„Es fühlt sich tatsächlich wie eine vollkommen neue Band an“, sagt Daron Malakian über Scars on Broadway, sein neues Projekt. „Manchmal sagen wir den Leuten nur: `Hey, wir sind Scars on Broadway!´ Und sie antworten dann: `Oh, das sagt mir gar nichts.´ Womit wir jedoch absolut kein Problem haben“, fügt er lachend hinzu.
Klingt verwirrend? Nun, mit ihrer Band System of a Down haben Malakian und sein Bandkollege John Dolmayan bekanntlich ein Platinalbum nach dem anderen veröffentlicht – fünf Stück waren es, wovon drei in den USA sogar an die Spitze der Albumcharts gingen –, dazu sind sie bereits auf unzähligen Festivals als Headliner aufgetreten und haben in aller Welt vor ausverkauften Häusern gespielt. Kurz gesagt: System of a Down sind seit rund zehn Jahren der Inbegriff des Alternative-Metal. Malakian beruft sich, was Scars on Broadway betrifft, trotzdem nicht auf diese Erfolge: „Zu sagen, `Hey, ich bin Daron von System of a Down, und deswegen werdet ihr auch alle auf dieses neue Projekt abfahren´, das wäre mir ehrlich gesagt niemals in den Sinn gekommen.“ Dass er auch sonst nichts als selbstverständlich betrachtet, was die Veröffentlichung ihres gleichnamigen Debütalbums betrifft, ist schon daran ersichtlich, wie er sich über den aktuellen Erfolg der ersten Scars-Single „They Say“ freut: „Als ich das Stück zum ersten Mal im Radio gehört habe, fühlte sich das an, als ob es der erste Song wäre, der jemals von mir im Radio läuft. Ungelogen. Das war echt der Hammer.“
Malakian und Dolmayan genießen die Arbeit an ihrem neuen Projekt sichtlich; man merkt ihnen an, dass sie sich unbedingt aufs Neue beweisen wollen. Spricht man sie drauf an, räumen beide ein, dass sie nach einem Jahrzehnt, in dem sie die Alternativ-Metal-Welt dominiert haben, einfach mal etwas Anderes ausprobieren wollten, um nicht auf der Stelle zu treten. Über die ersten beiden Scars-Konzerte, wobei der Auftritt beim Coachella-Festival von der L.A. Times als „eines der heißesten Highlights des Festivals“ bezeichnet wurde, berichtet Dolmayan: „Bei diesen zwei Auftritten lag eine Energie in der Luft, wie ich sie schon lange nicht mehr verspürt habe. Das war ein verdammt intensives und sehr, sehr gutes Gefühl, denn mit System of a Down waren wir schon längst an einem Punkt angekommen, wo man einfach voraussetzt, dass die Leute zu den Shows kommen und auf unseren Sound abgehen. Dazu kommt, dass wir [mit System] meistens alte Songs gespielt haben, schließlich wollen die Fans bei einem Konzert in erster Linie die Klassiker hören. Mit Scars haben wir dagegen noch gar keine alten Songs, und wir müssen das Publikum mit jedem neuen Stück überzeugen und für uns begeistern. Ich finde das großartig, denn ich mag es, wenn man für eine Sache richtig kämpfen und alles geben muss.“
„Mit System of a Down war es in der Regel so, dass wir auf die Bühne kamen und einfach davon ausgegangen sind, dass das Publikum unseren Bandnamen ruft; so war es immer, darum nahmen wir es irgendwann kaum noch wahr“, fügt Malakian hinzu. „Aber dann spielten wir mit Scars on Broadway eine Show mit Metallica in Arizona, und plötzlich riefen die Leute unseren neuen Namen. Es fühlt sich wahnsinnig neu und spannend an, weil alles, was sich in den letzten zehn Jahren ereignet hat, plötzlich nicht mehr zählt und wir nichts mehr als selbstverständlich betrachten können. Mit Scars kommt wieder mehr Leben in die Bude.“
Dass sich ihr Projekt wie ein völliger Neuanfang anfühlt, ist im Fall von Malakian besonders nachvollziehbar: Zwar war er schon bei System of a Down für die Gitarren-Parts und teilweise für den Gesang verantwortlich, doch tritt er mit Scars on Broadway erstmalig ins Rampenlicht und präsentiert sich als Frontmann. Den Grundstein für diesen Schritt hatte er schon während der Arbeit an den „Hypnotize“- und „Mesmerize“-Alben von System of a Down gelegt, denn damals sprudelten die Ideen förmlich aus ihm heraus: „Als ich gerade an den Songs für `Mesmerize´ und `Hypnotize´ arbeitete, experimentierte ich nebenher sehr viel mit elektronischen Sounds herum, mit Sachen, die eigentlich gar nicht auf ein System-Album passten. Die Songs waren viel melodischer und hatten mehr klassische Rockelemente“, berichtet er. „Und damit war dann eigentlich schon das Fundament für Scars on Broadway gelegt.“
Während Malakian und Dolmayan mit ihrem gleichnamigen Debütalbum durchaus auch aggressive und druckvolle Songs präsentieren – insbesondere mit „Serious“, dem ersten Stück der LP, und dem treffend betitelten „Exploding/Reloading“, beides Songs, bei denen ihre Punk-Wurzeln ganz deutlich zum Vorschein treten –, gibt es zum Beispiel auch Tracks wie „Whoring Streets“, in dem sie Hardrock- und Blues-Elemente vereinen. Noch bezeichnender für die eher melodische und weniger harte Ausrichtung sind jedoch Stücke wie „Funny“, eine astreine Pop/Rock-Nummer, das unfassbar eingängige „World Long Gone“ und natürlich „They Say“, die erste Singleauskopplung.
