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Tänze für den Geist
Herr Buchbinder, dieses Album beginnt mit einer Soirée de Vienne nach Johann Strauß und endet mit einer Soirée de Vienne nach Franz Schubert. Was fasziniert Sie so an diesem Thema?
Allein diese beiden Stücke beschreiben die ganze Bandbreite der Idee: Die eingängigen Motive und Melodien von Strauß kennt jeder, das ist in Klang gegossenes Lebensgefühl und eine perfekte Balance aus Humor und Ernsthaftigkeit, Augenzwinkern und Bedeutung. Und dann Schubert, der so bedeutungsschwer beginnt, um langsam ins Träumen zu geraten, ins Sinnieren. Zwei Stücke, die für mich den Geist einer guten Abendgesellschaft, einer Soiree, ausmachen: Inspirierend, gut gelaunt, prickelnd, aber stets tiefergehend.
Es geht also um eine musikalische Idee?
Jeder Mensch hat Träume, die unmöglich sind. Und einer dieser Träume gab Anlass zu diesem Album: Ich würde so gern einmal eine Soiree in Wien besuchen, bei der alle Komponisten dieser Aufnahme anwesend wären – Strauß, Schubert, Chopin, Schumann, Liszt und Beethoven.
Wie würden Sie sich einen solchen Abend vorstellen?
Ich würde auf jeden Fall sehr spät nach Hause kommen! Im Ernst: Solche Soireen waren im Wien des 19. Jahrhunderts ja gang und gäbe. Beethoven liebte diese Abende, die meist in bürgerlichen oder adeligen Häusern stattfanden, bei denen es um eine geistvolle Einordnung der Gegenwart ging und Komponisten im Wettstreit am Klavier gegeneinander antraten. Das geschah zum Amüsement des Publikums, aber auch aus Freude an der Sache. Es war bei diesen Soireen ja kein wirkliches Gegeneinander der Komponisten, sondern ein sportiver Wettkampf um zündende Ideen, um Momente der Brillanz und den Spaß an der Spontanität.
Eigenschaften, die auch Ihr Spiel prägen, gerade die Spontanität in der perfekt geprobten Interpretation…
Musik ist ja keine statische Angelegenheit, sie passt sich der Umgebung an, der Stimmung, einer Gesellschaft, ihrer Zeit. Natürlich ist das Musikmachen auf der einen Seite ein mühsam erlerntes Handwerk, das großes Wissen voraussetzt. Aber die Freiheit im Moment, der Luxus intelligenter Naivität und die Neugier auf den Augenblick – all das macht die Musik erst lebendig. Ganz besonders gilt das natürlich für das Musizieren in Wien. Bei einer Wiener Soiree gab es keine Programmzettel, die Stücke wurden auf Zuruf aus dem Publikum gespielt, und es erklang, was den Leuten im Moment passend er – schien. Dieser Geist der Spontanität war mir bei der Zusammenstellung des Repertoires für diese Aufnahme besonders wichtig.
Spontanität prägt auch die Interpretation der einzelnen Werke. Man spricht ja gern von der Einmaligkeit des Wiener Walzers in Wien, von der vorgezogenen Zwei und der verschleppten Drei.
Ja, darüber spricht jeder, und man könnte diesen »Wiener Stil« natürlich auch mit vielen klugen Worten analysieren, aber in Wahrheit ist er unglaublich schwer zu spielen und zu imitieren. Ich glaube, es hilft, wenn man dieses Lebensgefühl bereits mit der Muttermilch aufgesogen hat, diese Mischung aus Frechheit und Schönheit, aus Straße und Gold-Stukkatur, aus Perfektion und wohldosierter Schlampigkeit. Und noch etwas kommt hinzu: die Natürlichkeit, mit der die Wiener mit dem Tod leben. Das ist ja fast schon eine Seelenverwandtschaft mit Freund Hein. Wie hat es mein lieber Freund, der Maler und Sänger Arik Brauer, einmal gesungen: »Erst wenn ich tot bin, habe ich am Leben meine Freud.« In Wien gehören der ausgelassene Tanz und der Tod zusammen. Jeder gute Walzer (und jede Polka) tragen immer auch eine gewisse Melancholie in sich, jeder Tanz ist immer auch ein wenig Totentanz. In Wien sagen wir: »So lange getanzt wird, stirbt der Mensch nicht.« Und so ist jeder Walzer immer auch eine Ode an das Leben im Angesicht des Todes.
