In den Sechzigerjahren bildete das New Yorker Label Impulse Records die „Fire Music“ der schwarzen Jazz-Avantgarde ab. Zu den wenigen Nicht-Amerikanern in der Geschichte des nicht nur für seine John-Coltrane-Aufnahmen berühmten Labels gehören die deutschen Musiker Rolf und Joachim Kühn. 1967 nahmen beide ihr Impulse-Album Impressions Of New York in der amerikanischen Jazz-Metropole auf, nur wenige Monate durch die von Rolf Kühn und Friedrich Gulda organisierte spektakuläre Flucht des jüngeren Bruders Joachim aus der DDR wieder vereint. Heute gilt Impressions Of New York als ein Meisterwerk des Modern Jazz. Mit ihrem aktuellen Album greifen Rolf und Joachim Kühn den Faden des Vorgängers erneut auf, zusammen mit den US-Jazz-Stars John Patitucci und Brian Blade.
Blick zurück: Nach einem gefeierten Reunion-Auftritt vor 8000 Zuschauern im Berliner Sportpalast bei den Jazztagen und einem in der New York Times als „außergewöhnlich“ besprochenen Auftritt beim Newport Jazz Festival, sollen Rolf und Joachim Kühn im Juli 1967 in den New Yorker Capitol Studios ihr Impulse-Debüt aufnehmen. Die Atmosphäre auf den Straßen ist getränkt vom Protest gegen den Vietnamkrieg, Zusammenkünften der Bürgerrechtsbewegung und von der Trauer um den frühen Tod John Coltranes – der zentralen Figur des Impulse-Labels, der in seinen Aufnahmen die Dunkelheit Amerikas in sein Saxofon blies. Die LP-Aufnahmen, nur drei Tage nach Coltranes Tod und gemeinsam mit dem langjährigen Coltrane-Bassisten Jimmy Garrison, werden zu einer durchgehenden, intensiven, rauschhaften und großartigen Improvisation, einem Requiem für John Coltrane über zwei LP-Seiten hinweg, das die New Yorker Eindrücke aufnimmt und festhält.
Impressions Of New York ist eine One-Take-Aufnahme, die unverändert auf das finale Album fließt. Noch nie habe er eine derart „tiefsatte, dunkle und doch kristallklare Klarinette“ gehört, wie die Rolf Kühns auf diesem Album, schreibt Kritikerpapst Nat Henthoff damals. Und das Solospiel des gerade 23-jährigen Joachim Kühn beschreibt er als „sich organisch ausdehnende Improvisationen mit kaum kontrollierbarer Dringlichkeit.“ Die eng verwobene Lebenslinie der Brüder Rolf und Joachim Kühn beschreibt und begleitet die Entwicklung des Jazz von der klassischen Quartett-Besetzung der Fünfzigerjahre über Free Jazz und psychedelischen Art-Rock bis hin zu komplexen Kompositionslinien und Improvisationsstrukturen.
Das neue Album Lifeline, eingespielt mit der herausragenden Rhythmusgruppe Brian Blade am Schlagzeug und John Patitucci am Bass, beide sonst nicht zuletzt bei Wayne Shorter für hochsubtiles klangliches Einfühlungsvermögen stehend, schichtet ausgearbeitete Kompositionen der Kühn-Brüder, die zeigen, dass sich beide immer weiter nach vorne bewegen und die Möglichkeiten des Jazz noch lang nicht auserzählt sind. Bei dem Titel „Researching Has No Limits” handelt es sich um eine bedeutende Premiere: eine Komposition Ornette Colemans, einem häufigen musikalischen Partner Joachim Kühns, die hier ihre weltweite Tonträgerpremiere erlebt. Über die Entstehung des neuen Albums erzählt Rolf Kühn:
„Joachim und ich haben im September intensiv an den neuen Kompositionen gearbeitet, die wir am 30. Oktober 2011 im Tonstudio Bauer aufgenommen haben. Jeder von uns beiden hat im Laufe der Jahre seinen eigenen Schreibstil gefunden, trotzdem finden die verschiedenen Kompositionen, die wir hier erarbeitet haben, auf eine natürliche Weise zusammen und das Album bildet eine musikalische Einheit. Im Vergleich zu Impressions Of New York haben wir diesmal fast alle Themen ausgeschrieben, denn die Gruppe sollte das Repertoire ja erstmals live beim Frankfurter Jazzfestival am 29. Oktober 2011 präsentieren und es gab nur wenige Stunden Probezeit. Für diesen Abend sind kurze Themen entstanden, über die frei improvisiert wurde. Mit diesem Spirit sind wir dann am nächsten Tag ins Tonstudio gegangen. John Patitucci und Brian Blade sind für uns die ideale Rhythmusgruppe für dieses Projekt. Hier geht es musikalisch um ein spontanes Reagieren. Nichts Kalkuliertes oder Eingefahrenes, Abgesprochenes, sondern ein spontanes Zugehen aufeinander. Die gegenseitige Neugier war groß und die Aufnahmen eine spannende gemeinsame Reise.“
Und Joachim Kühn: „Rolf brachte mir meine erste Impulse-Platte nach Leipzig mit. Es war „A Love Supreme“ von John Coltrane, mit diesem großartigen Klappcover, ich hatte ihn darum gebeten. 1967 war eine andere Zeit, die Aufbruchszeit, da wurde einfach frei gespielt. Schon kurz danach merkte ich, dass ich komponieren möchte. Unsere Stücke/Kompositionen sind Plattformen, die zur Improvisation leiten. Eine ungebrochene Anknüpfung an das Impulse-Album von damals ist nicht machbar, das ist 45 Jahre her. Wir machen, was wir heute spielen. Ich schaue nicht zurück, ich lebe im Jetzt. Diese Aufnahme mit Rolf zu machen, bedeutet mir viel. Das Album Lifeline ist Ausdruck unserer gemeinsamen Zeit des Zusammenspielens. Wir haben schon einiges hinter uns – und gehen gemeinsam weiter!“