“There’s been a time for war, a time for strife, a time set aside for everything under the sun. We must now set aside a time for love.” – Stevie Wonder
Über Zahlen zu sprechen, ist derzeit ja schwer en vogue in der Welt des Pop und des Glitzerglams. Neun (Schüsse musste 50 Cent empfangen, bevor er zur globalen Posterfigur des HipHop werden konnte). 28 (Wochen verbrachte Usher im vergangenen Jahr mit seinen Singles auf dem Platz den der Billboard-Sonne). Und 41 (Zentimeter Umfang maß noch Kylie Minouges Hüfte nach der Anlage ihres neuestens Korsetts). Vielleicht sollten wir also auch einmal über Zahlen sprechen… 19 (Grammys). 24 (Nummer-Eins-Hits). 72 Millionen (verkaufte Alben). Keine Frage: Stevie Wonder ist einer der Größten, den die Musikwelt je gesehen hat.
Dabei redet der mittlerweile 55-jährige Ausnahmekünstler gar nicht so gerne über Zahlen. Sein Thema ist die Liebe. “Die Zeit ist reif für die Sprache der Liebe”, sagt er über sein großartiges neues Album “A Time To Love”, sein mittlerweile 36. übrigens. “Und ich spreche hier von jeder nur denkbaren Form von Liebe. Die Liebe zu deinem Partner, deinem Bruder oder deiner Schwester. Die Liebe für die Menschheit, die Liebe für den Glauben – ganz egal. Bei der Arbeit an diesem Projekt hatte ich alle Formen von Liebe im Sinn.”
Auf diese Weise ist ein reifes Album voller Soul entstanden, das Manifest eines musikalischen Genies, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, sich immer wieder selbst zu erneuern. “A Time To Love” paart die Entertainer-Qualitäten des einstigen Wunderjungen Stevie Wonder mit dem erdig-experimentellen Spirit der frühen Siebziger Jahre und diesem einzigartigen Gefühl für bewegende Melodien, das Welthits wie “I Just Called To Say I Love You” oder “Happy Birthday” hervorbringen konnte. Bestes Beispiel für diese zeitlose Größe ist die erste Single “So What The Fuss”, die niemand Geringeren als Prince an der Gitarre und En Vogue als Background-Sängerin featuret.
Die anderen Songs jedoch stehen dem in nichts nach. Da ist das programmatisch betitelte “Positivity”, das kaum besser passen könnte in diese mitunter bedrückende Zeit voll Sorge und Not. Da ist das brillante “From The Bottom Of My Heart”, das einen reifen Songwriter auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Fähigkeiten zeigt. Und natürlich ist da der wundervolle Titelsong “A Time To Love”, ein Duett mit der Grammy-dekorierten Motown-Kollegin India.Arie. “Ich versuche Musik zu machen, die zeitlos ist”, so Stevie Wonder über sein Schaffen. “Für mich geht es immer um die Energie, die ich spüre. Der einzelnen Song ist nur eine Art und Weise, diese Energie zum Ausdruck zu bringen.” Wie gut ihm das gelungen ist, fasst seine Labelchefin Sylvia Rhone mit so einfachen wie treffenden Worten zusammen: “Es ist ein sehr lebendiges Album von einem grossen Künstler, ohne den die Musikwelt um vieles ärmer ware.”
Stevie Wonder wird 1950 als Stevland Morris in Saginaw, Michigan geboren. Seine ersten Jahre in der Musikindustrie tragen tatsächlich Züge eines kometenhaften Aufstiegs. Von Ronnie White von den Miracles (die einst die Motown-Ära lancierten und Berry Gordy seine erste Goldene Schallplatte bescherten) entdeckt, hat er noch vor dem elften Geburtstag seinen Plattenvertrag in der Tasche. Im September 1962 erscheint bei Tamla sein erstes Album “The Jazz-Soul Of Little Stevie”. Wonder spielt darauf Piano, Harmonica, Orgel und Drums, seine Fertigkeiten an allen Instrumenten treibt und spornt die Kritiker zu einer Myriade von Lobeshymnen an. Seine nächste LP, die Ray Charles-Hommage “Tribute To Uncle Ray”, wird zwar bestenfalls als liebenswürdige Okskurität rezipiert und dürfte heute allenfalls noch für Die-Hard-Fans von Interesse sein. Doch schon 1963 feiert Stevie Wonder den ersten ganz großen Triumph seiner unvergleichlichen Karriere: Als erster Künstler der Billboard-Geschichte belegt er gleichzeitig in Single- (“Fingertips Pt.2”) und Album-Charts (“Recorded Live – The 12 Year Old Genius”) den Platz an der Sonne.
