Seit sie vor über zehn Jahren das erste Mal miteinander musizierten, bilden Enrico Rava und Stefano Bollani das, was man gerne eine kongeniales Gespann nennt. Der junge Pianist war nicht nur Mitglied des Quintetts, mit dem Rava 2003 für ECM sein preisgekröntes Album “Easy Living” aufnahm, sondern spielte auch in anderen Konstellationen mit dem Trompeter: Im Trio mit dem New Yorker Schlagzeuger Paul Motian nahmen sie 2004 das Jacques Tati gewidmete Album “Tati” auf, das von den beiden französischen Fachblättern Jazzman and Jazz Magazine zum Album des Jahres ernannt wurde, in trauter Zweisamkeit wiederum schufen sie “Rava Plays Rava” (Philology, 2000) und das Live-Album “Montreal Diary/B” (Label Bleu, 2002). Nun haben die beiden bekennenden Filmfans, deren Musik oft eine sehr bildnerische Kraft besitzt, ihr drittes Duo-Album “The Third Man” vollendet.
Es ist natürlich eine Hommage an Orson Welles und den Film Noir, indirekt aber auch an den dritten Mann hinter diesen Aufnahmen: den Produzenten Manfred Eicher, von dem man – im Schatten des linken Bildrands stehend – auf dem Cover nur die Schuhe sieht. Neben selbst verfaßten Stücken präsentieren die beiden lyrischen Freigeister auch traumhafte Interpretationen von Tom Jobims “Retrato em branco e preto” und Bruno Martinos “Estaté”.
Aufgenommen haben die beiden das Album im Auditorio Radio Svizzera in Lugano. “Wir mögen die Atmosphäre in Lugano und auch wie ECM uns aufgenommen hat. Wir konnten zusammen in einem Raum spielen und brauchten keine Kopfhörer”, berichtet Bollani. “So hat man nicht den Eindruck in einem Studio zu sein – aber es ist auch nicht wie bei einem Konzert. Wir haben zwar schon vorher als Duo Aufnahmen eingespielt, aber wir hatten bislang weder ein Konzert gegeben noch ein Album gemacht, das auch nur annähernd so geklungen hätte. Diese Aufnahme hat einen wirklich eigenen Charakter.”
Der 1972 in Mailand geborene Stefano Bollani war erst dreizehn Jahre alt und studierte als frühreifes Talent am Konservatorium in Florenz, als er Rava das erste Mal in einem Konzert erlebte. Für ihn war es nicht nur eines der ersten Konzerte, die er überhaupt besuchte, sondern zugleich auch ein Schlüsselerlebnis. Damals fing er gerade an, seine musikalischen Optionen auszuloten. Inspiriert wurde er von klassischer Musik sowie internationaler und italienischer Popmusik. Die Möglichkeiten des Jazz begann er erst zu erahnen. Als ihm Rava später den Ratschlag gab, die Popmusik an den Nagel zu hängen und die Improvisation zu seiner Priorität zu machen, betrachtete der Pianist den Trompeter fortan als seinen Mentor. Aber selbst als sie das erste Mal zusammenspielten, bestand zwischen ihnen kein simples Lehrer-Schüler-Verhältnis: Von Anfang an, so Bollani, zeigte sich Rava seinen melodischen Vorschlägen gegenüber aufgeschlossen, griff sie auf und errichtete auf ihnen seine eigenen solistischen Statements. Diesem Muster sind sie bis heute treugeblieben. Zusammen entwickelten sie eine sehr weitreichende musikalische Sprache, die ebenso kongruent wie schlagfertig, unvorhersehbar und poetisch ist. Bollani stellt seine phänomenale Technik stets in den Dienst der Musik, während Rava mit immer klarer werdender Stimme auf seiner Trompete singt.
Enrico Rava wurde 1939 in Triest geboren. Musikgeschichte schrieb der Trompeter, als er in den 60er Jahren als erster italienische Jazzmusiker in der internationalen Improvisationsszene Akzeptanz fand. So richtig Auftrieb erhielt Ravas Karriere 1962 durch die Zusammenarbeit mit dem argentinischen Saxophonisten Gato Barbieri. Danach wurde er Mitglied der Band von Steve Lacy und nahm mit dieser 1966 in Buenos Aires das legendäre ESP-Album “The Forest And The Zoo” auf. Während eines längeren Aufenthalts in New York arbeite Rava mit Carla Bley (“Escalator Over The Hill”), Lee Konitz, Cecil Taylor, Don Cherry, Charlie Haden, Archie Shepp und vielen anderen Jazzgrößen. Nachdem er bereits die Soloalben “Il Giro Del Giorno In 80 Mondi” (1972) und “Quotation Marks” (1973) veröffentlicht hatte, gründete er mit dem Gitarristen John Abercrombie, dem Bassisten Palle Danielsson und dem Schlagzeuger Jon Christensen seine erste feste eigene Band. Mit ihr ging er für ECM zweimal ins Studio, um “The Pilgrim And The Stars” (1975) und “The Plot”(1976) aufzunehmen. Von gleicher Bedeutung war auch das Quartett, das er 1978 mit dem Posaunisten Roswell Rudd bildete. 1986 leitete er zusammen mit dem argentnischen Bandoneón-Spieler Dino Saluzzi ein Quintett, das das hochgelobte Album “Volver” für ECM einspielte. Erst 2003 kehrte Rava wieder für eigene Aufnahmen zum ECM-Label zurück: “Easy Listening”, das ECM-Comeback-Album, auf dem auch Stefano Bollani mitwirkte, gilt als eine der besten Platten, die Enrico Rava im Laufe seiner langen Karriere gemacht hat. Durch diese Aufnahme wurde Produzent Manfred Eicher auch auf den hochtalentierten Stefano Bollani aufmerksam, der im August 2005 mit “Piano Solo” sein ECM-Solodebüt geben durfte.
Bollani wird im Dezember in Wien als bester europäischer Jazzmusiker mit dem Hans-Koller-Preis ausgezeichnet werden, den vor ihm u.a. schon die ECM-Kollegen Tomasz Stanko und Bobo Stenson gewannen.