YouTube-Phänomen, weltweit renommiert, als Sängerin für einen Grammy nominiert, mal introvertiert, mal extroviert und – nun ja – in jeder Beziehung das Traumobjekt eines jedes Pschotherapeuten: Sia Furler ist viele Dinge zugleich. Aber zuallererst und vor allem ist Sia Furler eine bemerkenswerte und einzigartige Künstlerin. Ihr neuestes Album „Some People Have REAL Problems“ entwickelte sich nach der Veröffentlichung im Januar 2008 nicht nur zu einem Hit in den US Billboard Charts (Platz 26). Zusammen mit ausverkauften Tourneen durch Großbritannien und durch die USA schreibt die Platte Sias Erfolgsgeschichte weiter und vergrößert ihre ständig wachsende Fangemeinde.
Gefühlsgeladene Gesangsauftritte und fesselndes Songwriting – die in Australien geborene Künstlerin, die lange in London lebte und nun nach einem kurzen Aufenthalt in L.A. derzeit in New York wohnt, erfreute sich in den vergangenen Jahren in den Staaten einer stetig zunehmenden Aufmerksamkeit. Es hatte sich herum gesprochen, dass man Sia einfach mal live gesehen haben musste und ihre verführerische Art, „verrückt zu spielen“ brachte ihr eine Heerschar treuer Fans ein, einschließlich einer beneidenswerten Zahl von A-Prominenten. Auftritte in den Shows von Conan O´Brien und Jimmy Kimmel machten sie darüber hinaus in den USA einem landesweiten Publikum bekannt.
Dazu kam, dass ihr unglaublich schöner Song „Breathe Me“ den Höhepunkt der TV-Serie „Six Feet Under“ untermalte und – auf der anderen Seite des Spektrums – ihr äußerst bizarres Video „Button“ dank der Hilfe von Promi-Blogger Perez Hilton zu einem Hit bei YouTube avancierte. Letzteres führte dazu, dass überkreative Fans das Internet mit ihren eigenen Versionen von gesicht-verzerrenden Clips überschwemmten. Wenn man dann noch weiß, dass ihre MySpace-Seite mehr als 10 Millionen Abrufe verzeichnete (von ihrem aktuellen Album wurde fast die Hälfte der Verkäufe online erzielt) – dann besteht kein Zweifel: Sia Furlers Stern steigt und steigt.
Trotzdem, und darauf weist Sia selbst hin, der Erfolg, den ihr alle voraus sagten, war kein Erfolg, der über Nacht kam.
„Es ist schon seltsam“, sagt sie mit einem irritierenden Lachen, das fast nach Schadenfreude klingt. „All die Jahre hab ich versucht, mit aller Macht erfolgreich zu sein. Und gerade als ich aufhörte, mir darüber Gedanken zu machen, kam der Erfolg. Auch darüber, als Künstlerin cool und glaubwürdig zu sein, hatte ich irgendwann aufgehört, nachzudenken. Mir war klar geworden, ich BIN eine authentische Person und will mir keine Sorgen über meine mögliche Zielgruppen machen. Und natürlich – sobald mir das klar geworden war, war ich auf einmal cool und glaubwürdig und Leute wie Kirsten (Dunst), Ryan (Gosling) oder Beck mochten meine Musik. Das ist echt total irre.“
Sias entwaffnender, manchmal schockierend ehrlicher Humor und ihre Fähigkeit über alle möglichen Dinge lauthals zu lachen, verdecken einen schmerzhafteren Teil ihrer persönlichen Vergangenheit, der jedoch immer wieder Eingang in ihre zarte und zerbrechliche Musik gefunden hat.
Für eine lange Zeit war Sia außerhalb der USA ausschließlich als jazzig-verschleppende Stimme auf den drei Alben von „Zero 7“ bekannt. Dazu gehörten das 2001 auf die Shortlist für den Mercury Prize gewählte „Simple Things“ sowie das Grammy-nominierte Album „The Garden“.
Der lange Weg der Künstlerin hin zu Coolness und Glaubwürdigkeit begann jedoch mit ihrer ziemlich unkonventionellen „Bohéme-Kindheit“, um es mal höflich zu formulieren: Sia wuchs in der „angesagtesten Straße Australiens“ auf und hatte ihre ersten Gesangsgigs bei „The Soda Jerks“, der Rockabilly-Band ihrer Eltern. Mit 17 sang sie in der Jazzfunk-Band „Crisp“: „Wir hielten uns echt für sehr innovativ“, sagt sie kichernd und rollt dabei die Augen. „Aber wir waren wohl vor allem viel zu verbissen.“
Nach drei Jahren als Frontsängerin verließ Sia die Band, packte ihre Koffer, kaufte sich ein Flugticket für einmal rund um die Welt und machte sich auf die Suche nach Ruhm und Geld. Sie ließ sich schließlich in London nieder und landete einen Top 10-Erfolg mit ihrer ersten Single „Taken For Granted“, die ein Sample von Prokofjew benutzte. Im Jahre 2001 folgte ihr von Kritikern gefeiertes, von R&B beeinflusstes Debütalbum „Healing Is Difficult“. Zuvor war jedoch Sias Welt zum erstenmal zusammengestürzt: Eine Woche bevor sie nach London gezogen war, wurde der Mann, den sie als ihre „erste Liebe“ bezeichnet, auf der Kensington High Street von einem Taxi überfahren.
