Selig geben Einblick in den Entstehungsprozess hinter ihrem neuen Album „Myriaden“
Wir leben in turbulenten Zeiten. Wie reagiert man darauf als Künstler? Mit politischen Manifesten oder mit Songs, die den Menschen erlauben, kurz dem Alltag zu entfliehen? Selig schlagen auf ihrem achten Album den perfekten Mittelweg ein: „Myriaden“ ist politisch, aber zugleich wahnsinnig menschlich. Ein Aufruf für mehr Engagement, aber auch für mehr Empathie und Miteinander. „Wir sind seit geraumer Zeit, angesteckt durch unsere Kinder und Fridays for Future, Aktivisten. In unserem Proberaum ging es kaum um andere Themen als die Klimakatastrophe und den aufkommenden Faschismus“, erklärt Sänger Jan Plewka. „Wir sind einfach der Ansicht, dass im Moment mehr falsch als richtig läuft und unser Ziel war es, das auf eine selige Art und Weise auszudrücken. Auf ‚Myriaden‘ geht es darum, wie wir als Menschen miteinander und mit dem Planeten umgehen. Es ist der Versuch, aufrichtig zu sein in einer unaufrichtigen Zeit.“
Zwei Jahre lang haben Selig an dem Album geschrieben. Am Ende hatten sich 96 Songs, Ideen und Skizzen angesammelt – was eben auch daran liegt, dass ihnen so wahnsinnig viel auf der Seele brannte. Themen wie Umweltzerstörung und das irrsinnige Tempo, mit dem unsere Welt sich dreht, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Album. „Alles ist so ordinär / Ich will nicht, dass die Welt so untergeht“, heißt es in „Alles ist so“ – ein Song über falsche Mentoren und Symbole, aber auch das wunderschöne Blau unseres Planeten. In „Selig“ derweil warnt Plewka: „Feuer, Feuer überall, die Welt rast weiter mit Überschall am richtigen Moment vorbei in die Diktatur der Raserei“ – der Song ist aber zugleich ein Aufruf, den Moment zu genießen. Und im Titelsong „Myriaden“ geht es um unsere permanente Vernetztheit in einem Meer aus Bildschirmwänden. „Ich kenne ja die alte Welt noch, wo man mit einer Wählscheibe gewählt und der Kodak Ritsch-Ratsch-Klick fotografiert hat“, lacht Plewka. „Diese alte Welt ist so viel sinnlicher und prickelnder. In dem Song geht es um die Sehnsucht nach dieser Wärme und zwischenmenschlicher Liebe.“
Das ist es auch, was „Myriaden“ so besonders macht: Selig benennen zwar klar und deutlich, was ihnen gegen den Strich geht, aber das Album ist dabei nicht wütend oder gar resigniert. Denn es schwingt immer die Hippie-Hoffnung mit, dass wir das Ruder noch rumreißen können. „Selig sind die Friedfertigen“, so Plewka. „Wir wollten ein Album machen, auf dem jeder Song ein Liebeslied für den Planeten und für das Miteinander ist. Unser Traum wäre, damit einen Samen zu legen, aus dem etwas Schönes und Positives wächst.“ Und natürlich gibt es auf dem Album deshalb auch gefühlige Nummern. In dem langsam groovenden „Angesicht zu Angesicht“ zum Beispiel blickt Plewka bei einem nächtlichen Waldspaziergang seinem Spiegelbild ins Gesicht, das mit Streichern verzierte „Postkarte“ ist ein Gruß ins Jenseits an seinen verstorbenen Vater und „So lang gewartet“ könnte als erwachsene Version von „Ohne dich“ durchgehen.
Musikalisch wachsen Selig dabei über sich selbst hinaus. Vom rasenden Rockstück „Selig“ bis zur epischen Ballade „SMS K.O.“ präsentiert sich die Band experimentierfreudiger und vielseitiger denn je. „Wir haben dieses Mal irre viel gejammt“, so Plewka. „Ich habe das Glück, mit genialen Musikern in einer Band zu sein. Leo kann slappen, Christian kann Funk-Gitarre spielen – die grooven wie Sau, also warum nicht mal die Katze aus dem Sack lassen? Irgendwann haben wir uns gesagt ‚Lass uns einfach machen‘.“ Ob das lässige Funk-Stück „Spacetaxi“ mit seinem Gaga-Text über eine Reise ins All, das zugleich auch die nächste Single aus „Myriaden“ wird, oder Plewkas Flirt mit dem Sprechgesang in „Alles ist so“ – auf „Myriaden“ ist alles erlaubt. „Paradies im Traumrausch“ nimmt den Hörer mit auf einen verführerischen Psychedelic-Trip und „Süßer Vogel“ könnte auch ein französisches Pop-Chanson sein. „Als wär‘s gerade eben gewesen / als gäb’s einen Riss in der Zeit / komm ich mir noch mal entgegen / aus der Gegend der Vergangenheit“, singt Plewka in dem Stück – etwas, das Selig während der Aufnahmen des Albums selbst erlebt haben. 26 Jahre nachdem sie in den H.O.M.E. Studios des Hamburger Produzenten Franz Plasa ihr selbstbetiteltes Debütalbum aufgenommen haben, kehrten sie nämlich an genau jenen Ort zurück.
