Walking in the Air (Luftspaziergang) aus The Snowman (Der Schneemann), op. 310 (1982)
Der Animationsfilmproduzent John Coates lud mich ein, mir ein Bleistift-Animatic für einen Kinderfilm anzusehen. Während ich es sah, fiel mir auf, dass der gesamte Film auf wundervolle Weise mit nichts als Musik funktionieren könnte — die Musik könnte das Drehbuch sein. Mir ging eine Melodie durch den Kopf, von der ich instinktiv wusste, dass sie funktionieren würde, und dies gab mir das Selbstvertrauen, zu sagen, ich würde die Arbeit an dem Film übernehmen, vorausgesetzt, es gäbe keinen Dialog. Ich bot an, ein Klavierstück aufzunehmen, um zu zeigen, was ich meinte, und als ich “Walking in the Air” zu der Szene spielte, in der der Junge und der Schneemann gemeinsam fliegen, bekamen alle eine Gänsehaut. The Snowman war ein phänomenaler Erfolg. Er lief zum ersten Mal am Weihnachtsabend 1982 im Fernsehen und wird seitdem jedes Jahr ausgestrahlt. CBS Masterworks gab ein Soundtrack-Album heraus und es erhielt Platin; Aled Jones’ Single für EMI schaffte es an die Spitze der Hitparade und die Ballettversion in zwei Akten wird seit inzwischen 15 Jahren in Sadler’s Wells in London aufgeführt. “Walking in the Air” wurde ursprünglich für Sopranstimme und Orchester geschrieben, hier hört man es in der Version für Solopiano.
Die Spieluhr aus The Changeling (Das Grauen), op. 274 (1979)
Der Schauspieler George C. Scott übernahm die Rolle eines trauernden Konzertpianisten, der allein in ein altes Haus in Vancouver einzieht und auf dem Dachboden auf eine alte Spieluhr stößt. Die Musik der Spieluhr wird ihm zur Besessenheit, und er fühlt sich gezwungen, die Melodie auf dem Klavier nachzuspielen, um sie dann zu einem Konzertstück ausbauen. Indem er das tut, erweckt er den Geist des kleinen Mädchens, dem die Spieluhr einst gehörte, und er deckt nach und nach ein lange zurückliegendes grauenvolles Verbrechen auf, das Betrug und ein falsches Erbe involviert. Der Filmregisseur Peter Medak bat mich, ein Stück zu komponieren, zu dem George C. Scott schauspielern könnte. Ich schrieb das Thema und nahm es auf, erst ganz einfach auf der Celesta (für den Spieluhrenklang), dann auf dem Klavier. Dies ist das vollständig ausgearbeitete Konzertstück, so wie ich es für den Film schrieb.
Laura aus The Duellists (Die Duellisten), op. 247 (1977)
Im Frühjahr 1977 erhielt ich einen Besuch vom Filmregisseur Ridley Scott und dem Produzenten David Puttnam: “Wir haben unseren ersten abendfüllenden Kinofilm gedreht und wollten fragen, ob du die Filmmusik übernehmen könntest.”
“Ich fürchte, ich bin damit ausgelastet, ein Ballett für das silberne Thronjubiläum der Königin zu schreiben.”
“Könntest du wenigstens einen Blick darauf werfen?”
Ich besuchte zögernd eine Aufführung des Rohschnitts und war absolut erstaunt, den schönsten Film vor mir zu haben, den ich je gesehen hatte. Irgendwie musste ich es tun! Ich erhielt freie Hand, Filmmusik für ein klassisches Orchester zu komponieren, und The Duellists erhielt später den Sonderpreis der Jury beim Filmfestival von Cannes. Der Film spielt im napoleonischen Frankreich und es geht um zwei französische Offiziere. Féraud (Harvey Keitel) fordert D’Hubert (Keith Carradine) zu einem Duell heraus, die beiden sind sich jedoch ebenbürtig, und trotz weiterer Beförderungen in der Armee setzen sie das Duell bis nach Waterloo fort. Laura ist D’Huberts Frau und es ist ihr Thema, das als Leitmotiv der Verzweiflung fungiert. Man hört es zunächst in der Soloflöte und später in den Streichern. Nach dem dritten Duell kann sie es nicht mehr ertragen und schreibt zu dieser “improvisierten” und intimen Klavierversion “Adieu” auf die Klinge von D’Huberts Schwert.
