: Ein bisschen Hoffnung keimte auf und machte dieses Lied so möglich.
Als die Band vom Tod ihres ehemaligen Schlagzeugers Martin Stoeck erfuhr, war das zunächst ein Schock. Keiner hatte etwas von seiner Krebserkrankung gewusst. Das konnte, nein, besser: das wollte Hartmut Engler nicht unkommentiert lassen: „Es tat mir schon leid, dass wir uns aus den Augen verloren hatten. Ich beschloss, ein Lied für Stöcki zu schreiben. Eine ehrliche Ehrung.“ So entstand die melancholische Pianoballade „Herzensgut“. Was diese Nummer so faszinierend macht: Stöcki spielt am Schluss sogar selber Schlagzeug – von einem älteren Song gesampelt. Am Flügel hört man den ehemaligen PUR-Produzenten und Ex-Schwager von Stöcki: Dieter Falk.
Traurigkeit spiegelt sich in „Immun“ wider. Zeilen wie „Du liebst dich selbst nicht, kannst dich nicht leiden“ seien während der Pandemie in den dunkelsten Phasen entstanden, erzählt Hartmut Engler: „Ich hatte nicht mehr so richtig den Draht zu anderen Leuten, sondern bin lieber zuhause geblieben. Weil ich mich selber nicht mochte.“ In „Staub“ wiederum hadert Hartmut Engler mit menschlichen Enttäuschungen. Obwohl er sich komplett hintergangen fühlte, lässt er sich nach einer harten Zeit schlussendlich aber nicht vom Strudel seiner negativen Empfindungen mitreißen: „Ich will vertrauen und brauche Vertrauen.“
„Wir waren und wir werden“ benötigt keine Worte. Ein Klaviersolostück von Ingo Reidl – sein musikalisches Come-Back nach seiner schweren Krebserkrankung.
Naturally 7 gelang es, den PUR-Klassiker „Funkelperlenaugen“ in eine A-cappella-Hymne zu verwandeln. Ursprünglich hätten die Amerikaner als Überraschungsgäste bei der MTV-Unplugged-Tour auftreten sollen. Als diese Corona zum Opfer fiel, beschlossen PUR, die Neufassung zumindest im Studio aufzunehmen. Dieses Stück fügt sich perfekt in die übrigen Songs ein, die trotz ihrer Vielschichtigkeit wie aus einem Guss klingen. Mal nachdenklich, mal überschwänglich schreiben PUR mit dem eindringlichen „Persönlich“-Album jetzt ihre beeindruckende Bandgeschichte inklusive zehn Nummer-eins-Alben fort.