Als er in den frühen 1990ern debütierte, hätte kaum ein Branchen-Insider geglaubt, dass
Tim McGraw den Thron von Garth Brooks besteigen würde. Seine andauernde Serie von Multi-Platin-Alben machte ihn dann zum erfolgreichsten Country-Sänger des 21. Jahrhunderts. Seine Ehe mit der Country-Queen Faith Hill hat ihn zusätzlich ins Spotlight gebracht. Ihre fünfköpfige Familie gehört zur Nashville-Aristokratie.
Mit Uptempo-Songs, die Honky Tonk und Southern-Country-Rock verbinden und Balladen in der Spielart von Adult-Contemporary-Pop definierte
McGraw eine neue Ära. 35 Nr.−1-Hits und 54 Top−10-Singles in den US-amerikanischen Country-Charts gehen auf sein Konto, rund 40 Millionen verkaufte Alben, drei Grammys und drei Dutzend andere Medien-Awards. Laut Soundscan ist er auf Platz 8 der erfolgreichsten US-Künstler aller Zeiten.
Taylor Swift huldigte ihm auf ihrer Debütsingle “Tim McGraw”.
McGraw ist gelungen, was kaum ein Country-Künstler schafft: Er erreichte das große Publikum außerhalb Nashvilles, ohne dabei die Gunst der Music City zu verlieren – wie vor ihm
Shania Twain oder Brooks. “Country-Musik hat viele Regeln”, sagte
McGraw vor einigen Jahren dem Time Magazine. “Die Kunst ist, zu wissen, welche wichtig sind und welche nicht.” Die wichtigen – in Nashville wohnen; nur mit den besten Songwritern und Produzenten arbeiten; sich wie ein Country-Sänger anziehen; die politische Meinung für sich behalten – hält er ein. Die unwichtigen – den weißen Cowboyhut des good guys tragen und nicht den schwarzen des bad guys; mit Studiomusikern aufnehmen und nicht mit seiner Tourband – lässt er unter den Tisch fallen.
Auch wenn er die Spielregeln kennt, bleibt McGraw vor allem sich selbst treu. Als Jugendlicher war er in den 1970ern ein genauso großer Fan des Pop-Radios wie von Merle Haggard. Er hat mit seinem recht genauen Cover von “Tiny Dancer” Elton John verblüfft, ist gemeinsam mit seinem Kumpel
Kid Rock aufgetreten, nahm mit
Nelly eine Hip Hop-Ballade auf, und man hört den Einfluss der Eagles und
James Taylor in seinen Songs. Im Kern bleibt der mittelgroße, durchtrainierte Sänger (ein Selfie des 47-Jährigen, frisch Alkohol-Abstinenten, mit erstaunlichen Muskelpaketen verblüffte im Frühling 2014 im Netz) jedoch ein Country-Künstler. Seine treuesten Fans sind immer noch im traditionellen Lager zu Hause.
Nach zwanzig Jahren und elf Alben bei seinem alten Label Curb Records unterschrieb
McGraw im Mai 2012 einen neuen Plattenvertrag beim Label Big Machine von Scott Borchetta. Als Ort der Unterzeichnung wählte er die Greyhound-Busstation von Nashville. “Vor 23 Jahren, am 9. Mai 1989, kam ich hier mit dem Greyhound-Bus in Nashville an”, gab
McGraw dem Billboard-Magazin zu Protokoll. “Es war der Tag, an dem mein Idol, der Countrysänger
Keith Whitley starb.” Ein emotional hoch besetzter Ort also, ideal, um einen Neuanfang zu besiegeln. Wie konsistent
McGraw ist, zeigt die Tatsache, dass ihm 1992 Scott Borchettas Vater Mike, damaliger Chef von Curb, den Füllfederhalter hinhielt.
Wie die meisten Countrysänger schreibt
McGraw eigene Songs – nur nimmt er sie nie auf! “Wenn du einen Song singst und darin beschreibst, wie du dich fühlst, dann ist das gut”, kommentierte er einmal, “aber wenn du in einem Song einem anderen aus der Seele sprichst, dann ist das großartig. Wenn jemand sein Autoradio anmacht und ausruft: ‘Wow, wie konnte er das wissen!?’, dann hast du wirklich deinen Job gemacht.”
Die Stimmungen und Lebenswelten seiner Fans erspürt
McGraw am besten in den Songs, die andere für ihn schreiben. So auch auf seinem jüngsten Album “Sundown Heaven Town”, für das er 2014 die jüngere Songwriter-Generation Nashvilles ranließ: Shane MacAnally (
Kacey Musgraves) und Jaren Johnston (
The Cadillac Three), neben Veteranen wie
Ben Hayslip und
Rhett Atkins (dem Vater von Nashvilles neuem Shooting-Star Thomas Rhett). “Sundown Heaven Town” und der Vorgänger “Two Lanes of Freedom” sind quasi die Quintessenz seines ganzen Oeuvres: “…Freedom” eher forsch und freigeistig und “Sundown…” wieder erklärt countrylastig – beide produziert von seinem langjährigen Weggefährten, dem Grammy-Gewinner
Byron Gallimore (Sugarland, Lee Ann Womack).
Doch eigentlich ist es schade, dass McGraw keine eigenen Songs veröffentlicht. Seine Biografie ist filmreif.
Samuel Timothy Smith kam in Louisiana als Kind einer Kellnerin zur Welt. Seine Vorfahren stammen aus Italien, Schottland, Deutschland und Tschechien. Als er 9 war, ließ sich seine Mutter von seinem Stiefvater, einem Lastwagenfahrer scheiden. Nie blieben sie lange an einem Ort. Mit 11 fand Tim in einem Karton seine Geburtsurkunde und las dort, dass sein richtiger Vater der berühmte Baseball-Profi Tug McGraw war, der eine Affäre mit seiner Mutter gehabt hatte. (2009 spielte
McGraw an der Seite von Sandra Bullock in “Die große Chance”, einen dauerbetrunkenen Familienvater, dessen Adoptivsohn ein erfolgeicher Football-Profi wird. Der Film bekam eine Oscar-Nominierung.) In Nashville ging McGraw drei Jahre Klinken putzen, bevor er 1992 seine Debütsingle “Welcome to the Club” veröffentlichte. Der Durchbruch kam 1994 mit dem zweiten Album “Not A Moment Too Soon”. Auch wenn er bewusst darauf verzichtet, sein eigenes Leben zu vertonen, kann er mit seinem Charisma doch eigentlich jeder Song-Geschichte Leben einhauchen. Dem Charme
Tim McGraws erliegt man einfach.