Dass Thomas Quasthoff sein Karriereende als Lied- und Opernsänger bekannt gegeben hat, bedeutet nicht, dass seine Stimme verstummt ist. Diesen Sommer hat er in Baden-Baden an der Seite von Rolando Villazón den Bassa Selim aus Mozarts Entführung aus dem Serail gesprochen, regelmäßig tritt er mit seiner Jazz-Combo auf, und immer wieder rezitiert er öffentlich aus Büchern oder Gedichten. Schließlich hat die Karriere dieses Ausnahme-Baritons ja nicht als Sänger begonnen: Quasthoff war eine der charakteristischsten Stimmen im Norddeutschen Rundfunk.
Nun hat Quasthoff den lässigen Song-Sound seiner Jazzkarriere und seinen Faible für gute Gedichte in einem neuen, konzeptionellen Album vereinigt: Mein Weihnachten ist ein vokaler Ausflug in die cool-beschwingte Vorweihnachtszeit der USA und ein literarischer Blick auf unsere deutsche Weihnacht: Bing Crosby und White Christmas treffen Ringelnatz, Rilke und Bertolt Brecht. Und natürlich ist Mein Weihnachten auch ein Blick zurück in die eigene Kindheit.
»Das Singen hat bei uns zu Hause die LP-Truhe übernommen«, erinnert sich Thomas Quasthoff, wenn er an die Weihnachtsfeste seiner Kindheit denkt. »Man konnte da zehn Singles übereinanderlegen«, erklärt er, »und der Apparat spielte eine nach der anderen. Wenn meine Mutter einkaufen war, hörte ich dauernd diese Platten.« Zu Weihnachten wurden im Hause Quasthoff meist Glockengeläut und deutsche Weihnachtslieder aufgelegt – der Vater des Sängers liebte Rudi Schuricke, aber es lief eben auch Bing Crosby.
»Später habe ich im Kirchenchor gesungen«, sagt Quasthoff, »die Kantorei war der Anfang meiner Gesangkarriere – aber meine wahren Weihnachten verbinde ich nicht unbedingt mit der Kirche.« Auch weil sich die Gemeinde damals gegenüber seinen Eltern und ihm, dem behinderten Kind, nicht wirklich kirchlich verhalten habe. »Es gab Situationen, in denen meine Eltern so blöde angeredet wurden, dass sie die Kirchenbank wechseln mussten«, sagt der Sänger. »Deshalb war Weihnachten für mich hauptsächlich die Zeit mit der Familie, der Luxus, zusammen sein zu dürfen, das Vergangene zu erinnern und Pläne für das Kommende zu schmieden: gemeinsam Essen, Musik hören oder einen alten Film anschauen. Das war früher so, als ich Kind war, und das ist noch heute so, da ich jeden intimen Moment mit meiner eigenen Familie genieße.«
Gerade jetzt, da der Sänger nicht mehr tagtäglich im Klassik-Jetset unterwegs ist, genießt er sein Zuhause in Berlin, die Familie und die Einkehr. Quasthoff doziert an der Hanns Eisler Musikhochschule und fährt noch manchmal zu Auftritten oder Lesungen. Aber er lässt es inzwischen ruhig und easy angehen. »Ich muss schon sagen, dass es auch für einen Künstler wichtig ist zu wissen, wo man zu Hause ist«, sagt er, »die Bühne, das Reisen und das Publikum sind faszinierend, aber Ruhe und Einkehr – ganz bei sich, ist man nur in der Familie.«
So ist dieses Album auch ein sehr persönlicher Blick auf das Weihnachtsfest. »Mich haben diese Klassiker der US-Musik schon immer begeistert«, erklärt der Sänger. Egal, ob sein älterer Bruder Michael ihn in den 70er-Jahren in die Welten von Creedence Clearwater Revival oder Deep Purple einführte, ihn für Oscar Peterson oder Stevie Wonder begeisterte, »Michael war mein Vorbild und meine musikalische Inspiration«, erinnert Quasthoff seinen kürzlich verstorbenen Bruder, »und meistens fand er das wirklich Innovative in den USA.«
Für Mein Weihnachten kehrt Thomas Quasthoff nun bewusst zu den US-amerikanischen Christmas-Klassikern zurück, zu I’ll Be Home for Christmas und It’s Beginning to Look Like Christmas. Es ging Quasthoff darum, diese bekannten, oft aufgeblasenen Songs auf eine intime Größe zu schrumpfen und für die Band um Bruno Müller, Frank Chastenier, Dieter Ilg und Wolfgang Haffner zuzuschneiden, die mit ihm bereits das Album Tell It Like It Is aufgenommen hat. »Wir haben inzwischen einen eigenen Sound, und deutsche Weihnachtslieder passen einfach nicht dazu – es ist der Sound der Coolness und der Selbstverständlichkeit.«
Seit Jahren tüftelt Quasthoff nun schon mit seiner Band und in den Tiefen des Jazz am eigenen Ausdruck, am Swing und an einer gegenwärtigen Form alter Standards. »Der Song Merry Christmas, Baby war ein persönlicher Wunsch von mir«, sagt er, »weil ich diesen unfassbaren Bigband-Sound so großartig finde. Und natürlich wollte ich mich an den Standard White Christmas von Irving Berlin wagen! Bing Crosby hat über 50 Millionen Aufnahmen von diesem Lied verkauft, es wurde hundertfach gecovered, und meine Frau hat mich gewarnt, dieses Stück noch einmal aufzunehmen«, erzählt der Sänger. Aber er wollte diesen Hit endlich entkitschen und seine schliche Schönheit zutage bringen – nur mit Stimme und Klavier. »Mir geht es in diesem Album um diese zurückgelehnte Gelassenheit«, sagt er, »dieses Spiel mit der Fluffigkeit, die Reduktion aufs Wesentliche, den Sound unserer Jazz-Band.«
Für zusätzliche Fallhöhe sorgen die Gedichte, die Quasthoff persönlich ausgewählt hat, und die er auf diesem Album liest – sie sind die deutsche Komponente des Albums. »Sie sind allesamt von Dichtern, die mich ein Leben lang begleitet haben, von Leuten, die einen anderen Blick auf das Weihnachtsfest geworfen haben, die nicht dem Klischee aufsitzen, sondern genau hinschauen, worum es hinter dem Konsum und dem Kitsch geht: um Liebe, Familie und Demut.« Quasthoff beschwört das liebevolle Innehalten von Joachim Ringelnatz, Rilkes Marien-Klugheit, Trakls Einladung an die trauernden Wanderer, Bonhoeffers ungebrochenen Optimismus und natürlich Bertolt Brecht, der in Jesus auch einen Revolutionär sah.