Rebekka Bakken
Kein anderes europäisches Land hat so viele von der Folkmusik beeinflusste weibliche Singer/Songwriter hervorgebracht wie Norwegen. “Die Folkmusik in Norwegen hat eine große Bedeutung und großen Einfluss”, meint die Sängerin Sidsel Endresen, die diesen Trend einst einläutete. Und sie liefert auch gleich eine Erklärung dafür: “Wir haben keine großen Städte und sind nicht so urban, und in den ganzen ländlichen Gemeinden hat sich Folk-Musik gut erhalten und entwickelt. Auch die Klassikszene ist in Norwegen sehr stark, in ganz Skandinavien, sogar was zeitgenössische Musik betrifft. Und viele Jazzer hören diese Musik mindestens genau so viel, wie sie amerikanischen Jazz hören.” Unter den zahlreichen komponierenden Sängerinnen, die seit den 1990er Jahren in Norwegen wie Pilze aus dem Boden schossen, hat die am 4. April 1970 in Oslo geborene Rebekka Bakken sofort eine Sonderstellung eingenommen. Denn im Gegensatz zu ihren bodenständigeren Kolleginnen, startete Bakken im Oktober 1994 eine Odyssee, die sie über New York und Wien nach Schweden führen sollte und ihr erlaubte, kontinuierlich ihren musikalischen Horizont zu erweitern. Seit sie 2003 mit “The Art Of How To Fall” ihr international umjubeltes Plattendebüt gab, ist viel passiert. Sie nahm vier weitere Alben mit fast ausschließlich eigenen Songs und ein fantastisches Coveralbum mit Tom-Waits-Liedern auf.
Mit wunderbarer Sprödheit hat sie sich all die Jahre gegen Etiketten wie “die europäische Norah Jones” gewehrt. Vollkommen zurecht. Schließlich besitzt die großgewachsene Norwegerin eine ganz eigene musikalische Stimme. Nach jazzigem Beginn an der Seite des österreichischen Weltklassegitarristen Wolfgang Muthspiel (“Daily Mirror”, 2001, und “Beloved”, 2002) sowie einer wunderbaren Zusammenarbeit mit dem Trio der Berliner Pianistin Julia Hülsmann (“Scattering Poems”, 2003), debütiert sie 2003 mit “The Art Of How To Fall”. Einfühlsam unterstützt wird sie von einem internationalen Ensemble mit Gitarrist Eivind Aarset, Pianist Roberto Cipelli, Trompeter und Keyboarder Takuya Nakamura, Bassist Dieter Ilg und Schlagzeuger Jojo Mayer. “Sich fallen zu lassen, nicht an etwas festzuhalten, nicht zu kontrollieren” sei eine große, schöne Kunst, erklärte Rebekka Bakken damals den tieferen Sinn des Albumtitels. Dass sie diese “große, schöne Kunst” beherrscht, beweist sie seitdem mit jedem neuen Album eindrucksvoll. Denn stets streckt sie ihre Fühler in neue musikalische Richtungen aus.
Auf “Is That You?” vertieft sie 2005 die Stimmungen und Schwingungen von “The Art Of How To Fall”, mit denen sie die Kritiker begeistert und ihr Publikum in Verzückung versetzt hatte. Dabei zeigt sie in den elf neuen Stücken ihre zunehmende Reife als Sängerin und ihre Fähigkeiten als Komponistin und Arrangeurin. Zur Seite steht ihr diesmal eine skandinavische Band mit Trompeter Nils Petter Molvær und Saxophonist Bendik Hofseth als Gastsolisten. Eine neue Dimension gewinnt ihre Musik 2007 auf “I Keep My Cool” durch die Zusammenarbeit mit Streichern der Wiener Philharmoniker und Wiener Symphoniker. In den Songs offenbart sich Rebekka Bakken erneut als Poetin, die oftmals mit nur wenigen, kleinen und zarten Schritten große Wirkung erzielen und Geschichten erzählen kann.
Danach arbeitet sie mit den bekannten Produzenten Craig Street (Cassandra Wilson, Jimmy Scott, Bettye Lavette) und Malcolm Burns (Bob Dylan, Patti Smith, Iggy Pop). Unter Craig Streets Regie spielt sie 2009 für “Morning Hours” ihren vielleicht schönsten Song ein: “Powder Room Collapse”, veredelt durch grandiose Sidemen wie Marc Ribot, Glen Patscha, David Piltch und Earl Harvin, ist geradezu eine Hymne des Zweifels. Verschattete Innenwelt versus die Erfordernisse des schönen Scheins lautet der darin behandelte Konflikt. Showbusiness oder Soulfulness – Rebekka Bakken entscheidet sich im Zweifelsfall für die Authentizität.
Produzent Malcolm Burn lockt 2011 auf “September”, einem der schönsten von Country beeinflussten Liederalben unserer Zeit, die Klavierspielerin in Bakken hervor. “Ich spielte Piano, obwohl ich das Instrument gar nicht so gut beherrsche. Aber manchmal ist es so, dass der größte Feind des Klaviers der Klavierspieler ist. Technische Beschränktheit gibt dir eine Menge Freiheiten. Da hat die Musik die Chance sich auf eine Weise zu entwickeln, wie es beim Virtuosen nicht möglich wäre. Mir hat es jedenfalls viel gegeben, dass ich Teil einer musikalischen Situation sein kann und andere Musiker mit meinem Spiel inspirieren kann.” Exzellent gesungen, sinnlich und satt gespielt, wirken ihre Texte über Liebe, Leben, Lust und Leiden – die ältesten Themen der Welt – immer aktuell. Schon vom Sound her sind sie so eigen und originell, dass auch die drei Cover-Versionen von Bruce Springsteen, Jane Siberry und Alphaville perfekt zu Bakkens selbst geschriebenen Liedern passen.
Nach fünf Alben mit fast durchweg selbst geschriebenen Songs überrascht Bakken 2014 mit “Little Drop Of Poison”. Auf Einladung des Arrangeurs Jörg Achim Keller interpretiert sie, begleitet von der Bigband des Hessischen Rundfunks, Songs aus der Feder des Beat- und Blues-Barden Tom Waits. Dabei brilliert sie gerade in den bärbeißigen Stücken, die man ihr am allerwenigsten zugetraut hätte. Auf der “Best Of”-Doppel-CD “Most Personal” zieht Rebekka Bakken 2016 eine sehr persönliche Zwischenbilanz. Dafür wählte sie 25 der besten und beim Publikum beliebtesten Songs aus ihren bisherigen Alben aus und ergänzt diese wunderbar ausgewogene Rückschau durch fünf neue Aufnahmen, die wieder einmal ganz neue Facetten von Rebekka Bakken offenbaren.