Gilt das auch für die Strauß-Walzer, die Sie auf diesem Album aufgenommen haben?
Absolut. Für einen Wiener Pianisten wie mich ist es ja ein Trauerspiel, dass Strauß nur für Orchester geschrieben hat. Ich bin angewiesen auf gute Arrangements, und übrigens sind Klavier-Paraphrasen und -Arrangements typische Disziplinen für Soireen und Salons. Für Klavier arrangierte Orchesterwerke waren damals die einzige Möglichkeit, große Literatur ins Wohnzimmer zu holen. Die Paraphrase war quasi eine Art Vorläufer der Schallplatte: große Musik für kleine Räume. Umso wichtiger waren die Arrangeure. Wenn Alfred Grünfeld den Frühlingsstimmen-Walzer in Szene setzt oder der großartige Otto Schulhof die Pizzicato-Polka, dann durchdringen sie mit ihren Bearbeitungen die Idee des Komponisten, diesen Gedanken, dass ein Tanz nicht nur dafür da ist, um Beine und Körper in Bewegung zu setzen, sondern auch dafür, die Gedanken kreisen zu lassen – als Tanz der Erinnerungen, der Melancholie oder der Besinnung.
Für viele ist die Musik von Strauß in erster Linie Ballmusik.
Das ist sie natürlich auch, aber was seine Musik in Wahrheit besonders macht, womit sie jedes Jahr im Neujahrskonzert die Menschen in der ganzen Welt bewegt, ist ihre Doppelbödigkeit. Strauß hat meist in einem dunklen Zimmer komponiert und selbst nie Walzer getanzt. Seine Stücke sind frei von Schlagobers, sie sind ungeheuer seelentief. Am besten tanzt man sie mit dem Gehirn oder mit dem Herzen.
Wenn Sie das so beschreiben, finden wir einen ähnlichen Geist ja auch in den Stücken der anderen Komponisten, oder?
Aber natürlich! Das gilt ja auch für Beethoven. Nehmen Sie den Humor seiner Bagatellen, die ebenfalls mit einer Prise Trauer oder ernsthaftem Sinnieren garniert sind. Für mich ist es ganz klar, dass Beethoven mit dieser Mischung das Publikum der Wiener Soireen begeistert hat. Und auch Schubert und Schumann sind Genies im Spagat zwischen »himmelhoch jauchzend« und »zu Tode betrübt«.
Spannend finde ich ja, dass sich auch Chopin auf diese Aufnahme »verirrt« hat.
Das hat vielleicht etwas mit jener Spontanität und Individualität der Soiree zu tun, von der ich eben gesprochen habe. Chopin ist einer der Komponisten, die mich zu Beginn meiner Karriere besonders begleitet haben. Ich habe seine Musik nie aus den Ohren verloren. Chopin ist für mich eine wesentliche Konstante meines Musizierens, oder wie Robert Schumann in der Allgemeinen musikalischen Zeitung schrieb, als er Chopin in Wien hörte: »Hut ab, ihr Herren, ein Genie!« Er kommentierte aber auch: »Chopin kann nichts schreiben, wo nicht spätestens nach dem siebten, achten Takt ausgerufen werden muss: Das ist Chopin!« Und dann prägte Schumann noch den schönen Satz: »Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen.« Für mich ist auch die Musik von Chopin von dieser fröhlichen und tiefen Melancholie geprägt.
Tatsächlich hat Chopin immer wieder Zeit in Wien verbracht.
Ja, zweimal zwischen 1829 und 1831. Beim ersten Mal ließ er sich am Kohlmarkt nieder und war besonders als Lehrer gefragt. Er verließ Wien allerdings schnell wieder, weil er hier zwar als Pianist, kaum aber als Komponist ernst genommen wurde – das sollte in Paris anders sein. Bei seinem zweiten Aufenthalt war er niedergeschlagen und begab sich in Behandlung bei Johann Malfatti, dem Arzt, der schon Beethoven behandelt hatte.
