Egal an welcher Stelle man in das fünfte Album “Creation” von The Pierces hineinhört, man kommt unmöglich am Gefühl neu entdeckter Möglichkeiten vorbei, das jeden einzelnen Ton durchdringt. “If we want to, we could do what kings do”, singen Allison und Catherine Pierce in “Kings”, einer lawinenartigen Überlegenheitserklärung der Liebe über ihr Gegenteil.
Im schwer ohrwurmverdächtigen Refrain offenbaren die Stimmen der Schwestern bei jedem abermaligen Hören neue Klangfarben. Worüber man auch immer spekulieren mag, eines steht fest: Faul sind sie nicht gewesen. Weit gefehlt sogar. Wie schon auf seinem mit Gold ausgezeichneten Top−5-Vorgänger “You & I” stehen die kunstvoll verwobenen Stimmen der Schwestern auch hier im Zentrum von herausragenden Songs wie “Confidence In Love” und dem gleichnamigen Opener des Albums.
An anderer Stelle beschwören Highlights wie “The One I Want” und “Must Be Something” Hooks aus Herzschmerz herauf, die in ihrem sehnsuchtsvollen Schmachten an Stevie Nicks und die jungen Heart erinnern. Und weil man es hier mit The Pierces zu tun hat, vergehen kaum eine oder zwei Minuten, ohne dass man der angenehmen Täuschung anheimfällt, die gute Popmusik stets begleitet: Das scheinbare Déjá-vu-Erlebnis.
All das ist Lichtjahre entfernt von den Umständen, die ihr Debüt-Album “You & I” hervorgebracht haben. Man darf nicht vergessen, dass “You & I” das Album war, mit dem sich The Pierces endlich etwas vom Schatten der zehn Jahre falscher Anfänge befreien konnten. Mithilfe einiger Folk-lastiger Radiohits wie “It Will Not Be Forgotten” und “Glorious” machte es The Pierces endlich zu Popstars. Das Album schaffte es auf Platz 4 der UK-Charts und bescherte ihnen einen Sommer mit erfolgreichen Festivalauftritten.
Als sich ein längerer Aufenthalt in den britischen Top 20 abzeichnete, machten sich Allison und Catherine daran, eine Art Gleichgewicht zwischen Beruflichem und ihrem Privatleben herzustellen. Für die ältere, dunkelhaarige Allison hatte der Erfolg seinen Preis. Sie pendelte fortwährend zwischen ihrer Wahlheimat London und New York, als ihr klar wurde, dass es so nicht weitergehen konnte.
Ein Leben auf Wanderschaft zu führen war zwar nichts Neues – als Kinder wurden die Schwestern in Alabama von ihren Eltern zu Hause unterrichtet, die “ständig umherzogen” – mit der Entstehung neuer Musik tat sie sich jedoch schwer. “Ich kann nicht schreiben, wenn ich weiß, dass irgendwo im Haus jemand zuhört”, erklärt Allison."Es scheint, als käme die Musik nur in der Einsamkeit zum Vorschein."
Allison siedelte in die USA über und musste währenddessen das Scheitern ihrer Beziehung verarbeiten. Ihre Schwester war inzwischen nach Los Angeles gezogen und so suchte sie sich eine Wohnung in der Nähe. In Catherines Leben lösten aufregende neue Ereignisse rasch die Mühen vergangener Liebesgeschichten ab: Sie ging eine Beziehung mit dem Gitarristen Christian “Leggy” Langdon ein, der rein zufällig auch der musikalische Leiter der Band auf Tour war.
Nachdem sie “ihre Zeit in gestörten Beziehungen abgesessen” hatte – eine Geschichte, die im schmerzhaft schönen “Must Be Something” erzählt wird – machte sich Catherine auf die Reise zu sich selbst, die die kreativste Schaffenszeit ihres Lebens werden sollte. Los Angeles brachte Gelegenheiten mit sich, die sich so wahrscheinlich nirgendwo sonst in der westlichen Welt geboten hätten.
Ein Freund der Schwestern erzählte ihnen von Ayahuasca – einer halluzinogenen Mischung, die unter schamanischer Aufsicht im amazonischen Peru gebraucht wird und durch die sich tief greifende positive Veränderung im Leben der Konsumenten vollziehen sollen. “Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einließ”, erzählt Allison, die erste der Schwestern, die es ausprobierte.