Stevie Wonders erste große Schaffensperiode bis 1971 bringt nicht weniger als 14 weitere Alben, darunter zwei “Greatest Hits”-Kopplungen, ein Live-Album und die Weihnachtsplatte “Someday At Christmas” von 1967. Deren Titeltrack zeigt schon früh sein herausragendes Talent auf, politische Botschaften über ergreifende Melodien zu transportieren: Stevie bezieht sich u.a. auf den Vietnam-Krieg und die Bürgerrechtsbewegung, die wenige Jahre zuvor im Marsch auf Washington und Martin Luther King Jr.’s “I Have A Dream”-Rede ihren Höhepunkt gefunden hatte.
1971 stellt insofern einen gewichtigen Einschnitt in Stevie Wonders Karriere dar, als mit diesem Jahr sein erstes Plattenvertrag ausläuft. Er löst sich von den Vorgaben und Vermarktungsmechanismen der Industrie, die er zunehmend als Einengung seiner persönlichen und künstlerischen Freiheit empfunden hatte, und geht für eine Weile nach New York, um musikalisch wie menschlich zu experimentieren. Als er schließlich doch einen neuen (Produktions-)Deal mit Motown unterschreibt, geschieht dies zu seinen Konditionen. Erneut erweist sich Stevie Wonder also als früher Vogel: Mit nur 21 Jahren hat er die komplette kreative Kontrolle über sein Werk.
Es beginnt eine der interessantesten Phasen in Wonders Karriere. Die Alben “Music Of My Mind”, “Talking Book” (beide ‘72) und “Innervisions” (‘73) zeigen einen selbstbewussten, multiinstrumentalen und offenen Stevie auf der Höhe seiner Kunst. Die Themenpalette wird um spirituelle und persönliche, aber auch um soziale und politische Issues ergänzt. Die Kompositionen und Arrangements werden komplexer, sein Songwriting dabei immer ausgefeilter. 1976 erscheint – quasi als logische Konsequenz dieses künstlerischen Reifeprozesses – sein bislang wohl beeindruckendstes Opus, “Songs In The Key Of Life”. Ein Doppelalbum mit geschätzten zehn Welthits und einer zeitlosen, originären Soul-Signatur, auf dem ein kompakter Soulsong wie “Pasttime Paradise” ebenso natürlich Platz findet wie die ausufernden Dancefloor-Monster “Sir Duke” oder “Another Star”. Welchen Einfluss “Songs In…” auf den weiteren Verlauf der Popgeschichte hat, zeigt allein schon die immense Zahl von Coverversionen und Remakes in Anschluss an diese Platte: George Michaels und Mary J. Bliges “As”, Coolios “Gangsta’s Paradise” oder “Outro Lugar” werden allesamt Hits ‘in their own right’. Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass “Songs In…” die Spitze der Billboard-Popcharts entert – nach “Fulfillingness' First Finale” das zweite Nummer-Eins-Album in Folge für den mittlerweile 26-jährigen Soulster.
Stevie Wonder jedoch nimmt den großen Erfolg nicht als Anlass zur Ruhe, sondern vielmehr als künstlerische Herausforderung auf. 1979 nimmt er das weitgehend instrumentale “Journey Through The Secret Life Of Plants” auf, das als Soundtrack zu einem Dokumentarfilm dient. Er performt diese Platte mit einem afro-amerikanischen Synphonieorchester im “Metropolitan House” und setzt damit seine subtile (rassen-)politische Arbeit fort. 1980 dann antwortet er auf die langsam lauter werdenden Vorwürfe, er könne keine kommerziell erfolgreiche Musik mehr schreiben: Sein Album „Hotter Than July“ enthält das großartige „Master Blaster (Jammin`)“ (das zur Jahrtausendwende in der 2Step-Garage-Version von DJ Luck & MC Neat zu einem der größten Hits der Dance-Szene wird) und natürlich die Martin Luther King-Hommage „Happy Birthday“.