Herr Buchbinder, kommen wir nochmal zurück zu Ihrer Traum-Soiree. Die Pianisten mussten ihr Publikum an diesen Abenden stets unterhalten. Heute ist Unterhaltung oft negativ besetzt.
Das sehe ich anders. Es gibt verschiedene Formen der Unterhaltung. In dieser Aufnahme habe ich versucht, jenen Geist der Soiree einzufangen, der zwar unterhaltsam ist, aber nie plump, der nie einfältig oder eindimensional daherkommt. Große Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass sie natürlich unterhält (und somit die Menschen erreicht) und uns gleichzeitig auch zum Nachdenken und Nachsinnen anregt. In dieser Hinsicht verstehe ich mich ebenfalls als »Unterhalter«, als jemand, der eine »Unterhaltung« pflegt, der redet, zuhört, paraphrasiert und sich austauscht. Ich glaube, dass es gerade in unserer Zeit besonders wichtig ist, die Gesprächskultur der Soiree neu zu beleben. Die Welt ordnet sich gerade neu, so vieles, das sicher schien, befindet sich im Umbruch. Musik kann da eine gute Orientierung geben, ist Beweis von Tradition und fordert eine stets neue Begegnung mit überzeitlichen Fragen. Für mich ist sie idealerweise eine musikalische Unterhaltung über den Menschen und die Welt – mit anderen Worten: der Sinn einer guten Soiree.
Das Gespräch führte Axel Brüggemann
Dances for the Spirit
Herr Buchbinder, this album opens with a Soirée de Vienne after Johann Strauss and ends with a Soirée de Vienne after Franz Schubert. What do you find so fascinating about this topic?
These two pieces alone describe the idea in its full breadth: everybody knows Strauss’s catchy motifs and melodies; they’re an attitude towards life captured in sound, a perfect balance between humour and seriousness, significance and a wink of the eye. Then comes Schubert, who begins so portentously and gradually winds up in dreams and reveries. These two pieces, I feel, embody the spirit of a good evening get-together or soirée: inspiring, good-humoured, effervescent, but always probing the depths.
So your album deals with a musical idea?
We all have impossible dreams. And one such dream gave rise to this album: I’d so much like to attend a Viennese soirée where all the composers on this recording are assembled: Strauss, Schubert, Chopin, Schumann, Liszt and Beethoven.
How do you picture such a soirée?
I’d return home very late for sure! But seriously, soirées like this were standard fare in 19th-century Vienna. Beethoven loved them; they usually took place at the homes of the bourgeoisie or nobility, and their object was to gather together brilliant people of the day. Composers competed with each other at the piano. It was all done for the amusement of the listeners, but also for sheer pleasure. These soirées weren’t genuine clashes between composers, but a playful contest aimed at stimulating ideas, flashes of brilliance and the delights of spontaneity.
Qualities also present in your playing, particularly spontaneity during a perfectly rehearsed performance.
Music is not a static affair; it adapts to its surroundings, to the mood of a society and its era. Of course musical performance is an arduously mastered craft that presupposes a great deal of knowledge. But the freedom of the moment, the luxury of intelligent naivety and a curiosity for the instant – it’s all of these that bring music to life. This applies quite particularly, of course, to music-making in Vienna. There were no programme leaflets at a Viennese soirée; pieces were played at the request of the listeners, and the music was whatever people found fitting at that moment. This same spirit of spontaneity was especially important to me when I chose the repertoire for my recording.
Spontaneity also governs your performance of the pieces themselves. Much has been said about the inimitability of the Viennese waltz in Vienna, of the precipitate second beat and the drawn-out third.
