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Fantasie und Poesie
Für Hélène Grimaud ist Robert Schumann »der Literat unter den Komponisten«. Seine Begeisterung für das geschriebene Wort zeigt sich nicht nur in seinen zahlreichen Liedern, Chor- und Opernkompositionen nach Texten von Goethe, Byron und anderen und dem eigenen Schaffen als Musikpublizist, sondern auch in seiner Klaviermusik, die auf subtile Weise von literarischen Ideen durchzogen ist. Das beste und zugleich rätselhafteste Beispiel hierfür sind die acht Fantasien der Kreisleriana, deren Titel auf die fiktive Gestalt des leicht reizbaren Kapellmeisters Kreisler anspielt, den E. T. A. Hoffmann 1814 in den Erzählungen seiner eigenen Kreisleriana eingeführt und sechs Jahre später in der satirischen Fantasie Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern weiter ausgearbeitet hatte.
Schumann komponierte die Kreisleriana nach eigener Aussage in nur vier Tagen im Frühjahr 1838, direkt nach den »leichten Stücken« seiner Kinderszenen. Mitte April schrieb er an seine geliebte Clara Wieck: »Denke, seit meinem letzten Brief habe ich wieder ein ganzes Heft neuer Dinge fertig. Kreisleriana will ich es nennen […]. Meine Musik kommt mir jetzt selbst so wunderbar verschlungen vor bei aller Einfachheit.« Die Arbeit setzte sich bis in den Mai fort, und als Schumann die Partitur im Juli an seinen Verlag schickte, ging auch eine Kopie an Clara, der er wortreich die Widmung des Werks versprach (um es am Ende doch seinem Kollegen Chopin zu dedizieren).
Kreisler, so heißt es bei Hoffmann, »gefiel sich oft darin, stundenlang auf dem Flügel die seltsamsten Themas in zierlichen kontrapunktischen Wendungen und Nachahmungen, in den kunstreichsten Passagen auszuarbeiten«. Diese Beschreibung passt zu einem Eintrag in Schumanns Tagebuch kurz vor der Komposition der Kreisleriana: »Bachs temperirtes Clavier u. Choralbuch wurden wieder durchstudirt […] Fugen u. canonischer Geist in all meinem Phantasiren.« Und bei unserer ersten Begegnung mit Kreisler, in Hoffmanns Kapitel über dessen »musikalische Leiden«, teilen wir seine bitteren Gedanken, wenn er vor einem sich nach und nach leerenden Saal Bachs Goldberg-Variationen spielt. Allerdings schrieb Schumann hier keine Programmmusik im engeren Sinne: Auch wenn er Clara versicherte, dass in diesen Stücken »Du und ein Gedanke von Dir die Hauptrolle« spiele, so trägt doch keine der Fantasien einen beschreibenden Titel. Trotzdem hat man das Gefühl, in dieser »wunderbar verschlungenen« Musik die Stimme von Hoffmanns Figur zu hören, und für Grimaud handelt es sich bei dem kontinuierlichen Schwanken zwischen Schlichtheit und Komplexität, Wohlklang und Dissonanzen um ein »Erzählen aus der Ich-Perspektive«.
Kreisleriana beginnt mit einem schnellen und rasanten Eröffnungsstück, dessen Synkopen von Anfang an das Gefühl für ein eindeutiges Metrum verschleiern, und solche Akzentverschiebungen finden sich auch immer wieder in den lebhaften Intermezzi, die sich zwischen die ruhigen, harmonischen Abschnitte des zweiten Stücks schieben. Auch im letzten Stück sind Rhythmus und Stimmung der Bassoktaven scheinbar völlig unabhängig vom Thema der Oberstimme, das mit seinem »Schnell und spielend« sehr an Mendelssohn erinnert. Grimaud unterstreicht, dass Schumann seine Tempoangaben »immer mit einem ›sehr‹ versieht; alles wird auf die Spitze getrieben und es gibt extreme Stimmungsschwankungen auf engstem Raum«. Und genau wie Hoffmanns kunstvolle Prosa mit ihren erfundenen Dokumenten, Querverweisen und ästhetischen Reflexionen weit über bloße Satire hinausgeht, so lässt sich auch Schumanns musikalische Antwort darauf nur schwer beschreiben. Für Grimaud ist das Ergebnis »eines der erhabensten, transzendentesten Stücke in der Klaviermusik der Romantik«.
