In Wayne Shorter verlor die Musikwelt am 2. März 2023 einen der letzten noch verbliebenen Titanen des Jazz. Über mehr als sechs Jahrzehnte hinweg hatte er die Entwicklung des modernen Jazz mit seiner sofort identifizierbaren Stimme auf Tenor- und Sopransaxofon, als Komponist, Arrangeur und Improvisator geprägt. Aber auch in der Popmusik setzte er mit fantasievollen Soli mehrfach Ausrufezeichen. In seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten erwies sich Shorter mit einem akustischen All-Star-Quartett (dem sogenannten “Footprints”-Quartett) auf Jazzfestivals rund um den Globus beständig als Publikumsmagnet. Der New York Times-Kritiker Nate Chinen nannte dieses Quartett “eine der einflussreichsten Bands der letzten 20 Jahre, weil es die ewigen Wahrheiten des Jazz mit einem verwegenen Sinn für die sich entfaltenden Möglichkeiten im Hier und Jetzt verbindet.”
Noch kurz vor seinem Tod arbeitete Shorter fieberhaft daran, seinen musikalischen Nachlass zu ordnen und in seinem Archiv nach unveröffentlichten Aufnahmen zu suchen, die er seinen Fans in aller Welt nicht vorenthalten wollte. Jetzt erscheint mit “Celebration, Volume 1 Stockholm 2014” die erste dieser noch von ihm selbst kuratierten Aufnahmen. Es ist ein Doppelalbum mit einem atemberaubenden Konzertmitschnitt seines gefeierten “Footprints”-Quartetts.
Wayne Shorters Musik, so heißt es oft, sei nie von dieser Welt gewesen. Seit er als Mitglied von Art Blakey’s Jazz Messengers ins große Rampenlicht getreten war, hat Shorter als Saxofonist und Komponist tollkühn immer wieder neue Klangbarrieren durchbrochen und dabei meist ohne Auffangnetz und doppelten Boden gespielt. Bereits in jungen Jahren soll er eine enigmatische Ausstrahlung besessen haben, die sich später dann auch in seiner Musik manifestierte. Seine Jugendfreunde in Newark/New Jersey gaben ihm, da er oft etwas abwesend und wie nicht von dieser Welt wirkte, den Spitznamen “Mr. Gone” (nach dem 1978 auch ein Weather-Report-Album benannt wurde) und machten die Wendung “weird as Wayne” zum geflügelten Wort. Mit seinem 1988 gestorbenen Bruder Alan, einem Trompeter, trat Wayne während seiner Jugend als “Mr. Weird & Doc Strange” auf. Und sie machten diesen Spitznamen alle Ehre, wenn sie selbst in den schummrigsten Clubs nicht ihre coolen Sonnenbrillen abnehmen wollten. “Wir trugen zerknitterte Anzüge, weil wir dachten, dass man in einem solchen Outfit besser Bebop spielt”, erinnerte sich Wayne Shorter 2004 lachend in einem Interview mit The Atlantic. “Man musste schäbig aussehen, um echt zu wirken.”
Als Wayne Shorter 1959 mit 26 Jahren zu Art Blakey und seinen Jazz Messengers stieß, hatte er allerdings schon einen ganz anderen Reifegrad erlangt. Binnen kurzem beförderte Blakey den Youngster zum musikalischen Leiter der Band, zu deren Repertoire er zahlreiche eigene Kompositionen beisteuerte. 1964 verließ Shorter die Jazz Messengers, um das zweite große Quintett von Miles Davis zu komplettieren. Im selben Jahr erhielt er auch einen Plattenvertrag bei dem Label Blue Note, für das er bis 1970 eine Reihe von richtungsweisenden Alben einspielte: darunter “Night Dreamer”, “Juju”, “Speak No Evil”, “Adam’s Apple”, “Schizophrenia” und “Super Nova”. Auf ihnen findet man viele von Shorters beliebtesten Kompositionen, die er danach – wie etwa das unverwüstliche “Footprints” – immer wieder erfrischend neu interpretierte.
An der Seite von Miles, der Shorter als den “intellektuellen musikalischen Katalysator” seiner Band bezeichnete, avancierte der Saxofonist Ende der 1960er Jahre auch zu einem der Pioniere von Fusion-Musik und Jazz-Rock. 1970 gründete Shorter mit dem Keyboarder Joe Zawinul die ebenso innovative wie erfolgreiche Fusion-Band Weather Report, mit der er 1979 seinen ersten von insgesamt zwölf Grammys gewann. Mit regelmäßigen Soloaufnahmen meldete sich Shorter erst Mitte der 1980er Jahre, nach der Auflösung von Weather Report, zurück.
Besonders gefeiert wurden die Alben, die er zwischen 1995 und 2018 für Verve und Blue Noteaufnahm, darunter 1998 das Duo-Album “1+1” mit seinem alten Freund Herbie Hancock, mit dem er einst bei Miles zusammengespielt hatte. 2001 bildete er dann mit Danilo Pérez am Klavier, John Patitucci am Bass und Brian Blade am Schlagzeug das besagte “Footprints”-Quartett, das – so der eingangs zitierte Giddins – eine “seismische Wirkung” auslöste. Das Quartett sollte unverändert bis 2018, als sich der inzwischen 85-jährige Saxofonist aus gesundheitlichen Gründen von der Bühne verabschieden musste, Bestand haben. In diesem Zeitraum erschienen von der Band fünf größtenteils live aufgenommene Alben, die mit ebenso vielen Grammys ausgezeichnet wurden: “Footprints Live!”, “Alegría”, “Beyond The Sound Barrier”, “Without A Net” und das epische Triple-Album “Emanon”.