Damit sind die Claims endgültig abgesteckt. Die Siebziger Jahre haben Stevie Wonder nicht weniger als 15 Grammys und vier American Music Awards eingebracht, die unglaubliche Vielfalt seiner insgesamt zwölf Alben zwischen 1970 und 1980 hat ihn zudem musikalisch unantastbar gemacht. Zeit für das ehemalige Wunderkind, seinen Einflussbereich weiter auszudehnen und insbesondere politisch nutzbar zu machen. 1983 kommt es zur Aufzeichnung der mittlerweile legendären „Saturday Nighht Life“-Folge, in der Stevie an der Seite seines brillanten Imitators Eddie Murphy ein feines Gefühl für Selbstironie beweist. Ein Jahr später folgt der erste Oscar: „I Just Called To Say I Love You“ aus dem Soundtrack zu Gene Wilders „Lady In Red“ wird als Bester Song ausgezeichnet und führt gleichzeitig die Hitlisten in Großbrittanien, Deutschland und den USA an. Zu Beginn des Folgejahres macht ihn diese riesige Popularität zum zweiten Solisten auf der von Michael Jackson und Lionel Richie geschriebenen Benefiz-Hymne “We Are The World”. Und als im Januar 1986 erstmals in 17 US-Staaten Martin Luther King Jr.’s Geburstag mit einem offiziellen Feiertag zelebriert wird, ist dies auch ein Sieg von Stevie Wonder, der sich jahrelang vehement für diesen Schritt eingesetzt hat.
1991 nimmt Stevie den Soundtrack zu Spike Lees “Jungle Fever” auf und stellt einmal mehr seine einzigartige Fähigkeit unter Beweis, sich den Emotionen der großen Leinwand mit seiner eigenen musikalischen Sprache zu nähern. 1996 erhält er – auch dafür – den Grammy Lifetime Achievement Award, 2004 dann den Billboard Century Award, die höchste Auszeichnung, die der Billboard für künstlerische Errungenschaften bereithält. Stevie Wonder aber ist weit davon entfernt, nur eine blasse Erinnerung in der Rock & Roll Hall of Fame zu sein. “So What The Fuss” bekam allein in seiner ersten Woche 418 Radio-Spins – mehr als jede andere Single zuvor in den Billboard Adult R&B-Charts. Der HipHop-Produzent du jour, Madlib, nahm 2003 unter seinem “Yesterday`s New Quintet”-Alias eine Tribute-Platte namens “Stevie” auf. Und die Protagonisten des Neo Soul-Movements wie Alicia Keys oder Dwele verneigen sich geschlossen vor Stevie Wonder, diesem großartigen Sänger, Songwriter, Multiinstrumentalisten. Sie verneigen sich vor seinem Werk, das das ihrige so entscheidend mitgeprägt hat und weiter prägen wird. Sie verneigen sich vor Songs wie “Superstition”, “Too High”, “Part-Time Lover”, “Don`t You Worry `Bout A Thing” oder “ These Three Words”. Sie verneigen sich vor seinen Kollabos mit Quincy Jones, Ray Charles, Bono, Paul Mc Cartney, Sting, Whitney Houston, Wyclef Jean, Barbara Streisand, Marvin Gaye, Jimi Hendrix, den Rolling Stones, den Beach Boys, Frank Sinatra. Und sie verneigen sich vor seinem niemals ruhenden Kampf gegen Hass und Diskriminierung.
Stevie Wonders Geschichte ist die Geschichte einer musikalischen Ikone, die den Weg gefunden hat in die Herzen von Millionen von Menschen – mit “A Time To Love” hat er ihr nun ein weiteres beeindruckendes Kapitel hinzugefügt.