The Airborne Toxic Event | Biografie

Biografie 2011

The Airborne Toxic Event

„All At Once“ (VÖ: 06. Mai 2011)
 
„Wenn ich einen Song schreibe“, setzt Mikel Jollett, Gründungsmitglied und Kreativkopf von The Airborne Toxic Event an, „dann versuche ich im Grunde genommen bloß, ein Gefühl, eine Begebenheit beziehungsweise eine Situation einzufangen. Alles Wichtige, was danach noch passiert, entsteht zwischen dem Resultat, dem fertigen Song und dem Zuhörer. So einfach ist das, denn die Interpretation der Zuhörer ist letzten Endes viel wichtiger als das, was ich mir dabei gedacht habe“, so der Frontmann der fünfköpfigen Band aus Kalifornien.
 
Eine Auffassung, die man eigentlich so für sich stehen lassen könnte. Eigentlich, denn Jollett ist ein Mensch, der sehr viel über alles nachdenkt – ja sogar viel zu viel nachdenkt, wie er selbst sagen würde –, und überhaupt ist es für ihn eine ausgesprochen wichtige Frage, was er tut und wie er seine Zeit verbringt. Kein Wunder: Es gab eine ganze Reihe von Dingen, über die er in den letzten zwei Jahren nachdenken konnte, seit das Debütalbum seiner Band durch die Decke gegangen ist, und ihre Mischung aus intelligentem Indierock und massiven Hymnen schlagartig in aller Munde war. Immerhin lag ihr gleichnamiges Debüt ganze acht Wochen lang auf Platz #1 der Billboard-Heatseeker-Charts. Auf besagtem Erstling hatte sich Jollett mit dem Ende einer Beziehung auseinandergesetzt – und extrem ehrliche Texte präsentiert, die nicht immer schön waren, aber unbedingt fesselnd. Heute, zwei Jahre später, geht es ihm und seinen Bandkollegen um andere Dinge: Auf dem neuen Album „All At Once“ klingen The Airborne Toxic Event kohärenter, eindringlicher und mutiger. Der Tod, der Verlust eines anderen Menschen, der Kampf zwischen selbstzufriedener Routine und Aufbruch, Stillstand und Veränderung, Fragen also, die sowohl individuell als auch gesellschaftlich betrachtet immer wieder zu Konflikten führen – das sind dieses Mal Jolletts Themen. Und es sind große Themen, das steht fest. Nur ist er nicht der Typ, der sie „mal eben anschneidet“. Er springt stattdessen ins kalte Wasser und will es wirklich wissen.
 
„Das neue Album besteht im Grunde genommen aus einer Serie von Fragen“, erläutert er, „auf die passende Antworten gefunden werden sollen. Die größte Frage lautet: ‘Wie verbringe ich meine Zeit? Wie soll ich mein Leben leben?’“ Auslöser waren unter anderem drei Todesfälle in der Familie: Drei seiner Großeltern verstarben binnen kürzester Zeit, während Jollett auf Tour war. „Der erste Track und Titelsong hat ungefähr folgende Message: Okay, so läuft das also – soundso kommst du zur Welt, soundso lebst du dann – aber was genau machst du nun daraus?“ Er wolle die Aussage des ersten Albums, die Gefühle, die er damals artikuliert hat, nicht zurücknehmen oder widerrufen. Doch da ihm die eigene Vergänglichkeit und die allgegenwärtige Möglichkeit des Todes dermaßen schmerzhaft ins Gedächtnis gerufen wurde – und gleich mehrfach –, habe er sich nun vorgenommen, noch etwas weiter zu gehen, tiefer zu graben und sich diesen großen Themen zu stellen. „Der Tod meiner Großeltern hat meine Sicht der Dinge definitiv verändert. Mit einem Mal betrachtete ich alles, was in meinem Leben so passierte, mit ganz anderen Augen: Wenn man zum Beispiel so eine Trennung aus größerer Distanz betrachtet, dann wird einem irgendwann klar: ‘Hey, so eine Erfahrung gehört nun mal zum Leben dazu, Kleiner!’ So etwas passiert nun mal. Und auch der Tod gehört zum Leben dazu: natürlich ist es tragisch, aber er gehört einfach dazu. Die Mutter meines Vaters war 97, und sie schlief einfach ein – umgeben von denjenigen Menschen, die sie liebten. All die ganzen Fragen, die ich auf dem Album stelle, sie münden im Grunde genommen in einer einzigen Antwort: ‘Wahrscheinlich liegt man schon ganz richtig, wenn man andere Menschen liebt.’ Eine andere Antwort habe ich zumindest nicht parat.“
 