Angesichts seiner engen Beziehung zu Robert und Clara Schumann verwundert es nicht, dass auch der junge Brahms mit Kreisler in Verbindung gebracht wurde: Der mit Brahms gut befreundete Komponist Julius Otto Grimm verschmolz in einem Brief an den Geiger Joseph Joachim den fiktiven Musiker mit dem realen, und Brahms selbst spielte nach Schumanns Vorbild mit der Idee eines musikalischen Alter Ego, als er 1854 einige seiner Variationen op. 9 mit der Autorenangabe »Johannes Kreisler jr.« versah. Doch zehn Jahre später zeigten Brahms’ Lieder und Gesänge op. 32, wo seine eigenen literarischen Vorlieben lagen, zumindest im Bereich der Liedkomposition: Die Sammlung enthält seine ersten Vertonungen von Gedichten des Orientalisten Georg Friedrich Daumer, dessen Arbeiten er immer wieder in seiner Vokalmusik aufgreifen sollte, nicht zuletzt in den Liebeslieder-Quartetten. In Opus 32 kombiniert Brahms Daumers Texte geschickt mit denen eines anderen Orientalisten, August von Platen, der Anfang der 1820er Jahre zwei Bände mit Gedichten in Form der arabischen Ghasele veröffentlicht hatte (aus dem ersten Band stammt der Text von op. 32/4) sowie den Spiegel des Hafis, eine Hommage an diesen persischen Dichter des 14. Jahrhunderts. Auch Daumer veröffentlichte 1846 eigene Nachdichtungen von Hafis-Texten unter dem Titel Hafis, eine Sammlung persischer Gedichte, auf die Brahms für die beiden letzten Lieder in op. 32 zurückgriff.
Anhand der Werke dieser beiden Dichter erkundet Brahms Themen wie Verlust, Selbstverleugnung, die Sehnsucht nach Freiheit, heimliche Schuldzuweisungen und Enttäuschungen, die alle in der ersten Person ausgedrückt werden. Jedes Lied hat einen ganz eigenen Charakter, nicht zuletzt dank des suggestiven Klaviersatzes, der musikalische Inhalte mit szenischen Darstellungen verbindet – wie zum Beispiel im ersten Lied mit seiner unaufhörlichen, sich vorwärts schleppenden Bewegung oder im vierten Lied mit dem rauschenden Strom, der zu einem schmalen Rinnsal wird. Den emotionalen Höhepunkt bildet jedoch die grenzenlose, fast blinde Hingabe im herrlichen Adagio des letzten Liedes mit seinem seligen Refrain »wonnevoll«. Unabhängig davon, ob Brahms in diesem Satz eigene Gefühle zum Ausdruck bringen wollte oder nicht, kann dieses letzte Lied für die einzige dauerhafte emotionale Bindung in seinem Leben stehen: die zu Clara Schumann. Brahms war ihr ein unermüdlicher und hingebungsvoller Freund und unterstützte sie in der Zeit von Roberts Krankheit und Tod, und bis zum Ende seines Lebens war er ihr eng verbunden und in gewisser Weise auch von ihr abhängig (er sollte sie um weniger als ein Jahr überleben).
1892 komponierte Brahms in der Sommerfrische in Bad Ischl eine ganze Reihe kurzer Klavierstücke – seine ersten Werke für Soloklavier seit mehr als zehn Jahren. Auf Umwegen erfuhr Clara von den neuen Werken, und auf ihre Bitte schickte Brahms ihr zunächst die sieben Fantasien op. 116 und später auch die drei Intermezzi op. 117. Dem ersten Intermezzo stellte er Zeilen aus einem schottischen Wiegenlied aus Johann Gottfried Herders Stimmen der Völker in Liedern voran (und auch im dritten Intermezzo meinte Clara schottische Anklänge zu erkennen). Dem Vorschlag seines Verlegers, dem Stück den Titel »Wiegenlied« zu geben, widersetzte sich Brahms jedoch mit der selbstironischen Bemerkung, der vollständige Titel müsste dann »Wiegenlied eines trostlosen Junggesellen« lauten.
Kenneth Chalmers
Fantasy and Poetry
“The most literary of composers” is how Hélène Grimaud defines Robert Schumann, and the extent of that literary engagement can be measured not only in his vast output of songs and choral and operatic works derived from Goethe, Byron and others, not to mention his own published writings on music and musicians, but also in the subtle way that inspiration from works of literature is threaded through his piano music. No work represents that element more cryptically than Kreisleriana, the eight fantasies inspired by the tetchy, fictional Kapellmeister Kreisler whom E. T. A. Hoffmann introduced in his own Kreisleriana tales of 1814, following it up some six years later in the elaborate satirical fantasy The Life and Opinions of the Tomcat Murr, together with a fragmentary biography of Kapellmeister Kreisler on random sheets of waste paper.
Schumann composed Kreisleriana very quickly (by his own account, in just four days) during the spring of 1838, immediately after the thirteen “easy pieces” that comprise his Kinderszenen. In mid-April, he wrote to his beloved Clara Wieck: “Imagine, since my last letter I have again an entire volume of new things ready. I shall call it Kreisleriana […] My music seems to me to be wonderfully entwined, for all its simplicity.” Work continued in May, and by July, when Schumann sent the score off for publication, he also forwarded a copy to Clara, effusively undertaking to dedicate it to her (though, in the event, he actually dedicated it to Chopin).
