Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertiget
Gedanken zum Spiel der Goldberg-Variationen
von Víkingur Ólafsson
Die Goldberg-Variationen sind neben Bachs vollendeter intellektueller Beherrschung seines Handwerks insbesondere durch seinen inspirierten künstlerischen Humor gekennzeichnet. In 30 Variationen über das schlichte harmonische Gerüst einer einfachen, gefälligen Aria gewinnt Bach wie niemand vor oder nach ihm aus begrenztem Material eine unendliche Vielfalt. Die Goldberg-Variationen bieten ungewöhnlich pianistisch-virtuose Musik, Beispiele genialer Verwendung des Kontrapunkts und zahllose Momente erhabener Poesie, abstrakter Kontemplation und tiefer Emotion – das Ganze in der makellos gestalteten Architektur formaler Perfektion. In einem Paradox, das wohl nur mit Blick auf Bachs spezifisches, barockes Genie zu erklären ist, bieten ihm gerade die strengen formalen Anforderungen, die er an sich selbst stellt, größte schöpferische Freiheit – und offensichtlich genießt er sie. Wenn wir über die Goldberg-Variationen schreiben oder sprechen, präsentieren wir Bach gern vor allem als tiefen Denker, gewissenhaften Handwerker und visionären musikalischen Baumeister. Aber wenn wir die Goldberg-Variationen spielen oder hören, merken wir unwillkürlich, das wir es hier auch mit dem übermütigen, zuweilen ekstatischen Meister der Improvisation zu tun haben, dem größten Klaviervirtuosen seiner Zeit.
Die Goldberg-Variationen waren der vierte und letzte Teil der Clavier-Übung, die Bach von 1731 bis 1741 veröffentlichte. Sie enthielt auch die sechs Partiten, das Italienische Konzert und die Ouvertüre h-Moll für Cembalo sowie eine eindrucksvolle Sammlung von Orgelwerken (gern als »Orgelmesse« bezeichnet). In diesem Kontext lassen sich die Goldberg-Variationen und ihre archetypische Form als logischer Höhepunkt einer zehnjährigen Erforschung der Möglichkeiten des Tasteninstruments betrachten. Von einer spontaneren Entstehung des Werks berichtet die berühmte, aber stark angezweifelte Anekdote, die Forkel in seiner Biografie des Komponisten 1802 wiedergibt. Danach gehe das Werk auf einen Auftrag des russischen Gesandten Graf Keyserlingk zurück, der zur Aufheiterung seiner schlaflosen Nächte eine Musik »sanften und etwas muntern Charakters « wünschte. Wie eine Sage oder ein Märchen enthält diese Geschichte einen wahren Kern, der allerdings nicht historischer Art ist. Denn welche Musik könnte wohl besser geeignet sein, die verzweifelte Einsamkeit eines Schlaflosen (und im weiteren Sinn der menschlichen Existenz selbst) zu bekämpfen, als die Goldberg-Variationen mit ihrem ständigen Wechsel von beruhigender Regelhaftigkeit und erregender Neuheit? Eine weitere kuriose Wendung in dieser Geschichte (und einer der Gründe, warum wir ihren Wahrheitsgehalt bezweifeln) ist die Tatsache, dass nicht der Name des Grafen Keyserlingk mit diesem Werk verbunden ist, sondern der seines Cembalisten, des Bach-Schülers Johann Gottlieb Goldberg, der ebenfalls nicht schlafen konnte, weil er die Nächte im Nebenzimmer damit verbrachte, seinem Dienstherrn die Variationen vorzuspielen. Man kommt nicht umhin, eine gewisse Verwandtschaft mit dem jungen Goldberg zu spüren und dankbar zu sein für diese quasi vorausschauende Ermunterung all jener Musiker, die sich das Stück seither zu eigen gemacht haben (ob es sie um den Schlaf gebracht hat oder nicht). Denn sich das Werk zu eigen zu machen, ist dessen dauerhafte und spezifische Herausforderung. Bei einem Werk »nicht eines Zeitalters, sondern für alle Zeiten«, wie Ben Jonson über Shakespeares OEuvre schrieb, müssen wir Interpreten irgendwie das Gefühl haben, an seiner Schöpfung Anteil gehabt und es gewissermaßen für unsere Zeitgenossen neu erfunden zu haben.
