Seit der Veröffentlichung seines letzten Albums “Echoes” im Jahr 2011, das in UK Platz 1 erreichte und mit Platin ausgezeichnet wurde, hat sich für den mehrfachen Brit-Award-Gewinner Will Young einiges geändert – ähnlich wie in seiner Single “Changes” (2008) heraufbeschworen. Trotz seines Riesenerfolges (bisher drei Nummer−1-Alben und elf Top−10-Singles) hatte Young das Gefühl, eine Pause von der Musik zu brauchen. Nachdem er bereits einige Auftritte als Schauspieler in Film und Fernsehen gehabt hatte, begeisterte er die Kritiker als Conférencier im Musical Cabaret (dafür wurde er für einen Olivier Award nominiert), moderierte eine ITV-Dokumentation über den surrealistischen Künstler Magritte und offenbarte seine Leidenschaft für Politik in Blog-Einträgen für die Huffington Post und andere. Außerdem schrieb er eine Biografie, die zum Bestseller wurde, und war das Gesicht einer Kampagne der Charity-Organisation Stonewall. Darüber hinaus ist er mittlerweile Lehrer und Mentor anderer Singer-Songwriter.
Schließlich begann er dann wieder, Songs zu schreiben. Dabei halfen ihm der Wechsel zu einem neuen Label (Island Records/Universal Music) und eine entspanntere Einstellung. Nachdem man ihm den notwendigen Raum und genug Zeit gegeben hatte, schrieb er “85% Proof” (später mehr zu diesem Titel), ein vielseitiges, sehr selbstbewusstes und berührend menschliches Album. Die fröhliche erste Single “Love Revolution” mit ihrem Oldschool-R&B-Handclaps überrascht mit einer frechen Neuinterpretation der Dance-Hymne “Loneliness” von Tomcraft. “Es verschafft einem eine gewisse Glaubwürdigkeit, wenn man sich eine Weile hält”, lacht er, als er seine abwechslungsreiche 15-jährige Karriere Revue passieren lässt. “Mir ist klar geworden, dass ich das, was ich mache, tatsächlich ganz gut kann.”
Das Album “85% Proof” wurde von
Jim Eliot (
Mikky Ekko,
Ellie Goulding) produziert, mit dem Young bereits zusammengearbeitet hat, und ist eine kreative Verarbeitung seiner zahlreichen Aktivitäten nach Echoes. Die trotzige zweite Single “
Brave Man” (“Darüber, sich Sachen zu stellen und keine Angst vor seinem Innersten zu haben”) und das musikalisch beschwingte aber textlich ebenfalls trotzige “
Thank You” offenbaren einen mutigeren, furchtloseren Young, zum Teil durch seine Rolle als Conférencier inspiriert. “Die ganze Show und die Performance verkörpern in gewisser Weise meine Sicht auf das Leben. Sie ist subversiv, komisch, politisch, ein gesellschaftlicher Kommentar, sie macht Spaß, ist voller großartiger Musik und sehr unterhaltsam”, erklärt er. “In einem Song wie ‘Thank You’ geht es also darum, keine Angst zu haben, zum Beispiel jemandem die Stirn zu bieten. Es ist in Ordnung, wütend zu sein. Manchmal muss man einfach sagen ‘Verpiss dich, du hast mich sitzen lassen, dir passt das hier nicht, du hast mir einen Strafzettel verpasst’. Zum Teufel mit dem ganzen buddhistischen Zen-Kram.”
Die Schauspielerei verhalf Young darüber hinaus zu neuen Perspektiven beim Songwriting. Durch die Erschaffung von Figuren gelang es ihm, in ganz neue Sphären vorzudringen, und er nutzt eine geheimnisvollere Bildsprache in seinen Songs. So beschreibt das bewegende, eisige Popstück “Like A River” das Ertränken einer Emotion, und das Drum’n'Bass-mäßige “Promise Me” bedient sich eines kleinen Jungen als Symbol für das dramatische Gefühl von Einsamkeit und Wiedergeburt des Songs. “Für eine Rolle muss ich alle Elemente innerhalb meines eigenen Lebens finden”, erklärt er. “Das funktioniert bei Songs genauso. Ich muss mich zwar wie ein Erwachsener verhalten, aber manchmal bin ich vielleicht so sauer, dass ich einen Wutanfall bekommen könnte. Das kann man sich in einem Song natürlich eher erlauben.”