Eine Einsicht, zu der allerdings nicht jeder der Protagonisten gelangt, die in den 11 Songs des neuen Albums auftauchen. In den beiden durch und durch politischen Songs der neuen LP, im Doppelpack präsentiert, tauchen Individuen auf, die entweder vom Schicksal anderer unberührt oder aber in Streitfragen verstrickt sind, mit denen sie eigentlich nichts zu tun haben, was jedoch nichts daran ändert, dass sie schließlich zu Opfern dieses Konflikts werden. Das aufgebrachte „The Kids Are Ready To Die“ handelt, wie Jollett erklärt, von dem Phänomen, „selbst nicht bereit zu sein, für eine Sache zu sterben, aber keinerlei Problem damit zu haben, andere Menschen in den Tod zu schicken. Und dann geht es darum, wie sich diese Respektlosigkeit gegenüber den Mitmenschen irgendwann rächen wird; und dass jede Lüge doch früher oder später als solche enttarnt wird – was Regierungen gehörig Angst machen sollte, aber natürlich auch für Individuen gilt.“ Der Song „Welcome To Your Wedding Day“ bezieht sich auf eine Hochzeitsgesellschaft, die in Afghanistan „aus Versehen“ von einer US-amerikanischen Drone attackiert und getötet wurde. „Ich gehe mal davon aus, dass sich die Soldaten, die versehentlich diese Bomben abgeworfen haben, noch immer schrecklich fühlen. Aber allein die Idee, die Herzen eines Volkes mit dermaßen grausamen Methoden erobern zu wollen, den Menschen Angst einzujagen, um sie für die eigene Seite zu gewinnen, ist vollkommen verrückt. Wie bitte soll das die Einstellung der Leute positiv verändern, wenn man nichts anderes macht, als eben diese Leute abzuschlachten?“
 
Der Tod lauert zwar nicht hinter jeder Ecke auf „All At Once“ (dafür ist die Platte dann doch zu optimistisch und ausgelassen), aber natürlich ist das Sterben ein zentrales Thema, ein unvermeidbares noch dazu: „Ich glaube fast, dass der Tag, an dem dir klar wird, dass du eines Tages sterben wirst, der wichtigste Moment im Leben eines Menschen ist“, meint Jollett. „Man kann auf ganz unterschiedliche Art und Weise auf diese Einsicht reagieren: Nihilismus, Hedonismus, oder auch indem man sich der Religion und Gott zuwendet, was meines Erachtens auch nur eine Variante von Hedonismus ist, schließlich wollen die Leute damit nur ihre Wunden salben. Oder aber man entschließt sich einfach dazu, nach vorne zu schauen und weiterzumachen.“
 
Allein die Umstände, unter denen Jollett herangewachsen ist – er wuchs in einer kalifornischen Hippie-Kommune auf –, sorgten dafür, dass er Mainstream-Dinge und gewöhnliche Lebensentwürfe für nicht besonders spannend und attraktiv halten sollte: „Meine Eltern haben das echt super gemacht; in unserem Haus war sehr viel Wärme. Viele von den Dingen, die Kinder aus normalen Mittelstandhaushalten so im Laufe der Zeit mitbekommen und mit sich rumschleppen, hab ich nie erlebt – und muss mich damit heute nicht herumschlagen. Das alleine ist ein großes Geschenk, ein Freiraum, den ich füllen kann, wie ich will.“
 