Für Dolmayan, ein erklärter Beatles-Fan, weil er deren Melodien so schätzt, entpuppte sich die Neuausrichtung mit Scars on Broadway als willkommene Abwechslung: „Ich stehe einfach auf Melodien“, berichtet er. „Dazu kommt, dass sich Darons Kompositionen in den letzten zehn Jahren sehr stark weiterentwickelt haben, und dieser Reifeprozess wird sich natürlich auch in Zukunft fortsetzen. Nach und nach sind seine Songs immer melodischer geworden – das ist etwas, wofür ich mich schon immer begeistern konnte.“
Bei Scars on Broadway konnte er endlich andere Dinge ausleben und sich als Schlagzeuger auf neues Terrain begeben: „Das alles lief wie am Schnürchen. Es ist perfekt, wenn man sehr unterschiedliche Songs aufnehmen und trotzdem alles unter einem Bandnamen vereinen kann. Letzten Endes kam dabei ein Album heraus, das sich fast schon wie drei unterschiedliche Alben anfühlt, und doch gibt es da dieses gewisse Etwas, das die Songs vereint und zu einer Einheit macht. Was mein Schlagzeugspiel betrifft, fühlt es sich eigentlich genauso an: Ich kann völlig unterschiedlich an die einzelnen Songs herangehen, aber das Gesamtergebnis ist trotzdem wie aus einem Guss, weil die Melodien so stark sind, dass sie alles zusammenhalten.“
Spricht man Malakian auf die melodische Ausrichtung der LP an, so berichtet er, dass er sich von den großen Songschreibern der letzten Jahrzehnte hat inspirieren lassen: „Ich habe viel Pop aus den Sechzigern und viel Material von Songwritern aus den Siebzigern gehört. Ich bin zum Beispiel ein absoluter Fan von The Kinks, The Beatles, The Zombies und Neil Young“, erklärt er. „Und selbst wenn man es nicht direkt raushören kann, bin ich davon überzeugt, dass ein Stück wie `3005´ ganz deutlich von Neil Young beeinflusst ist.“
Allerdings genügt es schon, sich Songs wie das abgefahren-theatralische und an Zappa erinnernde „Chemicals“, „Babylon“, eine schräge Kreuzung von Punk und Kosaken-Folk, oder „Cute Mechanics“, dessen New-Wave-Einschlag laut Malakian bei den bisherigen Konzerten wie eine Bombe eingeschlagen ist, anzuhören, um zu erkennen, dass die beiden trotz all der klassischen Melodien den experimentierfreudig-abstrakten Geist von System of a Down keinesfalls über Bord geworfen haben. Sicherlich genießen Malakian und Dolmayan die Herausforderung, die so ein Neuanfang darstellt, aber es ist trotzdem nicht von der Hand zu weisen, dass der Geist von System of a Down auch hier mitschwingt: die Aggression ist einfach zu tief in ihnen verwurzelt; sie ist ein zu wichtiger Teil ihrer Identität als Musiker.