KRYPTOGRAMM
Prélude für Vova, op. 640 (2012)
(von Vladimir Ashkenazy in Auftrag gegebenes Konzertstück)
Beim Mittagessen im Peninsula Hotel am letzten Tag der Hong Kong International Piano Competition 2011 fragte Vova mich: “Könntest du ein Stück mit meinen Initialen schreiben — so wie Liszt es mit BACH gemacht hat oder Schumann mit den Buchstaben ABEGG?” Wir dachten darüber nach. VLA war nicht geeignet, und auch ASH nicht. Doch Vova löste das Problem. A war gut. Wenn man nicht die englischen Bezeichnungen (A flat und B) sondern die deutschen Notenbezeichnungen zugrunde legte, waren auch As (=S) (beziehungsweise enharmonisch Gis) und H in Ordnung. Und so erhält man A.S.H., die ersten drei Buchstaben von Ashkenazy. Die Partitur trägt folgende Überschrift: “Gewidmet Vladimir Davidovich Ashkenazy mit dem größten Respekt und der größten Bewunderung”.
PRÜFUNGSSTÜCK FÜR DIE HONG KONG PIANO COMPETITION
Speech After Long Silence (Rede nach langem Schweigen), op. 610 (2011)
(Konzertstück, Auftragsarbeit zur Hong Kong International Piano Competition)
Vladimir Ashkenazy rief mich eines Tages im Sommer 2009 an und fragte mich, ob ich ein Wettbewerbsstück für die Chopin Society der Hong Kong International Piano Competition 2011 komponieren könnte, deren musikalischer Leiter sowie Juryvorsitzender er war. Ich dachte an den Titel “Speech After Long Silence” und an Musik, die mit einem sehr ruhigen, leisen Motiv beginnt, wie wenn jemand unfähig ist, zu sprechen, und dann nach und nach eine Stimme findet und in Gesang und Tanz ausbricht, Leben und Freude. Im Oktober 2011 wurde ich nach Hong Kong eingeladen, um die Wettbewerbsteilnehmer zu unterweisen und als Beirat der Jury zu fungieren. Doch es geschah etwas Unerwartetes: Als Vladimir das Stück hörte, schien er davon ganz verzückt, und bei weiteren Aufführungen schien seine Bewunderung nur weiter zu wachsen. Am letzten Tag fragte er mich beim Mittagessen im Peninsula Hotel, ob ich wollte, dass er es für mich aufnähme. Was ich sonst noch anzubieten hätte? Ich erinnerte ihn an die Romanze, an Lifecycle, die 24 Klavierstücke, die ihm gewidmet waren, sowie an die Werke für zwei Klaviere. “Wir könnten ein ganzes Album mit deinen Werken machen”, sagte er, und in diesem Moment rückte ein Lebenstraum in greifbare Nähe. Das vorliegende Album ist das handfeste Ergebnis und die Interpretation des Werkes herrlicher, als ich es mir je hätte erträumen können.
CHARAKTERSTÜCKE
Acht Charakterstücke* (1975)
1975 gab Vova ein außergewöhnlich brillantes Skrjabin-Rezital in der Queen Elizabeth Hall und ich ging hinter die Bühne, um ihm zu gratulieren. Nachdem er ein paar Minuten über Skrjabin gesprochen hatte, schlug Vova nebenbei vor, ich solle doch “ein paar Klavierstücke schreiben”. Das Gespräch nahm seinen weiteren Verlauf und ich kehrte in die konvertierte Wassermühle in Sussex zurück, in der ich nun lebte. Doch sobald ich daheim war, begann ich zu schreiben: eine Prélude in h‑Moll, eine Nocturne in H-Dur… wo sollte sich das Ganze als nächstes hinbewegen? Nun ja, warum nicht eine Quinte hinab nach e‑Moll (Impromptu — ein Stück, das wie der Wasserstrom der Mühle fließt und mein und Vovas Lieblingsstück ist)… dann weiter nach E-Dur (Toccatina) und dann wieder eine Quinte hinab nach a-Moll (Mazurka)… Das Stück in a-Moll ist ein unschuldiger “Walking Song” (“Spazierganglied“), der dem dramatischen Glockenklang der Chaconne in d-Moll mit ihren ständig neuen Harmonisierungen über einem endlos wiederholten cantus firmus weicht. Weiter geht es zum Scherzo in der strahlenden Tonart D-Dur und einem von Oscar Peterson inspirierten Achtellauf in Prestissimo für zwei Hände unisono zwei Oktaven auseinander, ein Motiv, das ich später für das Finale des Klavierkonzerts weiterentwickeln sollte. Es war der Beginn eines Plans für eine Reihe von Stücken, die alle Tonarten durchlaufen sollten, um schließlich am Ausgangspunkt zu enden. 1975 stellte ich lediglich zwölf Klavierstücke des Zyklus fertig, die gesamten 24 beendete ich erst 1995, woraufhin ich die gesamte Sammlung “Lifecycle” (Lebenszyklus) nannte. Vova spielt hier die ersten acht aus der Reihe.
