Man nennt sie nur “The Frontline”: Eine Straße in Brixton, Süd-London, die sehr viel erlebt hat – weitaus mehr als “nur” Heavy Vibes und verrückte Szenerien.Und da ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, dass genau dies der Ort ist, den die Stereo MC’s als ihre neue kreative Heimat erkoren haben. Tief unter dem Asphalt haben sie sich ein Studio eingerichtet, einen Raum für sich in den Ruinen eines leerstehenden Hauses – das auch bereits als Herberge eines illegalen Nightclubs diente. Genau hier ist es, wo nach fast 9 Jahren Stille plötzlich wieder Musik ertönt…
Ein Album und eine Single, beide “Deep Down And Dirty” betitelt, markieren die Rückkehr der Stereo MC’s. Nach einer Auszeit, die ihresgleichen sucht und während der sich die beiden Köpfe – der Sänger/Songwriter/Produzent Rob Birch und der musikalische “Kopf” Nick “The Head” Hallam – immer wieder fragten, wer sie eigentlich sind, was ihre Stellung ist und wie sie die Zukunft gestalten sollten. Und wie der Titel schon sagt, sie gingen “deep down” in sich, entfernten all den “dirty” Müll, der herumlag – um schließlich das wieder ans Tageslicht zu kehren, was einen wirklichen Stereo MC ausmacht.
“Man macht so einige Sachen, und die entwickeln sich dann wie von allein weiter, gehen ihren eigenen Gang nach ihren eigenen Gesetzen”, grübelt Rob. “Und eine lange Zeit kannst du dich da einfach mitziehen lassen, alles so nehmen, wie es kommt und alles ist bestens. Aber dann kommen wieder Zeiten, da bist du plötzlich nicht mehr glücklich darüber, nur ein Teil einer Welle zu sein, die dich einfach mitreißt. Du musst dann tief in dich gehen, um wieder Biss in die Sache zu bringen. Du musst aufhören, darüber nachzudenken, was dich so frustriert, dich verunsichert – du musst dich davon lösen und wieder selbst das Ruder in die Hand nehmen. Es ist schön, wenn man das Glück hat, dass die Sachen eine zeitlang wie von allein klappen. Aber es kommt immer wieder der Punkt, an dem du dich selbst in den Allerwertesten treten solltest, um die Dinge so zu steuern, wie nur du es willst. Für mich persönlich ist dies der Punkt – nur wenn ich aus diesem Antrieb heraus Musik mache, passt es, erst dann bekomme ich dieses tiefe Gefühl für die Musik.”
Und es ist genau diese Tiefe, die den Stereo MC’s und ihrer Musik diesen Nachdruck verleiht. Es gibt kaum Künstler, die es schaffen, nach fast einer Dekade in der Versenkung plötzlich wieder aufzutauchen. Aber in Wirklichkeit waren die Stereos eigentlich nie ganz weg. Sie waren zwar in letzter Zeit nicht so präsent wie in dem Schmelztiegel der frühen ’90er, aber ihr ’92er, mit dem Brit-Award ausgezeichnetes Album “Connected” und besonders der gleichnamige Titeltrack waren mehr oder weniger stets präsent – und sei es in der Werbung, in Filmen oder TV-Jingles.
Doch nicht nur ihre Musik schwebte irgendwie ständig in der Atmosphäre, auch die Einflüsse, die sie in der Szene hinterließen, und ihre unbekümmert-experimentelle Art, Musik zu schaffen, waren immer da und sind heutzutage aus der Musik nicht mehr wegzudenken – nicht zuletzt dadurch, dass sie neben den Stereo MC’s eben auch Künstler sind, die für andere remixten, produzierten, Labels und Publishing Firmen betrieben… Und trotz ihrer Dance-Music-Roots glaubten sie immer daran, dass es äußerst wichtig ist, Live-Gigs zu spielen. Auch hier hinterließen sie tiefe Eindrücke. Denn was noch kurz vor der Geburtsstunde der Stereo MC’s sehr ungewöhnlich war, ist heute musikalischer Alltag.
Angefangen hatte alles in Nottingham, mit der Freundschaft zwischen Rob und Nick. Sie kannten sich bereits seit frühester Schulzeit, gründeten ihre erste Band allerdings erst 1987, als sie die Midlands schon längst Richtung London verlassen hatten. Es ist eben einfach leichter, musikalisch Gleichgesinnte in London zu finden, einer Stadt, in der die kulturellen Einflüsse, die Atmosphäre und der Umgang mit der Musik an sich einem steten Wandel unterliegen. Motiviert durch die Energie und die Vitalität des amerikanischen HipHops, der mehr und mehr ins Land sickerte, und durch die Simplizität von zwingenden Normen befreit, begannen Stereo MC’s Gestalt anzunehmen. Zusammen mit Jon Baker, einem Unternehmer in Sachen Musik und Mode, starteten sie ihr eigenes Label Gee Street.