Indeed, everyone talks about it. You could, of course, analyse this “Viennese style” with lots of clever words, but in fact it’s incredibly hard to play and to imitate. I think it helps if you’ve already imbibed this attitude towards life at your mother’s breast, this blend of insolence and beauty, of street life and gilt stucco, of perfection and carefully calibrated sloppiness. Then there’s another factor: the naturalness with which the Viennese live with death. There’s almost a communion of souls between them and the Grim Reaper. As my dear friend, the painter-singer Arik Brauer, once sang, “Only when I’m dead will I take pleasure in life.” In Vienna, uninhibited dancing and death belong together; every good waltz (and every polka) has a certain melancholy at its core, and every dance is always a bit of a danse macabre. As we say in Vienna, “As long as people are dancing, they won’t die.” So every waltz is also an ode to life in the face of death.
Does this also apply to the Strauss waltzes that you’ve recorded on this album?
Absolutely. For a Viennese pianist like myself, it’s a tragedy that Strauss wrote only for orchestra. I’m at the mercy of good arrangements. By the way, piano paraphrases and arrangements are disciplines typical of soirées and salons. Back then, piano reductions of orchestral works were the only way to fetch great music into the living room. Paraphrases were a sort of forerunner of the gramophone disc: great music for small confines. All the more importance attached to arrangers: when Alfred Grünfeld presents the Voices of Spring Waltz, or the magnificent Otto Schulhof the Pizzicato Polka, their arrangements penetrate the composer’s underlying idea – the thought that a dance does not exist simply to move legs and bodies, but also to set thoughts in motion as a dance of memories, melancholy or contemplation.
For many listeners Strauss’s music is primarily meant for the ballroom.
It’s that too, of course, but what in fact makes his music special, and moves the whole of humanity every year at Vienna’s New Year’s Concert, is its ambiguity. Strauss usually composed in a darkened room, and he never danced waltzes himself. His pieces are devoid of “whipped cream”; they probe the depths of the soul. The best way to dance them is with the brain or the heart.
Described that way, don’t we find a similar spirit in the other composers’ pieces?
Of course we do! It applies equally to Beethoven. Take the humour of his bagatelles, which are likewise spiced with a pinch of sadness or earnest contemplation. To me it’s perfectly clear that Beethoven thrilled audiences at Vienna’s soirées with this mixture. Schubert and Schumann, too, are geniuses in the tightrope walk between “on top of the world” and “in the depths of despair”.
I also find it exciting that Chopin, too, “stumbled” onto your recording.
Perhaps that has something to do with the spontaneity and individuality I just spoke about in the soirée. Chopin is one of the composers who stood at my side at the beginning of my career. His music has never left my ears. Chopin has been a keystone of my music-making, or, as Robert Schumann wrote in the Allgemeine musikalische Zeitung, “Hats off, gentlemen, a genius!” But he also said, “Whatever Chopin writes, after seven or eight bars at the most one is compelled to cry out: That’s Chopin!” And he also coined the wonderful phrase “Chopin’s works are canons immersed in flowers”. To me, Chopin’s music, too, is marked by this gay and profound melancholy.
In fact, Chopin paid several visits to Vienna. Yes, he did, twice between 1829 and 1831. The first time he even took lodgings on the Kohlmarkt and was in demand as a teacher. But he left Vienna a short while later because the Viennese took him seriously as a pianist, but hardly as a composer. That changed in Paris. On his second visit he was downhearted and sought treatment from Johann Malfatti, the same physician who had treated Beethoven.
Herr Buchbinder, let’s return to your dream soirée. Pianists always have to entertain their listeners on such occasions. Today there’s a negative ring to the word “entertainment”.
Not to me. Entertainment can take various forms. On this recording I’ve tried to capture the spirit of the soirée, which is entertaining but never crude, one-dimensional or simplistic. What distinguishes great art is that it entertains, of course (and thus reaches people), but also goads us to think and ponder. In this light, I too see myself as an “entertainer”, as someone who “entertains discussions”, who talks, listens, paraphrases and exchanges ideas. I believe it’s important, precisely in our age, to revive the culture of conversation embodied in the soirée. The world is entering a new order, and many things that once seemed certain are in a state of flux. Music can provide a solid orientation; it offers proof of tradition and invariably demands new encounters with timeless questions. To me, music is ideally a conversation about human beings and the world. That, in short, is the point of a good soirée.
This interview was conducted by Axel Brüggemann.