Clara Schumanns Loyalität ihrem Mann gegenüber reichte bis zu zerstörerischen Akten. Einige der späten Kompositionen Roberts übergab sie, nach intensiver inhaltlicher Diskussion mit Johannes Brahms, gegen Ende ihres Lebens den Flammen, um zu vermeiden, dass das Andenken des großen Komponisten durch schwächere Werke posthum Schaden nehmen könnte. Es war ein Zeichen für ein spannungsreiches, aber letztlich intensiv liebendes Verhältnis, das Clara und Robert Schumann verband, und fließt nun als einer der vielen Impulse in die Aufnahmen von „Romancendres" ein, mit denen Heinz Holliger einem seiner vielschichtigen Vorbilder ein musikalisches Denkmal setzt. Und es ist zugleich auch eine künstlerische Glückwunschkarte an Holliger selbst, ausgestellt von den Künstlern der Aufnahme und dem Label ECM New Series, mit dem sie dem Komponisten, Dirigenten und Oboisten zu seinem 70.Geburtstag gratulieren, den er am 21.Mai feiert.
Als Johannes Brahms anno 1853 als junger Mann zum ersten Mal die Schumanns traf, begann für alle Beteiligten eine seltsame, aber in mancher Hinsicht inspirierende Phase ihres Lebens. Im gleichen Jahr verlor Robert Schumann sein Amt als Direktor des Musikvereins in Düsseldorf, eine der vielen Irritationen, die den mental instabilen Komponisten beeinflussten und letztlich in die geistige Erkrankung der späten Jahre mündeten. Schumann schrieb weiter, unter anderem auch fünf Romanzen für Cello und Klavier, die Clara später vernichtete und über die wir heute nur aus Beschreibungen Joseph Joachims etwas wissen, der sie in einem Brief ausführlich erwähnte. Die wiederum waren eine der Inspirationen, auf die sich Heinz Holliger bezog, als er sich 2003 an die Kompostion der „Romancendres" machte, eine sechsteilige Meditation für Cello und Klavier, die den Zusammenhängen der späten Lebensjahre Robert Schumanns nachforschte.
Für das gleichnamige Programm im Rahmen der Reihe ECM New Series hat er seine „Romancendres" – ein Neologismus aus „Romanze" und dem französischen Wort für „Asche" – mit zwei gegensätzlichen Werken gerahmt. Als Einleitung wählte er drei Romanzen, ebenfalls für Cello und Klavier aus dem Jahr 1853, die Clara Schumann geschrieben hatte. Sie werden, wie auch das Titelstück, von dem Cellisten Christoph Richter und dem Pianisten Dénes Varjón gespielt, die mit klarer und schlichter Eleganz sowohl die romantische wie die moderne Ideenwelt in Musik verwandeln. Den dritten Teil wiederum bestimmt die Komposition für Chor, Orchester und Tonband „Gesänge der Frühe, nach Robert Schumann und Friedrich Hölderlin", umgesetzt im Februar 2008 mit dem SWR Vokalensemble Stuttgart und dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung des Komponisten selbst und mit Tonband-Gästen wie dem Schauspieler Bruno Ganz.
„Das Stück hat eine sozusagen dokumentarische Ebene, indem es vom Tonband Briefe der Widmungsträgerin Bettina von Arnim einschließt, oder auch die Obduktionsberichte von Schumann und Hölderlin.", meint Holliger im Gespräch mit der Journalistin Susanne Kübler und ergänzt: „Dazu kommt eine fast halluzinationsartige Musik. Ich will als Komponist ja nicht Schumann imitieren, ich lasse mich inspirieren, von seiner Kompositionstechnik, auch von kryptographischen Dingen." So ist eine subtile Charakterstudie mit den Mitteln der Musik entstanden, die hinein führt in die Innenwelten eines romantischen Komponisten aus der Sicht seines zeitgenössischen Nachfahren, faszinierend, stellenweise irritierend, in jedem Fall jedoch getragen von der sympathetischen Ehrfurcht des in seinem Fach mindestens ebenso verdienten Nachfahren.