Das Schreiben seiner Biografie “Funny Peculiar” hat seine Herangehensweise an das neue Album ebenfalls beeinflusst, vor allem, indem es seine Liebe zur Sprache wiederbelebte. "Dadurch habe ich wirklich meine Liebe zum Schreiben neu entdeckt. Es kam mir vor, als hätte ich meine Stimme wiedergefunden, einfach als Mensch. Durch die Sachen, die ich für die Huffington Post schrieb, machte ich mir mehr Gedanken über das große Ganze. Mein Job kann sehr vereinnahmend sein und sich nur um mich drehen, aber irgendwann habe ich angefangen mich zu fragen ‘worum geht es eigentlich?’. So zeigte er in seinen Blogs verstärktes Interesse an der Welt der Politik, verlagerte aber auch seinen Blickwinkel beim Songwriting nach außen. “Das Album ist viel allumfassender, weniger introvertiert und eher ‘so ist das Leben, so sieht es aus’”, sagt er. “Viele meiner anderen Alben waren etwas selbstmitleidig, aber so fühle ich mich momentan nicht, und deshalb hat mich das auch nicht inspiriert.” Dieser Blick in die Vergangenheit verhalf ihm auch zu einer neuen Sicht auf seine Gegenwart. “Mir hat die Zeit als Teenager ein bisschen gefehlt, als man einfach machen konnte, was man wollte. Ich dachte, das wäre irgendwie verloren, aber jetzt habe ich wieder genau dieses Gefühl. Man macht sich einfach nicht so viele Gedanken.” Tatsächlich bietet “85% Proof” abgesehen von den ernsteren Momenten auch eine Menge unbändiges Glück, besonders im lebhaften, ungeniert fröhlichen Disco-Delirium von “U Think I’m Sexy”. “Ich fühle mich im Moment echt ziemlich sexy”, grinst er.
Das Album kann die Höhen und Tiefen des Lebens wahrscheinlich so gut widerspiegeln, weil es so entspannt und beinahe instinktiv entstanden ist. Die Arbeit an den vorherigen Alben hat durschnittlich 18 Monate gedauert, der Großteil von “85% Proof” ist das Ergebnis von gerade einmal fünf Sessions mit Eliot und der Songwriterin Mima Stilwell. Die Arbeit begann im Juni, und im September 2014 war das Album mit 10 Tracks im Kasten. Es war auch das Ergebnis einer neuen kreativen Methode. “Wenn wir eine grobe Melodie oder ein paar Zeilen Text hatten, setzte sich Jim die Kopfhörer auf und machte sich an die Arbeit, dann saßen Mima und ich da und schrieben die Story”, erzählt er. “Wir wollten nicht mehr Lyrics zu einer Melodie finden, wir wollten zuerst den Text schreiben, so ist jeder Song entstanden. Das war eine völlig andere Art zu schreiben, so hatte ich das noch nie gemacht. Das hängt alles damit zusammen, dass ich meine Stimme gefunden habe; ich fand heraus, was ich sagen wollte. Es war so einfach, und je einfacher etwas ist, desto wahrhaftiger, ehrlicher und besser ist es.” Während “Echoes” also eine einheitliche Vision für Gehalt der Texte und Sound aufwies, ist “85% Proof” voller sorgloser Experimentierfreude. “Bei diesem Album habe ich nicht bewusst etwas Bestimmtes versucht”, stellt er nüchtern fest. “So war es am besten. Es gab keine Bezüge, ich wusste nicht, in welche Richtung es gehen sollte, ich hatte vorher keine Pläne.”
Das Album leistet sich zwar mehr Sprünge zwischen verschiedenen Genres als “Echoes” – “Blue” erinnert an den pastoralen Folk der 70er, “Gold” trägt deutliche Nashville-Einflüsse und “I Don’t Need A Lover” ist eine schlichte Klavierballade – doch es wird durch sein Vertrauen in sein Kreativteam zusammengehalten. “Zuerst habe ich mir ein bisschen Sorgen gemacht, weil das Album keinen einheitlichen Sound hat, und das vorherige eine so geradlinige Platte war. Dieses ist eher eine Sammlung einzelner Songs. Jeder steht für sich allein”, meint er. “Kontinuität entsteht dadurch, dass vor allem ich, Jim und Mima schreiben und Jim produziert, es hat also alles einen gemeinsamen Ursprung.” Darüber hinaus ist der Kern natürlich Will Young, der Popstar, und seine angeborene Fähigkeit, aus jedem Material, das ihm in die Hände fällt, unvergessliche Melodien herauszuziehen. “Ich mag Popmusik und ich bin ein Popsänger, da wäre es doch lächerlich, ein Album mit einer Stunde Harfenmusik zu machen”, lacht er. “Als würde man ein Dreieck in ein viereckiges Loch stecken wollen. Der Rahmen ist immer schon da.”
Nun zum Albumtitel – “85% Proof”. Während einer sechswöchigen Thailandreise, bei der Will sich mit Thaiboxen beschäftigte, und wo auch das Coverfoto des Albums entstand, unterhielt er sich mit seinem Bruder über eine Dokumentation über Moonshine, hochprozentigen, schwarzgebrannten Alkohol. Nachdem sein Bruder den Titel vorgeschlagen hatte, sah Will “85% Proof” als Ausdruck für die erhoffte Wirkung, die das Album auf seine Hörer haben sollte, aber ebenso dafür, wie wenig Kontrolle er am Ende über diese Wirkung hat. “Mein Bruder meinte, dass man den Alkoholgehalt von Schwarzgebranntem nur herausfindet, wenn man sich betrinkt. Das ist für mich so ähnlich, wie wenn man alle Songs zusammen in einen Kessel wirft, dann weiß man auch nicht, wie andere Leute darauf reagieren. Entweder sind sie beschwipst oder eben nicht”, lacht er. Bezogen auf die Songs des Albums ist der Titel eine selbstbewusste Absichtserklärung: “Man hat eh nie 100-prozentige Sicherheit bei irgendwas, aber man kann es auf 85% bringen. Und das ist ein verdammt gutes Album.” Zeit für ein paar Explosionen.