“Im Jazz, wie in vielen anderen Disziplinen, kann ein Tick zu einer Angewohnheit werden, eine Angewohnheit zu einer Visitenkarte, eine Visitenkarte zu einem Stil, ein Stil zu einer Stereotype… und dann hat man den Salat”, schrieb der amerikanische Jazzsänger, Pianist und Autor Charlie Christenson in einem Essay mit dem Titel “Ten Things Jazz Singers Do That I Hate”. Die Liste der von ihm verabscheuten typischen Manierismen einiger Jazzsänger (die sich teilweise freilich auch auf Instrumentalisten übertragen ließe) umfasste die folgenden Punkte:
1. Tee trinken, während ein Bandmitglied ein Solo spielt.
2. So zu tun, als sei man eine Art Schlagzeug (Ausnahme: Bobby McFerrin, der tatsächlich eine Art Schlagzeug ist).
3. Erzählen, dass man keine anderen Sänger, sondern nur Instrumentalisten hören. Oder umgekehrt: nur Sänger und keine Instrumentalisten.
4. Achttaktige Intros und drei Wiederholungen am Ende (ja, das ist ganz großartige Arrangierkunst, mein Freund) 5. Sprechen, als sei man 1932 in Harlem zur Welt gekommen, während man tatsächlich 1974 in Minnesota geboren wurden.
6. Während des Improvisierens mit den Hände herumfuchteln (besonders diese zorrotypischen Bewegungen)
7. Sinatra banal schimpfen (wir sprechen hier von einem Mann, der einen mit bloßen Händen umbringen könnte… also wirklich).
8. In Portugiesisch zu singen, wenn man eindeutig kein Portugiesisch spricht.
9. Den Namen des Musikers und des Instruments am Ende eines Solos ins Publikum brüllen (“Bill Johnston am Baritonsax!”).
10. Mit dem Finger schnippen. Jederzeit mit dem Finger schnippen.
Eines dieser Vergehen machte sich dieses Jahr die kanadische Sängerin und Pianistin Diana Krall schuldig. Auf ihrem ansonsten durch und durch fantastischen Album “Quiet Nights”, auf dem sie sich erstmals ausführlich der Stilmittel der Bossa Nova bediente, sang sie auch eine Nummer in brasilianischem Portugiesisch oder – wie böse Zungen meinen – in einem Kauderwelsch, das sie wohl dafür hielt.
Kralls junge Kollegin Melody Gardot machte hingegen ihrem französisch klingenden Nachnamen alle Ehre und sang für ihr zweites Album “My One And Only Thrill” das selbst komponierte und wunderbare französischsprachige Stück “Les étoiles” ein. Wie schon bei ihrem begeistert gefeierten Debütalbum “Worrisome Heart” verließ sich Gardot ganz auf ihre eigenen Songwriting-Qualitäten. Einzige Ausnahme: eine allerdings prächtig gelungene und sehr eigene Interpretation des “Wizard Of Oz”-Klassikers “Over The Rainbow”.
Auch Madeleine Peyroux begeistert Kritiker und Publikum mittlerweile mit immer mehr selbst verfassten Songs und nicht mehr nur als eigenwillige Interpretin von Klassikern diverser Epochen und Stile. Für ihr viertes Soloalbum “Bare Bones” schrieb sie mit begnadeten Partnern wie Ex-Steely-Dan Walter Becker, Larry Klein, Joe Henry, David Batteau und Julian Coryell sämtliche Stücke. Die großartigen Kritiken und die überwältigenden Reaktionen ihres Publikums bei den Konzerten zeigten, dass sie eine gute Entscheidung getroffen hatte. Dem Album ließ Peyroux im Laufe des Jahres auch noch die DVD “Somethin' Grand” folgen, die bei einem bejubelten Auftritt in Los Angeles live mitgeschnitten wurde.
Rebekka Bakken ist zwar Norwegerin, singt aber trotzdem in englischer Sprache – und dies ist bei ihr keinesfalls ein Manierismus. Acht Jahre lang lebte die Sängerin und Songschreiberin in New York und durchlief dort die beste und härteste aller Jazzschulen. Dann ging sie nach Europa zurück, wo sie mit arrivierten europäischen Jazzmusikern wie Eivind Aarset, Nils Petter Molvær, Dieter Ilg, Jojo Mayer, Reidar Skår, Peter Scherer, Bendik Hofseth, Lars Danielsson und Kjetil Bjerkestrand ihre ersten drei Soloalben aufnahm. Für die Aufnahme ihres vierten Albums “Morning Hours” flog sie nun wieder über den Atlantik, um es in den USA mit amerikanischer Verstärkung (u.a. Produzent Craig Street, Gitarrist Marc Ribot, Keyboarder Glenn Patscha, Bassist David Piltch und “Chocolate Genius” Marc Anthony Thompson) aufzunehmen. Stilistisch mäandert Bakken darauf souveräner denn je zwischen Folk, Pop, Jazz, Blues, Country und Soul hin und her.