Zur Erklärung ist ein kurzer Rückblick nötig: Als Selig 1994 auf ihrem Debüt erstmals Grunge-Rock mit deutschen Texten vereinten, bescherte ihnen das sofort Dauerrotation im Musikfernsehen, ausverkaufte Shows und einen Echo. Mit ihrem deutlich psychedelischeren Zweitwerk „Hier“ feierte die Band das neue Rockstar-Leben noch, doch dann setze ein, was Sänger Jan Plewka rückblickend als „Größenwahn“ bezeichnet. „Wir alle – die Band, Franz, unser Management und die Plattenfirma – waren in einem Rausch des Ego-Wahns, wir dachten, dass wir die Band der Stunde sind und auch bleiben. Dabei kam mit ‚Blender‘ leider eine nicht so gute Platte raus und wir sind danach nicht im Guten auseinander gegangen. Weder als Band, noch mit Franz.“
Neun Jahre sollte es dauern, bis Selig bereit für ein Comeback waren. Seitdem läuft es besser denn je: Mit den Alben „Und endlich unendlich“, das Goldstatus erreichte, „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ und „Magma“ schafften es Selig in die Top 10 der deutschen Charts. Für die Aufnahmen von „Kashmir Karma“ zogen sie sich zuletzt ganz alleine in eine Blockhütte in Schweden zurück. „Das war eine tolle Erfahrung, weil wir nach dem Ausstieg unseres Keyboarders Malte dadurch als Band zusammengewachsen sind“, erinnert sich Plewka. „Dieses Mal wollten wir allerdings wieder einen Produzenten. Unser Gitarrist Christian suchte dann ein paar Leute raus und spielte uns verschiedene Titel vor. Er hat uns vorher keine Namen verraten, aber der, dessen Sound uns am besten gefiel, war ausgerechnet Franz Plasa.“
Die Magie von damals war im Studio schnell zurück. „Man kann wirklich sagen, dass wir dem Spirit unserer Jugend wiederbegegnet sind“, so Plewka. „Wir sind zwar ruhiger und konzentrierter geworden, es wurden auch weniger Drogen und Getränke konsumiert – aber das Gelächter war das gleiche. Zwischen den Aufnahmen hingen wir wie früher zusammen rum, sind mittags in Planten und Blomen spazieren oder abends ins Lemon gegangen.“
Und weil es gerade so gut groovte, kam der Band im Studio dann auch die Idee, die Songs im Anschluss an die Album-Produktion noch mal als Live-Versionen einzuspielen. Vier Songs sind Anfang Dezember bereits in Form der EP „Myriaden Live Takes“ erschienen. Das komplette Live-Album gibt es auf dem Limited Deluxe Digipack 2 CD Album und der 2 LP Limited Vinyl Fan Box. Letzterer liegt zudem ein Selig-Notizbuch bei – weil auch Plewka seit Jahren Notizbücher für seine Ideen nutzt. „Manche Leute haben Taschentücher für ihren Rotz, ich habe Taschenbücher“, grinst er. „Ich habe Zuhause eine Wand mit 200 bis 300 Büchern. Das ist meine Bibliothek, mein Heiligtum. Oft greife ich wahllos da rein, hole eins raus und finde vielleicht Zeilen, die über Jahre gereift sind wie ein guter Wein – und daraus entsteht dann ein Lied. Wenn unser Haus brennen würde, wären meine Notizbücher auf jeden Fall das erste, das ich retten würde.“
Über Selig
Als Selig 1994 ihre Debütsingle „Sie hat geschrien“ veröffentlichten, war das Staunen groß. Eine Mischung aus Grunge und Rock, aber mit deutschen Texten – das hatte bisher noch niemand gemacht. Ihr selbstbetiteltes, von Franz Plasa produziertes Debüt bescherte Selig den kommerziellen Durchbruch, doch wenig später wurden sie von ihrem eigenen Erfolg überrollt. Kurz nach Erscheinen ihres dritten Albums „Blender“ gab die Band ihre Trennung bekannt. Neun Jahre widmeten Jan Plewka, Gitarrist Christian Neander, Bassist Leo Schmidhals und Schlagzeuger Stephan „Stoppel“ Eggert sich anderen Projekten, bevor sie 2008 ihr Comeback bekannt gaben. Seitdem läuft es für Selig besser denn je: Mit „Und endlich unendlich“ (2009), das Goldstatus erreichte, „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (2010), „Magma“ (2013) und „Kashmir Karma“ (2017) haben sie vier Alben veröffentlicht und es damit dreimal in die Top 10 der deutschen Charts geschafft.
MYRIADEN erscheint am 12.03.2021 über Vertigo Berlin / LC 14513.