“Man sitzt auf einer Yogamatte und es ist ein rein innerlicher Vorgang. Man kommuniziert mit niemandem. Es passiert alles in deinem Inneren. Man sieht diese wirklich schönen Farben und Formen und geometrischen Muster. Und dann werden einem Sachen über sich selbst klar. Man kann sich am Anfang eine Frage stellen wie zum Beispiel ‘Ich möchte dies und jenes gern besser verstehen’, und, so seltsam sich das anhören mag, dann wird es einem gezeigt. Ich bekam einige meiner größten Ängste vor Augen geführt. Man erhält diese Gaben, diese Einblicke, und dann setzt man sich damit auseinander.”
In der neu gewonnenen Einsamkeit setzte sich Allison mit ihren Ängsten auseinander und stellte fest, dass die Musik sich endlich Bahn zu brechen begann. Aus ein paar einfachen Akkorden entwickelte sich “Monsters” zu etwas wahrhaft Außergewöhnlichem: Einer nachdenkliche Ansprache an das Unglück, das wir schaffen, und das Unglück, das uns letztlich ausmacht.
“Elements” ist nicht minder berührend – ein quälend erschöpfter Song über die Stille, die das Vakuum füllt, in dem einst die Liebe gedieh. Das von inspirierten Harmonien durchwobene und eindringlich schwermütige “I Can Feel” steht in einer Reihe mit den schönsten musikalischen Werken von The Pierces.
Inzwischen kam Catherine ihrerseits mit einer Welle starker Kompositionen schwer in Fahrt. Sie hatte die positiven Veränderungen bemerkt, die Ayahuasca bei Allison bewirkt hatte, und wollte nun unbedingt denselben Prozess durchlaufen. Ihre Erfahrung war so erleuchtend, dass sie sich gleich auf eine einwöchige Ayahuasca-Kur in Peru begab. Die erste und vielleicht dramatischste Auswirkung für ihr Songwriting zeigt sich im ekstatischen Titelsong des Albums – ein deutlich gezogener Strich unter vergangenes Unglück für einen kühnen Neuanfang.
“Ich war an einem Punkt in meinem Leben angelangt, wo sich viele meiner älteren Songs um Liebeskummer und Probleme drehten. Mit ‘Creation’ habe ich mich einfach daran erinnert, dass ich die Fähigkeit, diese Dämonen auszutreiben, fest verwurzelt in mir trage. In dem Song geht es darum, die Zügel in die Hand zu nehmen.”
Catherine war begeistert von der Möglichkeit, Songs auf ihrem iPad zu schreiben und zu produzieren und stellte fest, dass neue Methoden auch neue Klangwelten eröffneten. Paradebeispiele dafür sind das arpeggierende Dance-Pop-Stück “The Devil is A Lonely Night” oder auch “Confidence In Love”.
Allison erinnert sich an die Entstehungsgeschichte des letzteren Songs und verrät dabei, wie nahe daran The Pierces waren, all das Glück, das sie sich mit “You & I” beschert hatten, wieder zunichtezumachen. “Die ersten paar Wochen im Studio waren schwierig”, erzählt sie. “Wir hatten den Großteil unseres Budgets ausgegeben, um diesen erfolgreichen Produzenten aus LA zu engagieren. Aber die Aufnahmen, die dabei herauskamen, klangen einfach nicht nach uns. Die Chemie stimmte nicht und das meiste Geld war weg.”
Christian Langdon, der schon die B-Seiten der Singles zu “You & I” produziert hatte, bot seine Hilfe an. Passenderweise war einer der Songs, die er während seiner “Probezeit” produzierte, “Confidence In Love”, ein Liebeschwur, den Catherine für ihn geschrieben hatte. “Wir alle haben Phasen, in denen unser Selbstwertgefühl, aus welchen Gründen auch immer, einen Kratzer abbekommt. Mit diesem Song habe ich einfach versucht, ihm ein paar der wundervollen Dinge zurückzugeben, die er mir gegeben hat. Und als die Leute bei der Plattenfirma hörten, was er aus den Songs gemacht hatte, waren sie begeistert. Also hat er dann den Rest auch noch produziert.”
Sie lacht ein wenig verlegen. “Hört sich das schmalzig an?” Mag sein, aber andererseits ist auch bekannt, dass Empfindungen, die auf dem Papier vielleicht schmalzig klingen, sich auf wundersame Weise verwandeln, wenn sie auf die beinahe übernatürlich aufeinander abgestimmte innere Welt von Allison und Catherine Pierce treffen.
Es entstehen Liebeslieder, vorgetragen von Idealisten, die sich trotz allem stets der Indizien bewusst sind, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. Glaubensbekundungen in einer Welt ohne Glauben. Und warum auch nicht? Der Glaube von The Pierces an Happy Ends rechtfertigt sich durch ihr bisher vollkommenstes Album.