Weitere Alben-Highlights lieferten in diesem Jahr auch einige Sängerinnen, die man zwar nicht zum Kreis der genuinen Jazzvokalistinnen zählen kann, die ihre Musik aber immer mal wieder mit Stil- und Ausdrucksmitteln des Jazz anreichern: Der Singer/Songwriter-Legende Rickie Lee Jones gelang mit “Balm In Gilead” wieder mal ein großartiger Wurf, während die junge Vienna Teng mit “Inland Territory” erneut ihre Vielseitigkeit bewies. Die Schwedin Anna Ternheim lieferte mit “Leaving On A Mayday” ihren dritten Geniestreich ab, für den sie in ihrer Heimat zweifach ausgezeichnet wurde: als Künstlerin des Jahres und für das beste Album des Jahres. Als markante Popsängerin von ebenso orginellen wie eingängigen Songs katapultierte sich die Australierin Sia mit ihrem kecken Album “Some People Have REAL Problems” ins internationale Rampenlicht, während die Französin Berry das europäische Publikum mit den mal jazzig, mal poppig, mal afrikanisch oder lateinamerikanisch angehauchten Chansons ihres Debütalbums “Mademoiselle” bezirzte. Um den Titel “Debütantin des Jahres” streitet mit der charmanten Französin die manchmal eher ein wenig zu Schroffheit neigende Schweizerin Sophie Hunger. Mit ihrem Album “Monday’s Ghost” eroberte sie im Handstreich nicht nur Schweizer Musikfans, sondern auch deren Pendants in Frankreich, England, Deutschland und so ziemlich dem ganzen Rest Europas. Zum Lohn dafür wurde sie nun zur MIDEM 2010 nach Cannes eingeladen, um sich dort mit ihrer Band als eines von dreizehn “MIDEM Talents” der internationalen Fachwelt zu präsentieren.
Bei dieser geballten Macht der weiblichen Stimmen könnte man fast überhören, dass es seit ein paar Jahren im Jazz auch immer mehr männliche Stimmen von Format gibt. Der vom Pop-Saulus zum Jazz-Paulus geläuterte Curtis Stigers bewies auf dem neuen Album “Lost In Dreams” wieder einmal sein Gespür für gute Songs der unterschiedlichsten Genres und seine Fähigkeit, diese in einen jazzigen Kontext zu setzen. Mit einer brillanten Mixtur aus Soul-, Pop-, Jazz-, Folk- und Latin-Elementen, die es einem unmöglich macht, ihn in eine Schublade zu stecken, unterstrich der Sänger, Songwriter und Gitarrist Raul Midón auf “Synthesis” seine musikalische Evolution. Kurt Elling zollte John Coltrane und Johnny Hartman sowie ihrem 1963 zusammen aufgenommenen Meisterwerk des balladesken Jazz mit dem Album “Dedicated To You: Kurt Elling Sings The Music Of Coltrane And Hartman” Tribut. Coltranes Part übernahm dabei der Saxophonist Ernie Watts, der so grandios wie hier zuletzt in Charlie Hadens Quartet West klang.
Gefeiert wurde dieses Jahr allerdings auch eine schon verstorbene Gesangslegende: der einzigartige Ray Charles. Das Label Concord Records, das von der Ray Charles Foundation die Rechte an seinen ABC/Paramount- und ABC/Tangerine-Aufnahmen erwarb, brachte von dem genialen King des Soul und Rhythm’n'Blues nicht nur die exzellente Anthologie “Ray Charles – Genius: The Ultimate Ray Charles Collection” mit 21 seiner größten Hits heraus, sondern veröffentlichte auf einen Schlag auch 28 Albenklassiker von Ray Charles im digitalen Format, darunter Klassiker wie “Georgia On My Mind” (1960), “Hit The Road Jack” (1961), “I Can’t Stop Loving You” (1962), “Busted” (1963) und “Crying Time” (1966). Seitdem riss der Strom der Ray-Charles-Wiederveröffentlichungen auf CD oder im digitalen Format nicht ab.