100 Miles From Memphis (VÖ: 30.07.2010)
Laut Sheryl Crow steht der Titel ihres siebten Albums nicht bloß für irgendeinen Ort; für sie geht es dabei vielmehr um eine ganze Weltanschauung: „Ich bin 100 Meilen von Memphis entfernt in einer Kleinstadt aufgewachsen, und das hat nicht nur meinen Musikgeschmack geprägt, sondern auch mein gesamtes Weltbild“, erklärt sie. „Wenn man von dort in Richtung Memphis fährt, sieht man weit und breit nur Felder, und die Leute, die dort leben, setzen auf die Gemeinschaft, sie sind gottesfürchtig und fest verwurzelt in dieser Region. Die Musik von dort ist ein Teil von mir, und sie ist noch immer noch die wichtigste Inspirationsquelle und der zentrale Antrieb für alles, was ich mache.“
Anders gesagt: Es gibt sowohl musikalische als auch persönliche Gründe dafür, dass die in Kennett, Missouri aufgewachsene Musikerin ihr neues Album 100 Miles From Memphis getauft hat. Schließlich kehrt die neunfache Grammy-Gewinnerin mit dem kommenden Longplayer endlich zu jenem Sound zurück, der sie überhaupt erst dazu bewegt hat, ihre eigenen Songs zu schreiben. „Ehrlich gesagt habe ich schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt, dieses Album aufzunehmen“, sagt Crow. „Als ich vor zwanzig Jahren meinen Manager Scooter Weintraub kennen lernte, erkannte er in meiner Stimme all diese offensichtlichen Südstaaten-Referenzen – Delaney und Bonnie, dazu all die Klassiker aus dem Hause Stax. Daher kam er in den vergangenen Jahren immer wieder bei mir an und fragte: ‘Und, wann machst du nun endlich dieses Album?’“
Ihre neuen Songs beschwören eine musikalische Ära herauf, als man noch die Leidenschaft der Musiker heraushören konnte, wenn man das Radio anstellte, als es im Studio noch darum ging, die Freude und den Schweiß einer Aufnahmesession für immer und ewig auf Vinyl zu bannen. Gelegentlich kann man die klanglichen Referenzpunkte – Al Green, Sly and the Family Stone, Stevie Wonder – ganz deutlich erkennen, dabei zeichnen sich die 11 Songs ihrer neuen LP insgesamt eher dadurch aus, dass sie die Energie und den Spirit von damals in sich tragen, anstatt einfach nur einen klassischen Stil zu imitieren.
Sheryl sagt über 100 Miles From Memphis, dass sie die geschmeidigen Grooves und die passenden Rhythmen letztlich nur finden konnte, weil sie auf die richtige Konstellation im Studio gesetzt hat: Die Arbeit mit den Produzenten Doyle Bramhall II und Justin Stanley („Bei den beiden wusste ich einfach, dass sie dieses klassische Soul-Feeling auch wirklich einfangen können.“), wobei die Songs größtenteils live im Studio mit den anderen Musikern eingespielt wurden, stellte die erfahrene Singer-Songwriterin allerdings vor eine Reihe vollkommen neuer Herausforderungen: „Diese Platte ist mit keiner meiner früheren Aufnahmen zu vergleichen“, berichtet sie. „Wir nahmen zwei, drei, manchmal sogar vier Tracks pro Tag auf, und das über einen Zeitraum von 10 bis 12 Tagen. Wir haben also sehr viele Songs komponiert, und die Texte konnte ich daher erst später schreiben, ich musste quasi aufholen. Insgesamt war das eine vollkommen neue Erfahrung für mich, dieses Gefühl, permanent seine Hausaufgaben erledigen zu müssen. Ich hatte echt zu kämpfen.“
Während das musikalische Fundament also bereits stand, kristallisierten sich die Themen der neuen Platte eines Nachts auf ihrer außerhalb von Nashville gelegenen Farm heraus: „Als Mutter eines Dreijährigen hat man nicht gerade viel Zeit für sich“, erzählt sie, „doch einmal hab ich die ganze Nacht durchgearbeitet und fünf Songtexte in einem Rutsch größtenteils fertig geschrieben.“
So entstand eine Reihe von Songtexten, die ungewohnt offen und direkt klingen für eine Sängerin, die sonst eher dafür geschätzt wird, mit wie viel Sorgfalt sie ihren Worten den letzten Schliff verpasst. „Diese Art von Songs verlangte einfach nach unvermittelten Gefühlen; sie mussten Sinnlichkeit und Sexualität in sich tragen, was sonst eigentlich nicht so unbedingt meine Baustelle ist“, berichtet Crow. „Oftmals fällt es mir leichter, mich hinter etwas anspruchsvolleren Texten zu verstecken. So gesehen war es großartig und zugleich gar nicht so einfach, diese Offenheit und Verwundbarkeit in den neuen Stücken durchschimmern zu lassen.“
Das Gesangs- und Gefühlsspektrum der auf 100 Miles From Memphis versammelten Songs ist in der Tat beeindruckend: Schon die erste Singleauskopplung Summer Day knüpft direkt an die glorreiche Ära der großen Radiohymnen an. „Ich wollte mal probieren, etwas ganz Einfaches und Positives zu schreiben“, so Sheryls Kommentar. „Und es sollte um die Liebe gehen – nicht etwa um einen kurzen Anflug davon, sondern um ein Gefühl, das einen ein ganzes Leben lang begleitet.“