„Fast das ganze Album handelte von diesem Verlust“, erzählt Sia mit einer ihr untypischen Bedachtsamkeit. „Ich war total am Arsch, als Dan starb. Ich hatte kein Gefühl mehr für gar nichts und so habe ich mit „Healing Is Difficult“, viele Dinge einfach verdrängt. Die zweite Platte, „Colour The Small One“ war dann genau das Gegenteil. Ich hatte den ganzen Schmerz in mir verschlossen, er konnte nirgendwo hin. Aber er musste raus und ich musste mich damit befassen. Ehrlich, in der Zeit hab ich sehr oft an Selbstmord gedacht. Es war furchtbar.“
In den drei Jahren nach der Veröffentlichung von „Colour The Small One“ erfuhr Sias Schicksal glücklichweise eine grundlegende Wendung. Einerseits versenkte sie ein kleines Vermögen in Therapiesitzungen, andererseits aber zahlte sich der Erfolg mit „Zero 7“ in den Staaten und ihre eigenen zahlreichen Tourneen dort endlich aus. Aufgrund der permanenten Verpflichtungen in den USA wechselte Sia im Jahre 2005 von London nach L.A., wo sie sich ein Haus mit Fabrizio Moretti teilte, dem Schlagzeuger von „The Strokes“. Später ging sie dann nach New York und zog dort in ein frisch renoviertes 450 qm-Appartment im Szeneviertel SoHo.
Vor dem Hintergrund dieser Frischzellenkur für ihren Kopf, ihr Leben und ihre Karriere, ist das aktuelle, wissend betitelte Album „Some People Have REAL Problems“ ganz sicher das überzeugendste und so vollkommen wie keines vorher in ihrem bisherigen Dasein als Künstlerin. Produziert wurde es erneut von Jimmy Hogarth – der, nachdem er sich mit „Colour The Small One“ erste Sporen verdient hatte, inzwischen auch mit Corinne Bailey Rae, James Morrison und Amy Winehouse gearbeitet hat. Sias Songwriter-Qualitäten haben dabei erstmals die Chance bekommen, durch das emotionale Dickicht hindurch zu wachsen und nun im Rampenlicht zu glänzen. Sia arbeitete für die Platte mit verschiedenen Autoren zusammen, einschließlich Rick Nowels (der sich bereits bei Madonnas „The Power of Goodbye“ und Didos „White Flag“ verewigt hatte) bei dem Song „Soon We´ll Be Found“.
Von der bitter-süßen Entschlossenheit in „Little Black Sandals“ bis zur Trennungsgeschichte „You Have Been Loved“ und der überschäumenden Freude in „Day Too Soon“, ist das Album überwältigend, bewegend und zeigt eine selbstbewusste und sich selbst mehr bewusste Künstlerin. Eine Sammlung von Songs über Verlust und über´s Weitermachen, das genauso hoffnungsvolle wie tragische Momente bereit hält, findet das Album die optimale Mitte zwischen Liebe und Verlangen. Beck, der schon bei „The Bully“ vom Album „Colour The Small One“ mitgeschrieben hatte, ist ebenfalls wieder mit von der Partie: der süßen mathematischen Liebe im Song „Academia“ schenkt er seine ihm eigene Sensibilität. Dagegen beweist das scharfkantige „The Girl You Lost To Cocaine“ eindrucksvoll, dass Sia das frühere emotionale Chaos hinter sich gelassen und dieses dunkle Kapitel geschlossen hat.
Darauf angesprochen, ist sie für einen Augenblick verwundert. „Nein, eigentlich ist dieses Album nicht autobiografisch. Es handelt nicht von mir. Oder vielleicht doch? Vielleicht schaue ich eines Tag mal zurück und stelle fest: ’Oh, schau an, es ging tatsächlich in allen Songs um mich’, keine Ahnung. Ich meine, ’The Girl I Lost To Cocaine’ fiel mir einfach so ein, ich kannte damals keinen persönlich, der mit Koks zu tun hatte. Andererseits faszinieren mich Süchte. Ich bin süchtig nach Menschen, vor allem Menschen, die nicht gut oder gesund für mich sind und ich mache mir zum Beispiel ständig Sorgen, eines Tages Alkoholikerin zu werden. Also hat das alles vielleicht auch damit zu tun.“
„Aber ich glaube nicht, dass man ganz unten sein muss, um über diese Gefühle zu schreiben. Du kannst total traurige Geschichten erzählen, die mit dir persönlich zu tun haben oder du fühlst dich in Situationen rein, die Freunde von Dir erlebt haben. Ich habe gemerkt, du musst kein verkorkstes Leben führen, um solche Songs zu schreiben. Also echt, mir geht´s viel besser heute, es gibt kaum Konflikte oder dramatische Momente in meinem Leben. Naja, dafür hat man ja einen guten Therapeuten.“
Tatsächlich ist Sias Leben im Moment so aufgeräumt, dass sie derzeit aus ganz anderen Gründen fürchtet, das Gespür für die Wirklichkeit zu verlieren. Der Albumtitel „Some People Have REAL Problems“ spricht daher Bände. „Das war so´n running gag während der Aufnahmen. Wir redeten ständig über unsere gutbürgerlichen Probleme, wie den Verkehrsstau oder schlechten Kaffee. Wir mussten uns immer daran erinnern, dass andere Leute RICHTIGE Probleme hatten, wie zum Beispiel keine Mutter oder keine Beine mehr zu haben.“ Dabei lacht sie laut auf und lehnt sich dann verschwörerisch herüber. „Ganz ernsthaft, mein Leben ist echt toll derzeit. Mein Appartment ist größer als Madonnas Haus, ich werde ziemlich reich und berühmt und so hab ich ein bisschen Angst, ein verdammter Arsch zu werden. Der Albumtitel soll mich daran erinnern und mich immer wieder in die Realität zurück holen.“
Dan Gennoe