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Die Virtuosität des Geistes
Sergej Rachmaninow war einer der besten und beliebtesten Pianisten seiner Generation. In den letzten 25 Jahren seines Lebens war er ständig auf Tournee; dabei begeisterte er zwar auch im romantischen Standardrepertoire (insbesondere bei Chopin), doch vor allem interessierte sich das Publikum bei seinen Solo- und Orchesterkonzerten für Rachmaninows eigene Werke.
Für Rachmaninow gab es keine Trennung zwischen Komponieren und Konzertieren (und daneben war er auch ein vielgerühmter Dirigent); es fiel ihm jedoch schwer, sich beiden Aktivitäten gleichzeitig zu widmen. In seiner Jugend besuchte er das Konservatorium von Sankt Petersburg; anschließend wechselte er ans Moskauer Konservatorium, wo er sich einen Namen als Komponist machte. Für seine mit gerade einmal 18 Jahren verfasste Abschlussarbeit, den Operneinakter Aleko, wurde er von der Schule mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.
Etwa zur gleichen Zeit beendete Rachmaninow sein Klavierkonzert Nr. 1 in fis-Moll, das sich stark an Griegs Klavierkonzert anlehnt. Es wird in der Regel als »Jugendwerk« bezeichnet, obwohl es fast immer in der umfassend revidierten Fassung von 1917 zu hören ist. »Ich habe mein Erstes Konzert überarbeitet; jetzt ist es wirklich gut«, schrieb Rachmaninow dem russischen Musikwissenschaftler Alfred Swan. »Die ganze jugendliche Frische blieb erhalten, doch es lässt sich jetzt viel einfacher spielen. Das bemerkt allerdings keiner; wenn ich in Amerika ankündige, dass ich das Erste Konzert spielen werde, protestiert das Publikum zwar nicht, doch ich sehe an den Gesichtern, dass sie lieber das Zweite oder Dritte hören würden.«
Kein Wunder: Die beiden letztgenannten Werke gehören zu den weltweit beliebtesten und am häufigsten aufgeführten und eingespielten Klavierkonzerten. Die Uraufführung des Zweiten Konzerts in c-Moll war 1901 ein triumphaler Erfolg, und wie bei vielen beliebten Werken Rachmaninows wurden sein Stil und seine Motive immer wieder von Filmemachern und Songwritern geplündert. So finden sich zahlreiche Ausschnitte in David Leans Film Begegnung von 1945; das Gleiche gilt für Frank Borzages Film I’ve Always Loved You von 1946, der ursprünglich den Titel Concerto trug. Eine Aufführung des Zweiten Klavierkonzerts (und dessen Einstudierung am Klavier) prägt einen großen Teil der Handlung von William Dieterles Drama Liebesrausch auf Capri von 1950. Das prachtvolle zweite Thema des dritten Satzes mit seinen exotischen Klangfarben diente als Vorlage für den Hit des jungen Frank Sinatra Full Moon and Empty Arms, den später viele weitere Sänger von Sarah Vaughan bis zu Bob Dylan übernahmen.
Das 1909 vollendete Klavierkonzert Nr. 3 in d-Moll, das persönliche Lieblingsstück des Komponisten, ist ein weiteres Werk mit großartigen Melodien und legendären technischen Schwierigkeiten. (Als Rachmaninow es 1942 mit Vladimir Horowitz in der Hollywood Bowl hörte, kam er zum Schlussapplaus auf die Bühne, gab dem Pianisten die Hand und sagte zu ihm, von so einer Interpretation habe er immer geträumt – »einer der größten Augenblicke meines Lebens«, erklärte Horowitz später.) In diesem Paradestück ist die Virtuosität stets musikalisch motiviert, doch sie geht weit über bloße Fingerfertigkeit hinaus: Es ist eine Virtuosität des Geistes, die musikalische Entwicklungen eher unterstreicht als ersetzt. Auch das Dritte Klavierkonzert hat seine ganz eigene Filmgeschichte; die prominenteste Rolle spielt es in Shine, der 1996 erschienenen Filmbiografie des australischen Pianisten David Helfgott.
Zutiefst erschüttert vom Chaos der Revolution, verließ Rachmaninow Russland Ende 1917 für ein Konzert in Stockholm. Um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern, war er in den folgenden Jahren nahezu unablässig auf Tournee. Dies ließ ihm wenig Zeit zum Komponieren: Von 1918 bis zu seinem Tod im Jahr 1943 vollendete er nur noch sechs weitere Werke, die allerdings sämtlich zu seinen Meisterwerken zählen.