Ich habe 25 Jahre lang davon geträumt, dieses Werk aufzunehmen. Wie bei einigen anderen großformatigen Werken von Bach neigte ich dazu, es als eine majestätische, gebieterische Kathedrale der Musik zu sehen, imposant in ihrer Architektur und detailreich in ihrer Ausgestaltung. Heute finde ich ein anderes Bild passender, soweit Vergleiche überhaupt möglich sind: das Bild einer mächtigen Eiche, nicht weniger imposant, aber organisch, lebendig und dynamisch, mit flexiblen, erneuerbaren Formen, mit Blättern, die sich ständig entfalten, um durch eine metaphysische, die Zeit manipulierende Photosynthese musikalischen Sauerstoff für ihre Bewunderer zu produzieren. Weitaus pragmatischer beschrieb Bach selbst auf der Titelseite der Originalausgabe von 1741 seine Variationen als ein Werk, das er »Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertiget« habe.
Die Goldberg-Variationen für ein Livepublikum zu spielen, ist immer eine große Freude, aber eine Aufnahme des Werks zu machen, erzeugt eine andere Art von Druck. Eine Zeit lang dachte ich, ich müsste seine formale Perfektion mit mathematischer Präzision erfassen. Auf der Suche nach den idealen Proportionen bestimmte ich mithilfe des Metronoms das Tempo für jede Variation und legte möglichst viele Elemente der Interpretation im Voraus fest, von den zahllosen dynamischen Wechseln und Abstufungen innerhalb des polyphonen Satzes bis zur Artikulation fast jeder Phrase. In der Praxis erreichte ich damit jedoch nichts. Denn ungeachtet ihrer formalen Konsistenz sind die Goldberg- Variationen kein berechenbares musikalisches Werk. Für keines der zahllosen Interpretationsprobleme von Bachs Notation, die bekanntlich nur wenige Vortragsbezeichnungen enthält, gibt es eine »automatische« Lösung, so gut sie auch durch die Forschung begründet sein mag. Stattdessen verlangt das Werk eine Art interpretativer Improvisation. Wie die Gesetze der Physik, die das Universum regieren, bleiben die logischen Grundlagen des Werks meist im Hintergrund. Sein System von Dreiergruppen, in denen auf ein Charakterstück jeweils ein virtuoser, wie eine Toccata gebauter Satz und schließlich, in steigenden Intervallen, ein Kanon folgt, ist selbst schon beeindruckend und wirkungsvoll. Aber zumindest für mich liegt das Geniale der Goldberg-Variationen nicht im Allgemeinen, sondern im Besonderen. Während sich jede einzelne Variation entfaltet, muss man völlig gepackt sein von ihrer spezifischen Dramatik und Emotion, hineingezogen in ihren kleinen, wundervollen Mikrokosmos und erfüllt von der Freude, ihn zu entdecken.
Das Element reizvoller Überraschung, das das gesamte Werk durchzieht, erreicht einen gewissen Höhepunkt in der letzten Variation, die nicht der Kanon in der Dezime ist, der nach dem vorangehenden Muster eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Bach präsentiert uns stattdessen ein Quodlibet bzw. Potpourri, mit dem er uns zu einem musikalischen Spaß einlädt, wie er angeblich bei Bach’schen Familienfeiern üblich war. Dabei wurden mehrere volkstümliche – geistliche oder weltliche – Lieder in gemeinsamer Improvisation zu einem makellosen kontrapunktischen Satz kombiniert. Die Texte der beiden im Quodlibet der Goldberg-Variationen verwendeten Gassenhauer wurden als scherzhafte Hinweise auf das Kommende gedeutet. Der erste ist nach allgemeiner Auffassung ein Lied, dessen rätselhafter, aber recht anzüglicher Text mit den Worten »Ich bin so lang nicht bei dir g’west« beginnt – man hat allerdings auch auf die Ähnlichkeit mit einer Melodie ganz anderen Ursprungs hingewiesen: dem Anfang des bekannten Chorals Was Gott tut, das ist wohlgetan. Das zweite Lied ist zweifellos eine deutsche Variante der italienischen Bergamasca-Melodie auf den Text »Kraut und Rüben haben mich vertrieben«. »Kraut und Rüben« als umgangssprachlicher Ausdruck für ein heilloses Durcheinander ist hier möglicherweise eine respektlose Anspielung auf die Variationen, die uns lange von der ursprünglichen Aria ferngehalten hätten. Die warme, humorvolle Unbeschwertheit des Quodlibets kommt wie gerufen nach all den vorangehenden kontrapunktischen Abstraktionen und Gedankenspielen – ganz zu schweigen von der geradezu fingerbrecherischen Virtuosität, die sich bis zur dramatischen vorletzten Variation steigerte. Aber dieses Quodlibet ist mehr als nur ein musikalischer Scherz. Es ist eine Manifestation von Bachs unvergleichlichem, umfassenden musikalischen und spirituellen Ausdruck, zutiefst menschlich, aber auch göttlich. Es ist eine Musik, die am Ende einer langen musikalischen Reise Erhebung, Erlösung und jubelnden Triumph bringt. Es ist die Ode An die Freude der Goldberg-Variationen – »alle Menschen werden Brüder« klingt hier an.