Wenn er dann heute über seine anfänglichen Versuche als Romanautor zurückdenkt, verzieht er das Gesicht und lacht in sich hinein; wobei er die Angewohnheit, Unmengen von Information zu sammeln, Gedanken und Ideen wie ein Eichhörnchen zu horten, sie an die Wand zu pinnen, weiterzuspinnen und sich darüber den Kopf zu zerbrechen keineswegs aufgegeben hat. Denn diese Leidenschaftlichkeit, dieses obsessive Element, diese Liebe zum Detail zeichnet auch die Entstehungsgeschichte von „All At Once“ aus. Wie auch diejenige Rastlosigkeit, die Jollett einst dazu bewegte, seinen Bürojob hinzuschmeißen und in die Wüste zu ziehen, um dort auf einer Ranch zu arbeiten. „Ich wusste plötzlich, dass ich da raus musste aus dem grellen Bürolicht und weg von dem ganzen Unternehmensschwachsinn“, lacht er rückblickend. „Ich fasste daher den Entschluss, lieber auf der Straße zu wohnen, als diese Art von Leben zu führen. Und dann begann ich damit, Bücher regelrecht zu verschlingen. Ich hatte das Gefühl, nie so richtig was gelernt zu haben, zumindest nicht so wie andere, daher schaufelte ich tagsüber Pferdemist, und nachts schrieb ich dann an meinem Roman – was, unter uns gesagt, auch nur eine andere Form von Pferdemist war, den ich da bei Kerzenschein durch die Gegend geschaufelt habe.“
 
Fragt man Jollett dann, wo denn wohl die Songideen während dieser Phase schlummerten bzw. ob sie nach und nach in ihm Gestalt annahmen, wie ungebetene Gäste, während er so den Mist schaufelte, und schon hält er inne. Seine Antwort ist bezeichnend, wenn sie schließlich doch noch kommt, denn sie enthält jene widersprüchlichen Kräfte, die ihn ganz allgemein antreiben. Einerseits ist er angenehm entspannt und pragmatisch, was den kreativen Prozess angeht – doch andererseits nimmt er das, was er tut, auch verdammt ernst: „Ich hab mich nie mit den Riffs irgendwelcher Rock-Klassiker aufgehalten. Meinen ersten eigenen Song schrieb ich quasi, als ich gerade mal einen Akkord greifen konnte. Und doch habe ich damals Bands wie The Cure oder The Smiths angehimmelt. Mein Freund Jake war so etwas wie der klassische große Bruder für mich, er hat mir gezeigt, wo es langging, so à la ‘Hör dir mal Josef K an’ oder ‘Check mal die Aufnahmen von Velvet Underground’. Mich hat das alles immer wieder umgehauen. Es gab uns genau das Lebensgefühl, auf das wir es abgesehen hatten, wir wollten uns wie anspruchsvolle Außenseiter fühlen. So von wegen ‘Auch wenn wir nicht so aussehen, werfen auch wir gerne mal ein Zitat von Oscar Wilde ein.’“
 
Auch wenn die aktuelle US-Hitsingle „Changing“ zunächst ganz klassisch nach Gute-Laune-Rock klingt, geht der Songtext doch um einiges tiefer: „Bei uns hat sich in den letzten Jahren so viel verändert, dass wir heute an einem Punkt stehen, wo andauernd irgendwelche Leute auf uns zukommen und irgendetwas von uns wollen – mal soll man so sein, mal so – und das kann einen schon ganz schön fertig machen. Daher schwingt in diesem Track auch etwas mit von ‘Können wir nicht einfach weiterhin das machen, womit wir angefangen haben?!’. Ich will nicht, dass wir wie irgendeine süße kleine Indierock-Combo rüberkommen – aber ich werde jetzt auch nicht behaupten, dass ich mit irgendeiner viel zu krass-düsteren Post-Punkband ein apokalyptisches Hallmassaker veranstalte und sowieso nie ein Lächeln im Gesicht hab, weil ich die ganze Nacht über alleine Absinth auf dem Dachboden trinke und mir Kerzenwachs auf die Haut tropfen lasse“, sagt er und bricht in ein finsteres Lachen aus. „Mal ehrlich, ich will Musik machen, weil ich Musik machen will. Ganz einfach. So sieht’s bei uns aus: Wir machen Musik, weil wir durch die Gegend springen und Songs spielen wollen.“
 
