Mit Schillers Doppelveröffentlichung „Zeitreise“ und „Zeitreise Live” verhält es sich ein bisschen so wie mit dem bizarren Zeitgeist-Phänomen, dass einige Radiosender die Acht-Uhr-Nachrichten bereits um fünf vor acht senden, weil sie die ersten sein wollen.
Schiller, bürgerlich Christopher von Deylen, veröffentlicht mit „Zeitreise“ und „Zeitreise Live“ jetzt eine karriereumspannende Best-of-Kopplung sowie ein Live-Album seiner Arena-Tour 2016. Und zwar zum 19. Jahr des Bestehens des dekadenübergreifenden Langzeitprojekts Schiller, also ein Jahr vor dem 20-jährigen Jahrestags der Existenz Schillers. Schiller: „Die ersten Entwürfe für das, was dann Schiller wurde, entwickelte ich 1997. Ein Jahr später gab es dann die erste Veröffentlichung unter diesem Namen.“
Nun ist es so, dass Schiller ungern in die Vergangenheit zurückblickt, lieber nach vorne, in die Zukunft. Sein in diesem Frühjahr erschienenes neuntes Studioalbum heißt nicht ohne Grund „Future“.
Schiller: „Die Nebel der Vergangenheit haben mich allerdings nicht losgelassen. Ich spürte zunehmend: Ich möchte mich dieser, meiner eigenen Geschichte stellen. Jahrelang habe ich den Blick zurück vor mir her geschoben. Dieses Jahr fiel es mir seltsamerweise leicht zurückzublicken auf das Erreichte, auf das Gesammelte. Der Titel ‘Zeitreise’ erschien mir da nur passend.“
Es ist eine Besonderheit von „Zeitreise“, dass es sich hier nicht um eine traditionelle, gelernte Greatest-Hits-Kopplung handelt. Denn große Hits hat es bei Schiller in diesem Sinne nie gegeben — vielleicht von „Dream of You“aus dem Jahr 2001, „Leben … I Feel You“ (beides Kollaborationen mit Peter Heppner), 2003, und „Sonne“ (mit Unheilig), 2012, einmal abgesehen, die alle drei fast die deutschen Top Ten geknackt hätten.
Nein, Schiller ist vielmehr ein klassischer Albumkünstler, was sich auch klar an den Chart-Positionierungen seines bisherigen Œuvres ablesen lässt: Fünf seiner Studioalben waren Nummer-Eins-Alben in Deutschland, weitere drei schafften es in die Top Ten. Diese Bilanz ist ein Alleinstellungsmerkmal Schillers — kein anderer Musiker aus dem weiten Feld der elektronischen Musik hat eine solche Erfolgsgeschichte vorzuweisen.
Schiller: „In diesem Sinne ist ‘Zeitreise’, der Rückblick, eine Kontemplation für treue Weggefährten, aber auch für Novizen, die meine Musik immer mal am Rande wahrgenommen haben, aber nie wirklich eingetaucht sind. Mit dieser Kopplung können sie jetzt die Essenz meines Schaffens erleben.“
Das „Zeitreise Live“-Album blickt in die vollendete Gegenwart. Es handelt sich hierbei um den Live-Mitschnitt in Bild und Ton des Berliner Konzerts der just zu Ende gegangenen Arena–Tour.
Schiller: „Für mich stellten diese intensiven Konzerte einen gänzlich unerwarteten Neuanfang dar, der weit über die Gegenwart hinaus blickt. Die Darbietungsweise, wie wir die Stücke arrangiert haben, wie wir überhaupt den dramaturgischen Spannungsbogen der Konzerte aufgebaut haben — das ist für mich die Zeitreise in die Zukunft. Das ist die Live-Version, die für mich gültig ist. So muss Schiller live klingen und aussehen! Und das Beste ist: Wir reden hier über ein ausbau- und andockfähiges Live-Projekt, das sich auch noch weiter entwickeln kann und wird.“
Nach langen vier Jahren Tourneepause hat Schiller 2016 tatsächlich einen neuen Goldstandard für seine ins Dreidimensionale hineinreichende Musik und die Performance derselben gefunden, die die knapp 100.000 Zuschauer auf den insgesamt 15 Konzerten der „Future“-Tour staunend und beeindruckt hinterließ.
Schiller: „Für mich ist es das Geschenk des Jahrzehnts, wenn nicht sogar meiner gesamten Karriere, dass ich neue Mitstreiter gefunden habe, die mit mir zusammen gemeinsam eine extrem präzise und zugleich enorm energiegeladene Show auf die Bühne gebracht haben, die meinem Publikum ein einzigartiges Erlebnis garantiert — und mir als Künstler zugleich größte Freiheiten lässt. Wir haben viele Stücke neu arrangiert, so dass sie musikalisch eine ganz neue Wendung bekommen haben. Erst der Fortschritt in der Bühnentechnik hat bestimmte komplexe Ideen, die mir seit Jahren vorschwebten, jetzt möglich gemacht — und diesen Neuanfang hat das Publikum gespürt und angenommen.“
Tatsächlich betritt Schiller mit seinen beiden „Zeitreise“-Alben Neuland. Zum einen erzählt diese Doppelveröffentlichung die künstlerische Lebensgeschichte von einem der bedeutendsten Pioniere elektronischer Musik in Deutschland. Zum anderen zeigen die beiden Alben, dass sich das Werk Schillers in der Gegenwart und Zukunft als enorm beweglich und erneuerbar erweist — und wir auch in der Zukunft noch viel überraschendes von ihm erwarten dürfen.
Bleibt die Frage, weshalb Schiller nicht bis 2018, bis zum 20. Jubiläum des Projekts, warten konnte: „Ich tauche auch zu meinen Geburtstagen regelmäßig ab, und ein Jubiläum ist wie ein großer Geburtstag. Die beiden ‘Zeitreise’-Alben entstanden quasi im Rausch der Tour dieses Jahres und gingen mir trotz aller Komplexität leicht von der Hand. Man sollte dem Flow folgen, und das habe ich getan. Ich habe mir das Jubiläumsjahr jetzt gänzlich freigehalten für neue Ideen, für neue Musik und für einen unverstellten Blick in die Zukunft.“