Wayne Shorters Musik, so heißt es oft, ist nie von dieser Welt gewesen.
Seit er als Mitglied von Art Blakey’s Jazz Messengers ins große Rampenlicht getreten war, hat Shorter als Saxofonist und Komponist tollkühn immer wieder neue Klangbarrieren durchbrochen und dabei meist ohne Auffangnetz und doppelten Boden gespielt. Bereits in jungen Jahren soll er eine enigmatische Ausstrahlung besessen haben, die sich später dann auch in seiner Musik manifestierte. Seine Jugendfreunde in Newark/New Jersey – zu denen der Poet Amiri Baraka a.k.a. LeRoi Jones gehörte – gaben ihm, da er oft etwas abwesend und wie nicht von dieser Welt wirkte, den Spitznamen “Mr. Gone” (nach dem 1978 auch ein Weather-Report-Album benannt wurde) und machten die Wendung “weird as Wayne” zum geflügelten Wort. Mit seinem 1988 gestorbenen Bruder Alan, einem Trompeter, trat Wayne während seiner Jugend als “Mr. Weird & Doc Strange” auf. Und sie machten diesen Spitznamen alle Ehre, wenn sie selbst in den schummrigsten Clubs nicht ihre coolen Sonnenbrillen abnehmen wollten. “Wir trugen zerknitterte Anzüge, weil wir dachten, dass man in einem solchen Outfit besser Bebop spielt”, erinnerte sich Wayne Shorter 2004 lachend in einem Interview mit The Atlantic. “Man musste schäbig aussehen, um echt zu wirken.”
Als Wayne Shorter 1959 mit 26 Jahren zu Art Blakey und seinen Jazz Messengers stieß, hatte er allerdings schon einen ganz anderen Reifegrad erlangt. Binnen kurzem beförderte Blakey den Youngster zum musikalischen Leiter der Band. Mit seinen einfallsreichen Improvisationen und brillanten Kompositionen wie “Lester Left Town”, “Children Of The Night” und “Free For All”, die auf Blue-Note-Alben wie “The Big Beat”, “Mosaic” und “Indestructible” zu hören waren, machte Shorter die Jazz Messengers zu einem der tonangebenden Ensembles des modernen Jazz. 1964 gab Blue-Note-Gründer Alfred Lion Shorter schließlich seinen eigenen Plattenvertrag bei dem Label, für das er bis 1970 eine Reihe von spektakulären Alben einspielte, mit denen er dem Jazz jener Zeit seinen unverkennbar eigenen Stempel aufdrückte: darunter “Night Dreamer”, “Juju”, “Speak No Evil”, “Adam’s Apple”, “Schizophrenia” und “Super Nova”. Auf ihnen findet man einige von Shorters beliebtesten Kompositionen wie “Witch Hunt”, “Infant Eyes” und natürlich das unsterbliche “Footprints”.
Parallel spielte Shorter damals allerdings auch mit Miles Davis. Zunächst als Mitglied des bahnbrechenden zweiten Davis-Quintetts mit Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams (der Trompeter nannte Shorter den “intellektuellen musikalischen Katalysator” der Band), später gehörte er auch zum Nukleus der Musiker, die auf Davis’ frühen Fusion-Meisterwerken zu hören waren. 1970 gründete Shorter dann zusammen mit dem Keyboarder Joe Zawinul die ungemein erfolgreiche und innovatrive Fusion-Band Weather Report, mit der er 1979 seinen ersten Grammy gewann. Obwohl Shorter dort nach einiger Zeit immer mehr im Schatten von Zawinul agierte, gehörte er der Band bis ihrer Auflösung im Jahr 1986 an.
Zwischen 1995 und 2005 veröffentlichte der Saxofonist eine Reihe gefeierter Alben bei Verve, die mit mehreren Grammys ausgezeichnet wurden: “High Life” (1995), “1+1” (1997, im Duo mit Herbie Hancock), “Footprints Live!" (2001), “Alegría” (2003) und “Beyond The Sound Barrier" (2005). 2013 kehrte Wayne Shorter mit dem Album “Without A Net” zu seinem alten Label Blue Note Records zurück, bei dem er 2018 das epische Triple-Album “Emanon” vorlegte. Schlagzeilen machte er in den letzten Jahren auch mit der Oper “… (Iphigenia)”, die er gemeinsam mit der Bassistin und Sängerin Esperanza Spalding geschrieben hatte. Erst vor kurzem erhielt der Saxofonist, der aus gesundheitlichen Gründen schon seit geraumer Zeit nicht mehr live aufgetreten war, seinen dreizehnten Grammy für das 2022 veröffentlichte Album “Live At The Detroit Jazz Festival”.
Als Herbie Hancock, der mehr als sechzig Jahre lang Shorters engster Freund und Spielpartner war, gestern von Shorters Tod erfuhr, meinte er in einer Mitteilung: “Wayne Shorter, mein bester Freund, verließ uns mit Mut im Herzen, Liebe und Mitgefühl für alle und einem Geist, der die ewige Zukunft suchte. Er war bereit für seine Wiedergeburt. Wie jeder Mensch ist er unersetzlich und konnte als Saxofonist, Komponist, Orchestrator und jüngst als Komponist der meisterhaften Oper ‘…(Iphigenia)’ den Gipfel der Exzellenz erreichen. Ich vermisse es schon jetzt, mit ihm zusammenzusein, und auch seine speziellen Wayne-ismen, aber ich werde seinen Geist immer in meinem Herzen tragen.”