Scars on Broadway, immerhin ein Projekt, über das Malakian schon seit dem Jahr 2005 ganz offen spricht, haben sich kontinuierlich zu dem entwickelt, was sie heute sind. Ein sehr wichtiger Punkt war dabei, die richtigen Musiker zu finden, um die Band zu vervollständigen. Doch kamen die Dinge erst richtig ins Rollen, als Dolmayan dazukam. „Ich liebe Johns Schlagzeugspiel, ich kenne ihn als Menschen sehr gut, also rief ich ihn irgendwann an, und er war sofort dabei. Ab diesem Punkt nahm das Projekt konkrete Form an.“
„Generell legen wir wahnsinnig großen Wert darauf, dass die einzelnen Bandmitglieder nicht nur musikalisch versiert sind, denn auch persönlich muss es einfach zwischen uns stimmen. Die Chemie ist absolut entscheidend: Es muss eine Gemeinschaft sein, die sich fast schon wie eine Familie anfühlt. Diese Familienmentalität haben wir, und wir hatten sie schon immer“, fügt Dolmayan hinzu.
Obwohl Scars on Broadway nun schon seit drei Jahren existieren, erscheint ihr Album erst jetzt, was größtenteils daran liegt, dass Malakian fest davon überzeugt ist, dass die Musik das Tempo vorgeben sollte, anstatt sich von Deadlines und Veröffentlichungsplänen das Arbeitstempo diktieren zu lassen: „Es gibt Leute, die gehen einfach ins Studio und sagen sich: `Hey, diese Woche machen wir mal ein Album.´“, setzt er an. „Ich kann so nicht arbeiten, weil ich dafür einfach zu launisch bin. Mir ist es nun mal enorm wichtig, dass sich unterschiedliche Stimmungen und Gefühle in den Songs widerspiegeln. Darum bevorzuge ich es, die Dinge etwas langsamer anzugehen: Ich lehne mich zurück, mache mir Gedanken über mein Leben und lasse diese Eindrücke dann ganz natürlich in die Songs einfließen, an denen ich gerade arbeite. Erzwingen will und kann ich da nichts.“
Unter den Stimmungen und Launen, die Malakian in den vergangenen Monaten aufgezeichnet hat, findet sich eine, die sicherlich viele Menschen mit ihm teilen: Frustration und Enttäuschung. „Ganz egal, ob es ein härteres oder ein eher sanfteres Stück ist, was sie alle zu einer Einheit zusammenschweißt ist die Grundstimmung und eine gewisse Frustration, die im Gesang und in den Texten immer wieder durchschimmert“, erklärt er. Woher dieses Gefühl stammt? „Die Enttäuschung bezieht sich gleichermaßen auf persönliche Dinge und globale Entwicklungen, die ineinander verschmelzen. Genau genommen ist die Welt doch ein einziger Mindfuck, sie ist voller Widersprüche! Du schaltest die Nachrichten ein und schon siehst du eine blonde Schönheit, die dir ganz beiläufig ein paar Hiobsbotschaften präsentiert – z.B., dass die Selbstmordrate im Irak wieder einmal gestiegen ist. Es gibt so unendlich viele Dinge, die man als Mensch heutzutage verarbeiten muss, daher verwundert es mich auch nicht, dass viele gar nicht mehr wissen, was sie eigentlich denken oder fühlen sollen. Aus dem Grund gibt es auch so viele Leute, die unter Depressionen, Stress und Angstzuständen leiden.“
Was die Musik betrifft, wirken Dolmayan und Malakian mit ihrem Scars-Projekt emotional überaus gefestigt. Fragt man sie danach, wie es sich anfühlt, die fertige LP zu hören, berichtet Dolmayan, dass er einfach nur unglaublich stolz ist: „Es fühlt sich so an, als ob dein eigenes Kind gerade erwachsen geworden ist und die Schule erfolgreich hinter sich gebracht hat. Du bist für die Erziehung verantwortlich, musst alles dafür geben, dass er oder sie ein guter Mensch wird, und dann musst du deinem Kind schließlich dabei helfen, den Schritt in die Unabhängigkeit zu gehen und auf eigenen Beinen zu stehen. So ähnlich fühlt sich das auch bei unseren Songs an.“
Und was denkt Malakian? „Ich habe das Gefühl, dass Scars on Broadway eine Weiterentwicklung und eine Steigerung ist, wenn man es mit dem vergleicht, was früher war – sprich: mit System of a Down. John sieht es auch so, und wenn ich mir jetzt unsere Songs anhöre, dann fühlt sich das einfach nur verdammt gut und richtig an. Es sind Songs, die genau jetzt und in dieser Form erscheinen mussten.“
Er ist sich sicher, dass es den Leuten ähnlich gehen wird, wenn sie Scars on Broadway zum ersten Mal hören: „Ich kann es kaum abwarten; die Leute müssen diese Songs einfach hören, denn ich bin fest davon überzeugt, dass ich nur selten so gutes Material aufgenommen habe“, sagt er abschließend. „Ich bin wirklich wahnsinnig stolz auf das, was wir mit dieser LP kreiert haben.“