Mit dem 1926 entstandenen Klavierkonzert Nr. 4 in g-Moll schlug Rachmaninow eine neue Richtung ein. Das Konzert ist schlanker und konzentrierter als frühere Werke; im zweiten Satz finden sich zahlreiche Anspielungen an die Jazzmusik von George Gershwin und Paul Whiteman, die Rachmaninow in New York gehört hatte. So kam es vielleicht nicht ganz überraschend, dass das Werk bei der Uraufführung 1927 von der Musikkritik zerrissen wurde. Vor der Veröffentlichung im Jahr 1928 unterzog es Rachmaninow einer umfassenden Revision; da es weiterhin erfolglos blieb, zog er es zurück, revidierte es ein weiteres Mal und veröffentlichte es 1941 erneut.
Der Beifall und die Anerkennung, die dem Vierten Klavierkonzert anfangs versagt blieben, wurden dann der 1934 entstandenen Rhapsodie über ein Thema von Paganini zuteil. Das Stück besteht aus 24 Variationen über Paganinis Caprice Nr. 24 für Solovioline (ein Stück, das auch viele andere Komponisten inspiriert hat, darunter Brahms), lehnt sich jedoch gleichzeitig an die dreisätzige Struktur (schnell–langsam–schnell) der Klavierkonzerte an. Ausschnitte und Bearbeitungen der opulenten 18. Variation, eines kantablen Andante mit einer Umkehrung der Melodie in der seltenen Tonart Des-Dur (der Großteil der Rhapsodie steht in a-Moll), finden sich in etlichen Werken der Populärkultur, in Filmen ebenso wie in Popsongs und Videospielen. Doch neben diesem großartigen Moment umfasst die Rhapsodie auch das unheilverkündende Dies irae aus der Totenmesse, das in Rachmaninows Musik sehr oft anklingt und mit dem auch dieses Werk endet.
Yuja Wang hat sich seit Beginn ihrer Karriere intensiv mit all diesen Werken befasst. (Auf ihrem ersten Orchesteralbum kombinierte sie das Klavierkonzert Nr. 2 mit der Rhapsodie über ein Thema von Paganini.) Die Pianistin genießt es, »auf den Orchesterwellen zu surfen« (ein Bild, das stark an Südkalifornien erinnert), und liebt die Ehrlichkeit, Gesanglichkeit und den »typisch russischen« Charakter dieser Musik. In der Rhapsodie erkennt sie – ganz ungewöhnlich – auch viele witzige Momente.
Im Februar 2023 tauchte Yuja Wang tiefer denn je in diese unglaublich lohnenden, aber extrem anspruchsvollen fünf Werke ein und spielte sie mit dem Los Angeles Philharmonic unter Gustavo Dudamel, mit denen sie durch eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit verbunden ist. Die Konzerte, auf denen das vorliegende Album beruht, fanden an zwei Wochenenden statt, die die konzertanten Werke mit Rachmaninows Symphonischen Tänzen und seiner symphonischen Dichtung Die Glocken kombinierten.
»Yuja Wangs Klavierspiel zeichnete sich durch außerordentliche Kraft, Tiefe und Brillanz aus«, schrieb Mark Swed in der Los Angeles Times, »und Dudamels Begleitung brachte das wunderbar zur Geltung. Die Pianistin und der Dirigent arbeiten schon lange zusammen, was sich hier sehr deutlich zeigte. Am eindrucksvollsten war es zu sehen, wie konzentriert sie diese Werke vortrugen: Nach dem Beginn jeder Aufführung schien alles andere zu verschwinden.«
John Henken
Virtuosity of Mind and Spirit
Sergei Rachmaninoff was one of the most accomplished and enduringly popular pianists of his generation. He toured prodigiously throughout the last 25 years of his life and, though much admired for his interpretation of standard Romantic repertory (particularly Chopin), his own music was always the primary draw, whether he was playing in recital or with an orchestra.
There was always a symbiotic relationship between composing and concertizing for Rachmaninoff. (He was also an acclaimed conductor.) But he found it difficult to do both at the same time. As a young boy, he studied at the St. Petersburg Conservatory before transferring to the Moscow Conservatory, where he was highly esteemed as a composer, graduating just after his 18th birthday with the school’s Great Gold Medal for his one-act opera Aleko.