TÄNZE
Tänze für zwei Klaviere, op. 217a (1976)
Die neun Stücke zollen den rhythmischen Feinheiten beliebter Tänze schelmenhaft Tribut. “Parade” basiert auf einem 8-schlägigen Rumba-Rhythmus, nur dass es in diesem Fall nur 7 Schläge sind. “Slow Ragtime” (q = 88) spielt auf Scott Joplin an, klingt jedoch deutlich moderner. “Jump” (q = 150) steht im 5/4-Takt und ist teuflisch synkopiert, “Medium Rock” (q = 96) steht unkonventionell im Dreiertakt. “Folk Ballad” beginnt so, wie der Titel erwarten lässt, arbeitet sich jedoch an eine klassisch inspirierte Klimax heran, die eine kleine Anspielung auf Schönberg enthält. “Boogie” (q =132) schwelgt in schnellen jazzigen Klavierfigurationen (hervorragend gespielt!), “Jazz Waltz” (q = 116) klingt wehmütig und erinnert an Bill Evans, “Cha-Cha” (q = 88) ist dazu das fröhliche Gegenmittel und “Galop” (q = 112) galoppiert genauso dahin, wie man es erwarten würde.
SONATE
Sonate für zwei Klaviere, op. 130 (1971)
Im Sommer 1971 besuchte ich meine Klavierlehrerin in Brighton, Christine Pembridge, die mich fragte, ob ich ihr eine Sonate komponieren könnte. Ich dachte, es könnte für mich eine nützliche Übung sein, eine Sonate von Beethoven zum Vorbild zu nehmen, und wählte nach dem Zufallsprinzip die Sonate in B-Dur, op. 22 aus, doch das Einzige, was die beiden letztlich gemein haben, ist ihre Einteilung in vier Sätze. Das Material, welches ich mir ausdachte, war in jedem Fall eindeutig zu schwierig für ein Klavier. Ich stellte ein Manuskript für zwei Klaviere fertig, präsentierte es ihr ganz aufgeregt und schlug vor, es gemeinsam zu spielen, doch es entsprach absolut nicht dem, was sie sich vorgestellt hatte, und das Werk verblieb unaufgezeichnet und größtenteils ungespielt. Dies mag auch ein Resultat der gewaltigen virtuosen Ansprüche sein, die das Werk an seine Interpreten stellt, was allerdings dem wundervollen Team Vova und Vovka keinerlei Probleme bereitet. Das Stück steht in C-Dur, ist jedoch stark chromatisch, der erste Satz folgt der Sonatenform, der zweite ist ein atmosphärischer, langsamer Satz mit überraschend langer Klimax, der dritte ein spielerisch-schillerndes Scherzo und der vierte ein ausgelassenes Rondo mit Konfliktrhythmen.
FRÜHE WERKE
Klavierfantasie, op. 1 (1955)
Im Alter von 16 Jahren komponiert und für dieses Album wiederentdeckt. Es handelt sich um ein Thema in d-Moll, das sowohl gefühlvoll als auch dramatisch ist, gefolgt von einem mittleren Abschnitt voll jugendlicher Bravour und schließlich einer Rückkehr zum Ausgangsthema.