1987 erschien die Debüt-Single “Move It”, mit der die Stereo MC’s das Interesse von Island Records weckten, die sie dann auch unter Vertrag nahmen. Und obwohl sich die Verkäufe der Single und auch die des Nachfolgers “What Is Soul?” eher bescheiden entwickelten, war Island der Meinung, dass ein Album der Stereo MC’s eine schlaue Investition wäre – also wurde, für ein wirklich kleines Budget von nur ca. .000, das Debüt-Album “33 45 78” eingespielt.
Das Album wurde 1988 veröffentlicht, und Nick und Rob verstärkten das Band Line-up durch den in Italien geborenen DJ Cesare und dem walisischen Drummer Owen Rossitter aka Owen If. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde auch der Band selbst klar, welch' großes Live-Potential in ihr steckte.
Mit dieser kleinen Live-Besetzung die Bühnen zu rocken war schon toll, doch es stellten sich auch ein paar Probleme ein. Die wankelmütigen HipHop-Fans waren sich nicht wirklich darüber im klaren, was sie mit einer so besonderen Gruppe wie den Stereos anfangen sollten, die ja eigentlich doch auch irgendwie Dance-Music machten – sicher ein Grund dafür, dass sie zunächst nur in kleinen, ausgesuchten Clubs spielen konnten. Auf der anderen Seite hatten sie mit Cesare dieses besondere Etwas anzubieten, das die HipHop-Gemeinde beschwichtigte und deren Wunsch nach Authentizität befriedigte. Während Owen seinen Teil dazu beitrug, die Rock-Promoter davon zu überzeugen, dass sie eine echte, ehrliche Band sind.
Mit ihrer eigenen Club-Night “W11 Express” im Tabernacle in Notting Hill, und einer landesweiten Tour mit eigener Beleuchtung, eigenen Background-Filmchen und Bühnen-Hintergründen und DJs, schafften es Stereo MC’s dann aber schließlich, sich ihren Ruf als eine wirklich großartige Live-Attraktion zu erspielen.
Als es dann für die Band an der Zeit war, die Aufnahmen für ein zweites Album zu starten, übernahm Cath Coffey den Gesang – und Cesare verließ die Band. “Elevate My Mind”, die erste Single-Auskopplung aus dem zweiten Album “Supernatural” (1990), wurde ein fetter Hit. Als ein Produkt der Londoner Clubs und dem festen Glauben der Band in ihr eigenes Können, schaffte es der Track weit über ihre kühnsten Vorstellungen hinaus. Nach Amerika.
Es wird oft gesagt, dass der Prophet im eigenen Lande nichts gilt, und – passend zu dieser Aussage – waren Stereo MC’s noch damit beschäftigt, Großbritannien ihre grandiose Mixtur verschiedenster Subkulturen näherzubringen, als die Amerikaner bereits auf den Geschmack gekommen waren. Der erste große Hit in den Staaten war gelungen, was aufgrund des sehr eigenen britischen Stils und Sounds etwas bizarr erschien. Die Tatsache, dass eigentlich niemand wusste, wie man das, was Stereo MC’s machten, stilistisch betiteln könne, schien allerdings kein wirkliches Problem zu sein…
Auch und gerade als Live-Act kann der Einfluss der Stereo MC’s gar nicht hoch genug eingeschätzt werden – obwohl natürlich auch andere Events wie beispielsweise das “American Lolapalooza”-Festival dazu dienten, Stil-Grenzen zu überschreiten, ja einzureißen. Wenn beispielsweise The Prodigy ihr Set vor einem durchdrehenden Festival-Publikum spielen, sieht man das Vermächtnis der Stereo MC’s “in action”. Jeder, der sie Anfang der ’90er zusammen mit den Happy Monday auf Tour erleben konnte (im UK und in den USA), spürte das – auch die Fans der Mondays, die ebenfalls auf das Material der Stereos abfuhren. So war der Erfolg dann eigentlich nur mehr Formsache…
1992 erschien das dritte Album “Connected” und lieferte eine sehr songorientierte und sofort auf den Hörer überspringende Mixtur all der Elemente, die die Formation ausmachten. Der Titelsong, ein massiver, treibender Funk-Knaller ohne wirklichen Refrain entwickelte sich zu dem Top 20-Hit des Sommers. Selbst jetzt, nach vielen Jahren und bis zum Abwinken gehört, klingt der Track immer noch frisch und unverbraucht – weshalb es eigentlich auch nicht weiter verwunderlich ist, dass Filmregisseure, Sport-Sender oder große Warenhäuser auch heutzutage diesen Song noch gern in ihrer Werbung verwenden.