Was die klangliche Palette von „All At Once“ angeht, ist das neue Album von The Airborne Toxic Event ein Fest für alle, die auf Songs in Breitbildformat stehen und keine Angst vor Hymnen haben: Es ist definitiv keine LP, die nach langen Diskussionen verdünnt oder mit viel Kompromissgelaber verwässert wurde – im Gegenteil: sie ist etwas zerlumpt, kantig, und sie klingt leidenschaftlich. Da wären die schnatternde Gitarre und das schwermütige Keyboard des Eröffnungsstücks, die minimalistischen Zupf- und Klaviereinlagen von „All For A Woman“, dann die bizarre Mischung aus Akkordeon-Einlage und Electronica im Fall von „Welcome To Your Wedding Day“ oder auch der bedrohlich klingende Synthesizer-Teppich im Refrain des Tracks; weiter geht’s mit „Strange Girl“ und kantigem Indie-Sound mit The-Cure-Beigeschmack, „All I Ever Wanted“, das mit seinen epischen Streichern wohl einer der größten TATE-Momente überhaupt sein dürfte, dann dem krassen Rockabilly-Sound von „It Doesn’t Mean A Thing“, und schließlich dem geisterhaften Klavier von „The Graveyard Near The House“, mit dem „All At Once“ ausklingt – all diese Klangwelten sind eingängig und intelligent gestrickt zugleich, in ihnen stimmt die Balance zwischen Mitsingpotenzial und Komplexität. Auch was die Songtexte betrifft, bekennen TATE Farbe und liefern ein Highlight nach dem nächsten, denn immer wieder springen einen Zeilen an, bohren sich ins Hirn: So der trauernde Protagonist des Titeltracks, der den Himmel anflucht („swearing at the sky“), die Erinnerung daran, dass wir alle mit leeren Händen wieder gehen müssen („leave the way you came – without anything“; aus dem Song „It Doesn’t Mean A Thing“) oder folgende Zeile aus dem Song „Ready To Die“: „I was just 13 when I got my first taste of danger, standing by the church, I had a bottle and a pen in my hand“. Und schließlich die zugleich elend und erlösend klingende Zeile des Epilogs, in dem Jollett sagt: „I can list each crippling fear, like I’m reading from a will“, um daraufhin einen düsteren und verlassenen Ort zu entwerfen…
 
Im Gespräch mit Jollett, aber auch, wenn man sich „All At Once“ genauer anhört, wird man das Gefühl nicht los, dass es genau diejenige Platte geworden ist, die er schon immer aufnehmen wollte. Was mit dem Schock mehrerer Todesfälle in der eigenen Familie begann, entpuppte sich im kreativen Prozess als etwas durchaus Positives (weil Lehrreiches), als etwas, das Lust auf mehr Leben macht. Das zentrale Thema, wie Jollett sagt, war „die Idee, dass das Leben auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, und dass man eigentlich gar nicht mal unbedingt in den großen, ereignisreichen Augenblicken lebt, sondern eher in den ruhigen, in denen einem die eigene Sterblichkeit bewusst wird, in diesen Momenten, die zwischen den großen Veränderungen auftreten. Und dass diese Veränderungen dann ganz plötzlich auftreten – was sowohl für individuelle Schicksale aber auch für kulturelle Entwicklungen oder für die Politik zutrifft.“ Wie gesagt: große, schwierige Themen sind es, die Mikel Jollett, Stephen Chen, Noah Harmon, Anna Bulbrook und Daren Taylor auf ihrem neuen Longplayer angehen, und zwar ohne Umschweife und ohne Angst. Sie packen sie an und drücken sie zu Boden. „Wir hatten irgendwie die ganze Zeit im Hinterkopf, dass diese Songs ein Publikum haben und von vielen Menschen gehört werden würden“, sagt Jollett abschließend. „Das war beim ersten Album noch nicht so der Fall. Es war so, als ob dieser Moment gekommen wäre, an dem die Welt vor einem liegt und man endlich mal etwas loswerden und seinen Senf dazugeben kann.“ The Airborne Toxic Event haben diese Gelegenheit genutzt und sich dieser Herausforderung gestellt. Jetzt sind wir dran, denn alles, was jetzt noch kommt, liegt bei uns, den Zuhörern.