Es gibt nur eine Sache, die schlimmer ist als das Debüt-Album fertig zu stellen und das sind die ersten Demo-Aufnahmen. “Meine Demos aufzunehmen war ein richtiger Albtraum”, so Vanessa Carlton. "Ich war siebzehn Jahre alt und ging durch die Hölle, ich habe fünf Tage die Woche als Bedienung in Manhattan gearbeitet. An den Wochenenden habe ich mein Aufnahmegerät geschnappt und bin den langen Weg zu meinen Eltern nach Pennsylvania gefahren, dort steht mein Klavier. Mit der Hilfe meines Vaters habe ich bis vier Uhr Morgens Stück für Stück aufgenommen – um so die perfekte Aufnahme einzufangen. Leider hatte mein Hund andere Pläne. Jedes Mal, wenn ich am Ende einer guten Aufnahme war, hat er sie mit einem “Wuff” ruiniert und wir mussten wieder von vorne anfangen.
Carlton hat im Moment guten Grund zufrieden zu sein. Das Jahr begann sie mit der Zusammenstellung ihres A&M-Debüt, “Be Not Nobody”, das schon jetzt von Kritikern hoch angesehen wird. Einige Monate bevor das Album fertiggestellt war, sorgte ihre Single “A Thousand Miles” mit dem dazugehörigen Video in Amerika für einige Aufmerksamkeit. Schon früh nahm MTV das Video auf ihre Playlist. “Ich erinnere mich noch gut daran, als ich es zum ersten Mal im Fernsehen gesehen habe”, so Carlton. "Ich war im Studio und habe eine Pause eingelegt als jemand in den Raum gerannt kam und sagte “du bist auf MTV!” Wir haben sofort den Fernseher eingeschaltet und reingestarrt. Nach ein paar Minuten habe ich mir die Augen zugehalten und angefangen zu lachen. Es erschien so surreal. In der Nacht danach, habe ich meinen Song zum ersten Mal im Radio gehört. Das war alles so unglaublich."
Und als ob das nicht genug wäre, wählte der amerikanische Rolling Stone Carlton unter die Top 10 der “Artists To Watch in 2002”. Das Magazin nannte sie eine pop-orientierte Fiona Apple und lobte ihr außergewöhnliches Talent an den Keyboards. Sie habe die Fähigkeit, ihren Songs mit Hilfe von klassischen Akzenten Leben einzuhauchen. Mit ihrer ausdrucksvolle Stimme muss sie sich nicht hinter einer Tori Amos verstecken.
Obwohl sie sich über die Anerkennung freut, will sie sich nicht unbedingt vergleichen lassen. “Es ist lustig. Niemand würde je Rage Against The Machine mit Radiohead vergleichen. Aber wenn sie Frauen wären, würde man sie die ganze Zeit vergleichen. Wenn man eine Frau ist und ein Instrument spielt, muss man sich immer wieder diese Vergleiche anhören, obwohl jeder Künstler was anderes zu sagen hat. Wenn die Leute mein Album hören, werden sie feststellen, dass ich nur ich selbst bin.”
Möchte man mehr über Vanessa Carlton erfahren, reicht es allerdings nicht zu wissen, dass sie der nächste aufgehende Star sein wird. Alles begann in Milford, Pennsylvania, Einwohnerzahl: 1.104. “Wo ich aufgewachsen bin, war immer Musik”, erinnert sie sich. "Meine Mutter ist Klavierlehrerin. Als sie mit mir schwanger war, hat sie nur noch bestimmte Stücke gespielt, vor allem viel von Mozart. Als ich 21/2 Jahre alt war, haben mich meine Eltern mit nach Disneyland genommen, wo ich zum ersten Mal “It’s A Small World” gehört habe. Als ich wieder zu Hause war, bin ich zum Klavier gerannt und habe die Melodie nachgespielt – Note für Note. So fing alles an."
Unter der Obhut ihrer Mutter wurde Vanessa mit einigen Komponisten bekannt gemacht, u.a. Eric Satie, Mendelsson und Debussy. Sie spielte sehr häufig Klavier, entwickelte schnell ein erstaunliches Talent und hat so mit acht Jahren ihr erstes Stück gespielt. “Meine Mutter war ein großer Einfluss in meinem Leben. Sie war ganz anders als andere Lehrer, die dir auf die Hand hauen und dich davon abhalten, bei einem klassischen Stück zu improvisieren. Sie hat mir meine Freiheit gelassen, ich konnte mich frei entfalten. So war das Klavierspielen und Üben nie eine lästige Pflicht für mich.”