Vier leichte Stücke, op. 1b (1956)
Ich komponierte diese kurzen Stücke im Alter von 17 Jahren, band das Manuskript eigenhändig und überreichte sie als Geburtstagsgeschenk meiner damaligen Freundin Doreen, die gerade Klavierspielen lernte. Sie war so entrüstet über dieses knauserige Geschenk von “vier Blättern Papier“, dass sie diese zurückgab und die Beziehung beendete — zum Glück, denn andernfalls wären die Stücke sicherlich verloren gegangen!
Romanze, op. 489o (ursprünglich op. 5f) Andante con moto (1963)
1963 traf ich im National Film Theatre in London Vladimir (Vova) und Dódý Ashkenazy, die als Thorunn Tryggvason meine Kommilitonin beim Studium unter Harold Craxton an der Royal Academy gewesen war. Die beiden waren kurz zuvor unter großem Medienrummel aus der Sowjetunion angekommen. Vova fragte, ob es möglich wäre, Eisensteins Film-Meisterwerk Ivan der Schreckliche zu sehen, und ich konnte eine Vorführung auf 16-mm-Film in meiner Wohnung in Hammersmith Road arrangieren. Am Ende spielte Vova Teile der Filmmusik von Prokofjev aus dem Gedächtnis nach. Ich war so begeistert von dem Treffen und dem gesamten Ereignis, dass ich ihnen zu Ehren die russisch angehauchte Romanze komponierte.
SPÄTE WERKE
Haiku für Yu-Chee, op. 567 (2006)
Ich lebe und arbeite inzwischen in zwei umgebauten Künstlerstudios ganz in der Nähe von Kensington Square, und meine direkte Nachbarin ist die Kunstexpertin Yu-Chee Chong. Eines Tages im Mai 2006 hörte sie mich, als ich ein Stück mit dem Titel “Haiku” übte, das ich für ein in Nagoya (Japan) stattfindendes Rezital meines aus Shanghai stammenden Pianistenfreundes William Chen schrieb. Sie fragte mich: “Was ist ein Haiku?” und ich erklärte, dass es sich um eine japanische Gedichtgattung handelt, die auf kürzeste Weise eine tiefgreifende Idee vermittelt. Sie fragte: “Könntest du eines für mich schreiben?” Ich tat es auf der Stelle!
Parting (Abschied), op. 650a (2013)
Als die Aufnahme des Albums näher rückte, waren wir uns nicht sicher, ob wir genug Material haben würden. Vova fragte, ob es noch mehr Stücke gäbe, und ich grub die frühe Fantasie, die Vier leichten Stücke und weitere Fragmente aus. Aus einem unbestimmten Grund gingen mir einige Töne durch den Kopf. Sie waren prägnant und standen in cis-Moll. Diesem glücklichsten Moment in meinem Berufsleben standen einige der traurigsten Momente meines Privatlebens gegenüber, denn ich musste mich der Tatsache stellen, dass so sehr meine langjährige Partnerin und ich auch versuchten, unsere Beziehung zusammenzuhalten, wir gescheitert waren. Wir trennten uns. Ich schrieb die Töne nieder, die ich hörte, und sie bildeten eine Klavierminiatur. Ohne groß darüber nachzudenken, fügte ich sie dem Notenbündel hinzu, das ich an Vova schickte, und gab ihr direkt vor dem Absenden den Titel “Parting”.
Howard Blake
*Eine frühere Auswahl von Stücken aus Lifestyle wurde 1983 unter dem Titel “Eight Character Pieces” von Faber Music veröffentlicht. Die darin enthaltenen Stücke waren nicht gänzlich die gleichen wie die acht hier in numerischer Reihenfolge aufgenommenen, und es gibt einige kleinere Diskrepanzen zwischen den beiden Ausgaben. Die Faber-Ausgabe bestand aus: Prélude in h-Moll (489a), Nocturne (489b), Rag (489j), Ballade (489i), Chaconne (489g), Toccatina (489d), Berceuse (489l) und Studie (489k). Diese Ausgabe wurde 1994 vom Markt genommen. Einige der Stücke aus dieser früheren Ausgabe wurden jedoch auch vom Associated Board of The Royal Schools of Music veröffentlicht und befinden sich immer noch im Umlauf.