Wenn die volltönenden Stimmen des Quodlibets verstummen, ist die Wiederkehr der Aria eine letzte Überraschung, unausweichlich nur in der Rückschau. Wie bei der Begegnung mit einem lieben alten Freund nach langer Trennung hat man das Gefühl, sie sei nie wirklich fort gewesen. Und zumindest in harmonischer Hinsicht war sie das natürlich auch nie. Keine einzige Note wurde anders, aber die Aria hat sich verändert – oder, genauer gesagt, wir haben uns verändert. Ich frage mich oft, ob das Werk sehr viel anders geworden wäre, wenn Bach uns nicht die Möglichkeit gegeben hätte, die Aria noch einmal in ihrer reinen, ursprünglichen Gestalt zu bewundern, diesen zärtlichen Abschied auszukosten, der zugleich wie ein neuer Anfang erscheint. Oder was unser Erlebnis denn wirklich ist – ein Wiedersehen oder eine Erinnerung? Ohne diese zyklische Wiederbegegnung würden wir in dem Werk nicht eine derart eindringliche Metapher für die menschliche Existenz sehen, für die Art und Weise, wie wir das Leben und das Verstreichen der Zeit erfahren. Wir würden nicht wie der antike Philosoph Heraklit die Frage stellen, ob man wirklich zweimal in denselben Fluss steigen könne – denselben Fluss, denselben Bach.
For Music-Lovers, to Refresh Their Spirits
Thoughts on playing the Goldberg Variations
by Víkingur Ólafsson
In the Goldberg Variations, the one thing that rivals Bach’s complete intellectual mastery of his craft is his inspired, creative playfulness. In thirty variations, built on the humble harmonic framework of a simple, graceful aria, Bach turns limited material into boundless variety like no one before or since. The Goldberg Variations contain some of the most virtuosic keyboard music ever written, some of the most astonishingly brilliant uses of counterpoint in the repertoire and countless instances of exalted poetry, abstract contemplation and deep pathos – all within immaculately shaped structures of formal perfection. In a paradox that only seems to make sense in the light of Bach’s particular, baroque genius, the relentlessly strict formal premise he sets himself turns out to afford him sublime creative freedom – and he clearly revels in it. When we write and talk about the Goldberg Variations, we tend to focus on Bach the profound thinker, assiduous craftsman and visionary musical architect. But when we play and listen to the Goldberg Variations, we cannot but notice that we are also in the company of Bach the cheerful, at times ecstatic, master improviser; Bach the greatest keyboard virtuoso of his time.
The Goldberg Variations were the fourth and final instalment of the Clavier-Übung, which Bach published from 1731 to 1741, containing the six Partitas, Italian Concerto and French Overture for harpsichord, as well as the formidable collection of organ works often referred to as the “German Organ Mass”. As such, the Goldberg Variations and their archetypal form could be seen as the logical culmination of ten years’ worth of exploration of the possibilities of the keyboard. There is a more spontaneous quality to the famous but factually contested origin story of the work as recounted by Forkel in his 1802 biography of Bach, namely that it was composed on a commission from the Russian diplomat-nobleman Count Keyserlingk, who wanted music of a “somewhat lively character” to while away his sleepless nights. This story contains a truth of the mythological kind, if not the historical. For what music could possibly be better suited to warding off the solitary despair of insomnia (or, by extension, that of human existence itself) than the Goldberg Variations, with their constant interplay of reassuring regularity and exhilarating novelty? Another delightful quirk in this story (and indeed one of the reasons we have to doubt its veracity) is that it is not the name of Count Keyserlingk that has stuck to the piece, but that of his resident harpsichordist, Johann Gottlieb Goldberg, whose equally sleepless nights were spent playing the variations for his master from an adjoining room. It is hard not to feel a certain kinship with young Goldberg, a pupil of Bach himself, and indeed to feel thankful for what feels like a prescient little nod to all the musicians that have since made the piece their own (whether or not they, too, have lost sleep over it). Because making the work our own is the enduring and unique challenge of the Goldberg Variations. As a work “not of an age, but for all time,” to borrow Ben Jonson’s words on Shakespeare, we performers must somehow feel like we have taken part in its creation, that we have reinvented it in some way for our contemporaries.