Kreisler, or so Hoffmann tells us, “often amused himself for hours at the piano, working the strangest themes through elaborate contrapuntal development and imitation into the most artistic passages”. It’s a description that chimes with an entry in Schumann’s diary immediately prior to the work’s composition: “Bach’s Well-tempered Clavier and Chorale Book thoroughly studied again […] Fugues and canonic spirit in all my improvising.” And when we first meet Kreisler in person, in Hoffmann’s chapter on his “musical sufferings”, we read his scathing private thoughts as he performs Bach’s Goldberg Variations to a steadily emptying room. Schumann was not, however, explicitly writing programme music here: for all that he told Clara that “you and an idea of you play the main part”, none of the fantasies has a title, descriptive or otherwise. Nevertheless, the impression one gets is that the “wonderfully entwined” music is in the voice of the Hoffmann character. For Grimaud, it is “story-telling in the first person”, as the music oscillates between simplicity and complexity, euphony and dissonance.
Kreisleriana erupts into life with a fast and furious opening piece whose syncopations already obscure a sense of metre, and similar shifted accents appear in the more animated intermezzi that punctuate the placid, consonant sections of the second piece. Similarly, in the final movement the bass octaves seem to be entirely independent in rhythm and mood of the almost Mendelssohnian “fast and playful” upper theme. As Grimaud points out, the tempo indications are “always sehr something or other, so everything takes place in the extremes, and there are immense emotional distances from one moment to the next”. Just as the elaborate nature of Hoffmann’s fiction, with its invented documents, cross-references and aesthetic reflections, makes it much more than mere satire, so the intangible quality of Schumann’s musical response validates Grimaud’s description of it as “one of the most sublime, transcendent pieces of Romantic piano literature”.
Given his close relationship with Robert and Clara Schumann, the young Brahms had, perhaps inevitably, his own “Kreisler” associations: in early life his friend, the composer Julius Otto Grimm, once playfully conflated the fictional musician with the real in a letter to the violinist Joseph Joachim, while Brahms even toyed with the Schumannesque idea of an alter ego (Kreisler Junior) in his Variations op. 9 of 1854. But ten years on from that date, his Lieder and Songs op. 32 give an idea of where his personal literary interests lay, at least for the purposes of song-writing. The collection features Brahms’s first settings of poetry by the orientalist Georg Friedrich Daumer, whose work would later make repeated appearances in his vocal output, not least in the Liebeslieder quartets. In the op. 32 songs, Brahms adroitly pairs Daumer with fellow-orientalist August von Platen, who in the early 1820s had published two volumes of verse in the Arabic ghazal form (the first of which provided Brahms with the text for the fourth song of op. 32) as well as Spiegel des Hafis, referencing the fourteenth- century Persian lyric poet Hafez. Daumer himself later published free translations of Hafez in his Hafis, eine Sammlung persischer Gedichte of 1846, and from these Brahms chose the texts for the two final songs of op. 32.
In his juxtaposition of these two poets’ work, Brahms explores themes of loss, self-denial, a desire for liberation, suppressed recrimination and disillusionment, all expressed in the first person. Each song is vividly characterized, not least in the evocative piano writing that conflates musical content with scene-setting – as, for example, in the first song’s defining image of ineluctable, dragging movement, or the fourth song’s rushing stream dying to a trickle. But the crowning expression is of continuing, slavish devotion, in the beautiful adagio of the final song, with its beatific refrain of “wonnevoll” (“blissful”). Whether or not Brahms was expressing any personal feelings in the set, this final song might evoke the one enduring sentimental attachment in his life, to Clara Schumann. Brahms had been a tireless, devoted friend and support at the time of Robert’s decline and death, and his regard for and dependency on Clara lasted for the rest of his life (he outlived her by less than a year).
In 1892, when summering in the spa town of Bad Ischl, Brahms composed a flurry of short piano works – his first solo piano music for more than a decade. Clara heard about the new works thirdhand, and, on request, Brahms sent her first the seven Fantasias op. 116 and subsequently the three Intermezzi op. 117 too. He prefaced the first of the latter set with lines from a Scottish lullaby found in Johann Gottfried Herder’s folk-song collection Stimmen der Völker in Liedern (Clara thought she heard a Scottish note in the third Intermezzo too). But Brahms bristled at the publisher’s suggestion that the piece be given the explicit title of “Wiegenlied” (Lullaby), commenting, in what might be a self-revealing aside, that the full title would then have to be “lullaby of an inconsolable bachelor”.
Kenneth Chalmers