Der Ausdruck “Ricercar” geht zurück auf das altertümliche italienische “ricercare”(= suchen, forschen). Johann Sebastian Bach verwandte ihn als “Ricercata” für seine sechsstimmige Fuge aus “Das musikalische Opfer” BWV 1079/2, um auf die strenge Form der Gestaltung hinzuweisen. Zugleich bedeutete es verschlüsselt “Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta”, also “Das Thema und Weiteres auf Befehl des Königs in kanonischer Kunst aufgelöst”, als versteckter Hinweis auf seinen Auftraggeber.
Im Barock gehörte es zum alltäglichen Verständnis der Kunst, dass hinter der Wahrnehmung der Oberfläche immer noch mindestens eine weitere, in der Regel göttliche Ebene stand. Das Memento Mori verwies durch das Leben auf den Tod; der Putte, dessen Babyfuß aus dem Deckengemälde herausragte, relativierte die Ansicht von Grenzen, von Bild und Wirklichkeit; der literarische Simplizissimus versteckt seine politischen und philosophischen Erkenntnisse hinter der Fassade des dümmlichen Vagabunden. Bevor die Aufklärung den Menschen die Mehrdeutigkeit austrieb, war letztlich alles ein Hinweis auf anderes, auf die Unendlichkeit göttlichen Wirkens.
Auch die Musik unterlag diesen Vorstellungen. Musikwissenschaftler haben in den vergangenen Jahrzehnten ausgiebig etwa die Zahlenverhältnisse untersucht, die Bachschen Kompositionen zugrunde liegen. Sie haben auf komplexe Umsetzungen religiöser Worte in Klangereignissen hingewiesen, überhaupt manches transparenter gemacht, was dem modernen, linear denkenden Menschen an mehrdimensionalem Kunstverständnis abhanden gekommen ist. Im Laufe der Zeit machten sich daraufhin auch immer mehr Musiker derartige Erkenntnisse zunutze und entwickelten daraus strukturelle Konzepte, die auf den ersten Blick ungewöhnlich wirken.
Aktuelles Beispiel dafür ist Christoph Poppen. Der Geiger und Leiter des Münchner Kammerorchesters spürte als Solist gemeinsam mit dem Hilliard Ensemble bereits auf dem vielgelobten Album “Morimur” den Zusammenhängen Bachscher Vokal- und Instrumentalmusik nach. Das Album “Ricercar” führt ihn nun noch eine Stufe weiter. Ausgehend vom thematisch-strukturellen Zusammenhang des in Kunst gefassten Kreislaufs von Leben und Sterben, verknüpft er Kompositionen von Bach und Anton Webern auf mehreren Ebenen. Da ist zum einen der Ablauf: Die von dem Wiener Komponisten orchestrierte “Fuga (Ricercata) a 6 voci” dient als Klammer, in die Poppens Orchesterversion von Weberns frühem Streichquartett, die Bachsche Osterkantate “Christ lag in Todesbanden” BWV 4 und wiederum Weberns “Fünf Sätze für Streichquartett, op.5” in der Ensembleversion eingearbeitet sind.
Darüber hinaus bestehen Beziehungen durch die nach ähnlichen Gesichtspunkten durchgeführten Orchesterbearbeitungen, durch motivischen Verwandtschaften, aber auch gestalterischen Maximen der Komponisten, die, obwohl zwei Jahrhunderte zeitlich entfernt, sich auf einen ähnlichen Kern beziehen. “Das oberste Prinzip der Darstellung eines musikalischen Gedankens ist Fasslichkeit”, formulierte Webern, ein Satz, dem Bach im Wesentlichen ebenso folgen könnte. Oder mit den Worten Herbert Glossners: “Das Streichquartett von 1905 ist eine klingende Essenz dieser Anschauung [einer Entwicklung des Ganzen aus einer natürlichen Urzelle]. Und Bach? Die Kantate BWV 4 lässt zweihundert Jahre früher in einem einzigen Halbtonmotiv eine solche ‘Urzelle’ des Komponierens erkennen: Es sind die ersten beiden Töne der Choralmelodie”. So gelingt es Poppen gemeinsam mit dem Hilliard Ensemble und dem Münchner Kammerorchester, auf verschiedenen Ebenen eine stilübergreifende Synopse zweier herausragender Meister musikalischer Gestaltung zu entwickeln, die auf der Basis eines zyklischen Verständnisses der Lebensabläufe der Interpretation disparater Werke neue Dimensionen abgewinnt.