I have dreamt of recording this work for twenty-five years. As with some of Bach’s other works on this scale, I was inclined to think of it as a grand, commanding cathedral of music, magnificent in its structure and intricate in its ornamentation. Now I find another metaphor more apt, as far as metaphors go: that of a grand oak tree, no less magnificent, but somehow organic, living and vibrant, its forms both responsive and regenerative, its leaves constantly unfurling to produce musical oxygen for its admirers through some metaphysical, time-bending photosynthesis. Or, in the rather more down-to-earth terms that Bach himself used to describe his variations on the title page of the original 1741 edition, they truly are a work “composed for music-lovers, to refresh their spirits”.
Playing the Goldberg Variations for a live audience is always a great joy, but making a recording of the work presents a different kind of pressure. For a while, I thought I had to meet its formal perfection through mathematical means, measuring out tempo markings on the metronome for every variation in search of the ideal proportions and predetermining as many elements of the interpretation as possible, from the infinite dynamic shifts and inflections within the polyphony to the articulation of more or less every phrase. In practice, however, this all fell completely flat. Because, for all their formal consistency, the Goldberg Variations are not a predictable work of music. None of the endless questions of interpretation posed in Bach’s famously instruction-free notation can be resolved on some kind of autopilot, no matter how well founded in research. Instead, the work beckons a kind of interpretative improvisation. Like the laws of physics that govern the universe, the work’s logical substructures act mostly in the background. Its system of successive groups of three variations, where a character piece is followed by a virtuosic, toccata-like movement and finally by a canon on ever-increasing intervals, is impressive and effective in its own right. But, at least to me, the Goldberg Variations’ genius lies not in the general, but the specific. As each variation unfolds, one must be wholly gripped by its individual drama and affect, drawn into its own marvellous little microcosm and filled with the joy of discovering it.
The element of delightful surprise that runs through the entire work reaches a certain culmination in the final variation, which turns out not to be the canon on the tenth that would have been expected from the preceding pattern. Instead, Bach presents us with his Quodlibet, or medley, thus inviting us to join the sort of musical merrymaking fabled to have been a favourite at Bach family gatherings. This is where popular melodies of the day – sacred or profane – were borrowed and superimposed on each other in flawless counterpoint through collective improvisation. The lyrics of the two folk melodies borrowed in this Quodlibet have been suggested to be jocular clues as to what comes next. The first one has commonly been identified as a folk song whose obscure but quite suggestive lyrics start with the words “Ich bin so lang nicht bei dir g’west” (It’s been so long since I was with you) – though a similarity has also been noted with a melody of an entirely different ilk, the opening line of the well-known chorale Was Gott tut, das ist wohlgetan (Whatever God does is done well). The second melody is certainly a German variant of the Italian Bergamasca tune, sung to the text “Kraut und Rüben haben mir vertrieben” (Cabbage and turnips have driven me away). “Kraut und Rüben” is an old slang term for mishmash or hodgepodge – potentially an irreverent reference to the variations that have kept us away from the original Aria for so long. The warm, humorous conviviality of it all is most welcome after all the preceding contrapuntal abstractions and deliberations – not to mention the finger-breaking virtuosity that has built up towards the cataclysmic penultimate variation. But this Quodlibet is no mere musical joke. It is an instance of Bach’s unique totality of musical and spiritual expression, profoundly human but also divine. This is music that brings exaltation, salvation and triumphant jubilation at the end of a long, musical journey. This is the Goldberg Variations’ Ode to Joy – this is where “alle Menschen werden Brüder” (all men shall be brothers).
As the resonant voices of the Quodlibet fade away into silence, the return of the Aria is a final surprise, inevitable only in retrospect. Like meeting an old and dear friend after a long separation, it somehow feels like it never left at all. And of course, at least harmonically, it never did. Not a note has been altered, but it has changed – or, more accurately, we have. I often wonder how very different this work would have been had Bach not given us this unusual chance to marvel at the Aria in its pure, original form once more, to savour this tender farewell that also feels like a new beginning. Or what is it really we are experiencing – a reunion or a reminiscence? Without this cyclic re-encounter, we would not find this work such an intuitive metaphor for the human condition, for how we experience life and the passage of time. We would not be left wondering, like the ancient philosopher Heraclitus, whether you can ever really step into the same river twice – the same stream, the same Bach.