Auf Stop, einer minimalistischen Ballade (und zugleich demjenigen Song des neuen Longplayers, den Crow ganz alleine geschrieben hat), setzt sie ihr ganzes Können als Sängerin ein, um ein paar äußerst unbequeme Wahrheiten zu verarbeiten: „In dem Fall handelt es sich um einen Appell dafür, dass in dieser Welt nicht alles immer so unglaublich schnell gehen soll. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem einfach alles nur noch außer Kontrolle zu sein scheint: Wohin man auch schaut, stößt man auf ein einziges großes Chaos. Und besonders wenn man ein kleines Kind hat, wird einem klar, dass man seine Liebsten davor beschützen will.“
Auch wenn Crows Stimme auf dem neuen Album noch deutlicher im Mittelpunkt steht als je zuvor, gibt es auch ein paar hochkarätige Albumgäste, die sich das Mikrofon während der Aufnahme-Sessions mit ihr geteilt haben. Als sie beispielsweise Eye To Eye aufnahm, ein Stück mit einem lockeren Reggae-Groove, kam ihr nur ein Gitarrist in den Sinn, dessen Riffs das passende Format hatten – die von ihrem alten Freund Keith Richards nämlich. „Für mich ist er ein absoluter Held, und die Stones haben mich immer wieder begeistert, und das seit meiner Kindheit“, sagt sie. (Als Richards dann seinen Gitarrenpart in den Electric Lady Studios aufnahm, das einst für Jimi Hendrix erbaut wurde, packte er schon bald seine Geschichten über den unvergleichlichen Gitarristen-Gott aus: „Wir alle hingen ihm an den Lippen, gebannt wie kleine Kinder zur Märchenstunde“, berichtet Crow). Auf dem leidenschaftlichen Duett Sideways ist daraufhin Citizen Cope als Gast dabei, der zugleich der eigentliche Autor des Songs ist. Auch diese Nummer, die wie noch ein paar andere Stücke von 100 Miles From Memphis mit massiven Streicher-Parts aufwartet, wollte Crow laut eigener Aussage schon seit längerer Zeit aufnehmen.
Ein weiterer Albumgast unterstreicht die Tatsache, dass Sheryl mit ihrer Musik alle Altersklassen anspricht: Ein in Memphis geborener Jungspund namens Justin Timberlake schaute nämlich in den Henson Studios in Los Angeles (dem ehemaligen A&M Studio) vorbei und ließ es sich nicht nehmen, den Hintergrundgesang für ihre Interpretation von Terence Trent D’Arbys Sign Your Name beizusteuern. Anders als die Originalversion des Mega-Hits aus dem Jahr 1987, klingt Sheryls Version jedoch eher nach Al Green, und sie zieht selbstverständlich alle Register, inklusive dem klassischen Hi-Hat-Sound aus der Ära der großen Soul-Hits. „Justin ist saukomisch und verdammt clever, und er weiß extrem viel über Musik. Ich bin auf ganzer Linie beeindruckt von ihm.“
Die letzte große Überraschung der LP, sowohl für sie selbst als auch für die Zuhörer, nahm konkrete Formen an, als sich Sheryl mit einem vergessenen Marvin-Gaye-Song namens It’s A Desperate Situation befasste: Die Melodie des Stücks erinnerte sie sofort an I Want You Back, den ersten großen Hit der Jackson 5 aus dem Jahr 1970, also sang sie kurzerhand den Text dieses Tracks dazu ein. Da ihre Stimme der von Michael Jackson fast schon unheimlich ähnlich klang, bestanden Bramhall und Stanley darauf, sofort eine Aufnahme zu machen: So entstand der Bonus-Track von 100 Miles From Memphis innerhalb weniger Minuten; nur das Intro des Songs mussten sie nachträglich hinzufügen, weil sie sofort mit dem eigentlichen Songtext angefangen hatten.
Dabei darf man nicht vergessen, dass Crow als Background-Sängerin von Michael Jackson erste Erfahrungen im Rampenlicht sammeln durfte, und sie fügt hinzu, dass I Want You Back die erste Single war, die sie sich jemals gekauft hat. „Ich hatte es gar nicht darauf angelegt, eine derartige Hommage aufzunehmen, aber schließlich entpuppte sich dieses Stück als eine äußerst emotionale Angelegenheit für mich: Der Tod von Michael hat viele Erinnerungen in mir geweckt, daher ist es großartig, dass ich mich auch auf dem Album noch einmal vor ihm verneigen konnte.“
Insgesamt ist 100 Miles From Memphis genau das Album, das Sheryl Crow an diesem Punkt in ihrer Karriere aufnehmen musste: „Mein letztes Album (Detours 2008) war ganz schön politisch; es war sehr persönlich und es ging dabei in erster Linie um die Texte“, sagt sie abschließend. „Deshalb hatte ich das Gefühl, dass es an der Zeit war, dieses Mal eine Platte mit mehr Soul aufzunehmen, bei der die Musik ganz klar im Vordergrund steht und die einfach nur sexy ist.“ Zwar mussten viele Jahre dafür ins Land gehen, doch mit ihren neuen Songs ist Sheryl Crow endlich wieder in ihrer Heimat angekommen.