About the same time, he finished his Piano Concerto No. 1 in F sharp minor, modeled on the Grieg Piano Concerto. The work is invariably described as “youthful,” although it is almost always played today as very substantially revised in 1917. “I have rewritten my First Concerto; it is really good now,” Rachmaninoff wrote to the Russian musicologist Alfred Swan. “All the youthful freshness is there, yet it plays itself so much more easily. And nobody pays any attention. When I tell them in America that I will play the First Concerto, they do not protest, but I can see by their faces that they would prefer the Second or Third.”
Well, of course: those are two of the most widely loved, performed and recorded concertos in the world. The Piano Concerto No. 2 in C minor was ecstatically received at its premiere in 1901 and, like many of Rachmaninoff’s most popular works, has been frequently raided for both style and content by filmmakers and songwriters. David Lean’s 1945 Brief Encounter uses excerpts throughout the film, as does Frank Borzage’s 1946 I’ve Always Loved You (which was originally called Concerto). A performance of the concerto (and practicing for it) forms a big part of the scenario for William Dieterle’s 1950 drama September Affair. And the sumptuous, exotically colored second theme of the third movement provided the tune for Full Moon and Empty Arms, a major hit in 1945 for the young Frank Sinatra that has been recorded by many others, from Sarah Vaughan to Bob Dylan.
Another work of big tunes and legendary difficulty, the Piano Concerto No. 3 in D minor was the composer’s own favorite. (When he heard Vladimir Horowitz play it at the Hollywood Bowl in 1942, Rachmaninoff walked onstage during the bows, shook the pianist’s hand, and told him that was how he had always dreamed this concerto should be played; “the greatest moment of my life,” Horowitz later declared.) In this fabulous showpiece, musicianship always motivates virtuosity, but it’s an interpretive virtuosity of the mind and spirit as much as a mechanical virtuosity of the fingers – one that intensifies musical developments rather than replaces them. Completed in 1909, the Third Concerto has its own film history, most prominently in Shine, the 1996 bio-pic of Australian pianist David Helfgott.
Deeply distressed by the chaos of the Revolution, Rachmaninoff left Russia for a concert in Stockholm at the end of 1917. He took his family with him and thereafter supported it mainly by incessant touring. This left little time for composition, and from 1918 to his death in 1943, Rachmaninoff finished only six more pieces, though they are all major works.
He took a fresh direction in his Piano Concerto No. 4 in G minor, completed in 1926. It is leaner and more concentrated, with strong suggestions in the second movement of the George Gershwin and Paul Whiteman jazz that Rachmaninoff had come to love in New York City. Not surprisingly, perhaps, the concerto was brutally reviewed by critics. Rachmaninoff revised it extensively before publication in 1928; but, since it still proved unsuccessful, he withdrew the work, revising it again and republishing it in 1941.
All of the acclaim and love that the Fourth Concerto missed out on initially returned with interest for the Rhapsody on a Theme of Paganini, written in 1934. Though a set of 24 continuous variations on Paganini’s 24th Caprice for solo violin (which inspired a number of other composers, including Brahms), the Rhapsody also encapsulates the three-movement (fast–slow–fast) structure of the concertos. The opulent Variation 18, a singing Andante with the melody upside down in the remote key of D flat major (the bulk of the work being in A minor) has been often excerpted and arranged for wide use in popular culture, from films to pop songs to video games. But, sublime as that moment is, the work also includes – indeed, ends with – the ominous Dies irae chant from the requiem mass, a Rachmaninoff signature.
Yuja Wang has been intensely involved with all of these works since the beginning of her career. (Her first recording with orchestra paired the Piano Concerto No. 2 with the Rhapsody on a Theme of Paganini.) She revels in “surfing the orchestral waves” – a very “SoCal” image – and in the sincerity, songfulness, and sheer Russianness of the music. She also – and unusually – finds a lot of wit in the Rhapsody.
In February 2023, Yuja Wang took the deepest dive possible into this endlessly rewarding but supremely taxing body of work, playing all five pieces with Gustavo Dudamel and the Los Angeles Philharmonic, artistic friends and collaborators of long standing. Those performances, from which these recordings have been drawn, were spread out over two weekends in programs matching the concertante works with Rachmaninoff’s Symphonic Dances and choral symphony The Bells.
“Yuja Wang played with exceptional power, depth, and dazzle,” Mark Swed wrote in the Los Angeles Times. “As accompanist, Dudamel went in for illumination. The pianist and conductor have had a long musical relationship, and it showed. What seemed the most impressive was the focus. Once each performance started, all else seemed to fall away.”
John Henken