Drei weitere Single-Auskopplungen aus “Connected” gingen in die Top 20, das Album selbst schaffte Platz 2 der britischen Longplay-Charts und behauptete sich mehr als ein Jahr in den höheren Chart-Positionen. Währenddessen die Band – auch zum ersten Mal für einen aus dem Rap stammenden Act – zusammen mit U2 die größten Stadien in Europa füllte. Der riesige Einfluss, den die Band hatte, kombiniert mit dem ebenso wichtigen kommerziellen Erfolg ließ schließlich auch die britische Musik-Industrie aufhorchen – und so waren dann die Brit-Awards im Jahr 1994 für “Best Band” und “Best Album” die mehr als überfälligen und verdienten Auszeichnungen.
Dann plötzlich war alles vorbei. Jedenfalls schien es so. Tatsächlich nahmen Nick und Rob einfach eine wohlverdiente Auszeit von der “Album-Single-Tour”-Tretmühle, um ihre Energien in andere Projekte zu stecken.
Ihr Response Records Label ging zur RCA, aber – abgesehen von ein paar tollen Veröffentlichungen – war das eigentlich zu keiner Zeit eine gute Verbindung. Die beiden Freunde stellten weiterhin eine Music Publishing-Firma namens Spirit Songs auf die Beine, bei der u.a. Jurassic 5 und Finley Quaye gesignt wurde. Es erschienen Remixe der beiden unter ihrem Pseudonym Ultimatum, und – back to the roots – traten sie auch wieder als DJs auf.
Nichtsdestotrotz hatten sie nie damit aufgehört, an neuem Song-Material zu arbeiten, was aber zugegebenermaßen nicht von Erfolg gekrönt war. Die intensiven Tourneen, die dem Album “Connected” folgten, forderten ihren Tribut und blockierten die Kreativität ziemlich nachhaltig.
“Man kann das letztendlich nicht richtig beschreiben”, versucht Nick zu erklären, “aber vielleicht hätten wir wirklich einfach mal eine Pause einlegen sollen. Das taten wir aber nicht, wir arbeiteten immer weiter an neuen Tracks, an neuer Musik. Das war das eine Problem. Das andere waren die sehr langen, intensiven Tourneen – ich bin mir sicher, dass keiner, der das je gemacht hat, hinterher noch ein vollkommen heiles, intaktes Privatleben hat.”
So kam also nach “Connected” konsequenterweise die “Disconnected”-Phase: Es war einfach an der Zeit, alles noch mal zu überdenken. Nach Stunden unproduktiver, unkreativer Aufnahme-Sessions in mehreren Londoner Studios gingen Nick und Rob “back to basics”. Dann kam der Kauf ihrer neuen “Frontline”-Basis, ihres neuen Studios, was sich zum Katalysator entwickeln sollte. Nach etwas mehr als einem Jahr harter Arbeit war das Studio schließlich fertiggestellt, und nun hatten die beiden Musiker einen Ort, der nur ihnen gehörte, in dem sie sich wieder als Gruppe zusammenfinden und einen neuen Start beginnen konnten. Sie veröffentlichten ein Mix-Album Anfang 2000 (in der DJ Kicks-Reihe des K7 Labels), eine Erfahrung, die sie wieder dazu brachte, zu fühlen, wie es ist, ein Album zu kreieren und auch tatsächlich fertigzustellen. Das “uns auch dabei behilflich war, andere Sphären zu erforschen, uns über einige Dinge in unseren Köpfen wieder klar zu werden”, so Nick.
Sie besannen sich auf ihre Roots, gingen in sich und das Resultat ist “Deep Down And Dirty”. Rob erklärt: “Viele glauben, dass es irgendwo einen Ort gibt, an dem man keine Probleme mehr hat und alles schön ist – doch den gibt es definitiv nicht! Zum Glück. Es gibt immer etwas, mit dem du dich rumschlagen musst, wenn du ein normales Leben führst – und genau das brauchst du auch, wenn du auf der Suche danach bist, etwas zu tun, was bisher eben noch nicht getan wurde. Also wirst du nie wirklich ohne Probleme sein – anzunehmen, dass es so wäre hieße, die Augen davor zu verschließen. Jedesmal wenn ich eines gelöst habe, sehe ich schon das nächste kommen. Je mehr Lust du darauf bekommst, Probleme zu lösen, um so mehr bist du gefestigt, dich voranzubewegen.”
Und die Stereo MC’s haben sich immer bewegt, nach vorn, zur Seite, nach oben. Sie haben immer die musikalische Welt erforscht, ihren Horizont erweitert, hier und da einige Elemente aufgesammelt und diese in ihren eigenen, einzigartigen Sound eingearbeitet. Sie haben wieder von vorn begonnen und so auch den Hörer immer wieder überrascht.
Und dieser Tradition bleiben sie auch jetzt treu. Denn es ist an der Zeit, mit den Stereo MC’s “Deep Down And Dirty” abzufeiern, zurückzukehren zu der kreativen Bissigkeit, die nötig ist, stilistische Grenzen aufzulösen und zu überwinden.
The Stereo MC’s are back