Obwohl Carlton weiter an ihrem Klavierspiel feilte, interessierte sie sich immer weniger dafür “Schwanensee” nur auf dem Klavier zu spielen – sie wollte tanzen. “Ich wurde richtig versessen auf Ballett. Mit vierzehn wurde ich von der School of American Ballet aufgenommen. Ich bin von zu Hause ausgezogen und in das Wohnheim des Lincoln Center gezogen. Ich habe mich bei der Professional Children’s School eingeschrieben und begann ein neues Leben. Aber ich war überrascht, wie eingeschränkt das war. Als ich jünger war habe ich die Montessori-Schule besucht und war nicht an ein so reglementiertes System gewöhnt. Der Druck war immens und der Konkurrenzkampf riesig. Die ersten 11/2 Jahre war es okay, weil ich mich in dieser Umgebung immer noch künstlerisch weiter entwickeln konnte. Aber nach einer Zeit kam ich nicht mehr mit meinen Lehrern klar und es wurde zu einem Desaster. Ich war anfangs die Beste meiner Klasse und habe dann Stunden geschwänzt. Es wurde mir zu viel. Ich habe mich total verloren gefühlt”.
Enttäuscht hat sie sich wieder in die Musik zurückgezogen. “In der Küche des Wohnheimes stand ein baufälliges Klavier, dort habe ich immer gespielt. Bis dahin hatte ich nie selbst Texte geschrieben, nur kleine Musikstücke. Aber auf einmal strömten diese Songs förmlich aus mir heraus und ich habe angefangen zu schreiben. Ich habe mich selbst vorher nie als Sängerin oder Songwriterin gesehen, aber so war es nun und ich fühlte mich so gut dabei. Die Musik hat mir geholfen.”
Nachdem sie mit 17 Jahren ihre Ballett-Karriere abgebrochen hat, begann Vanessa den Job als Bedienung. Sie hat weiter an ihren Songs geschrieben und nachdem sie einige zusammen hatte, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und testete sie während einer New Yorker Club-Nacht. “Mein Vater war so toll, er hat mich zu der ‘Open Mic Night’ gebracht und mich förmlich zur Tür reingestoßen, weil ich so Angst hatte. Zuerst wollte ich gar nicht, dass mich die Leute anschauen – ich empfand es beinahe als Belästigung. Aber es wurde besser als ich sah, dass die Leute sich zu meiner Musik bewegten.”
Wenn sie hinter dem Klavier sitzt, ist Vanessa wie hypnotisiert. Durch ihre ausdrucksvollen Melodien und ihre provokanten Texte schafft sie, ihrem Publikum eine ganze Bandbreite an Emotionen zu vermitteln.
Auf ihre Einflüsse angesprochen, äußert sich Vanessa: "Zu Hause war nur klassische Musik erlaubt, das war gut – ich habe es geliebt. Heute höre ich klassische Musik immer, wenn ich mich entspannen will, weil es mich so an zu Hause erinnert. Mein Vater war allerdings ein großer Pink Floyd-Fan, im Auto hat er immer “Animals” und “Dark Side Of The Moon” gespielt. So habe ich diese eigenartige Zusammenstellung musikalischer Einflüsse von Mozart, Pink Floyd bis Fleetwood Mac, PJ Harvey, Neil Young und Chopin. Ich liebe Musik, bei der ich jedes Mal etwas Neues entdecke. Und das war auch mein Ziel für dieses Album".
"Ich hätte es so gerne, dass die Leute sich so fühlen wie ich, wenn ich am Klavier sitze und spiele. Ich kann stundenlang spielen ohne zu merken, wie viel Zeit vergangen ist. Sie ist immer für mich da. So habe ich mich auch gefühlt als ich getanzt habe. Man ist so in den Moment und die Melodie vertieft. Ich finde auch, dass Klavierspielen das Gefühl verstärkt, das ich genau in dem Moment empfinde. Es ist sehr spirituell.
Auf die Frage, was an der Musik für sie besser ist als Tanzen, antwortet Vanessa: “Ich muss nicht still sein.”