Der Sog der Gesänge des Don Carlo Gesualdo kommt aus einer fernen Welt, doch zieht die zeitlose Macht der Gefühle in die Gegenwart. Leiden, Schmerz, Trauer, Angst und Hoffnung, Zorn und Zuversicht, vor 400 Jahren in Noten gefasst, werden bewusst als heutig wahr genommen. Der biblisch überlieferte Leidensweg des Menschen Jesus, den seine Anhänger als die Inkarnation Gottes glauben, bietet die Identifikation mit allen verfolgten, gequälten Menschen an.
Durch die Jahrhunderte hindurch hat geistliche Musik dem reflektierend, meditierend Ausdruck gegeben. Gesualdo, bekannt vor allem durch sieben Bücher italienischer Madrigale, hat 1611 die 27 Responsorien der drei letzten nächtlichen Messen in der Karwoche für sechs Stimmen veröffentlicht: Responsoria et Alia ad Officium Hebdomadae Sanctae – je neun lateinische (im Booklet übersetzte) Texte aus dem Alten und Neuen Testament berichten und bedenken das Abendmahl des Gründonnerstags (Feria Quinta – In Coena Domini), die Kreuzigung des Karfreitags oder “Rüsttags” (Feria Sexta – In Parasceve), Trauer und Begräbnis des Karsamstags (Sabbato Sancto). Auf ein Responsorium folgt jeweils ein Versus, dann wird das Responsorium ganz oder in Teilen wiederholt. In dem liturgisch ebenfalls in diese Ordnung gehörenden Benedictus, dem Lobgesang des Zacharias, und dem Miserere des 50. (bzw. 51.) Psalms wechseln sich homophone Mehrstimmigkeit und einstimmige Gregorianik ab.
Aber welche Leidenschaft bricht da auf, welches Leben tritt hinter der Musik hervor! Gesualdo da Venosa, reicher Fürst aus dem Neapolitanischen, hervorragend gebildeter Musiker, tötete 1590 seine Frau und deren Liebhaber. Wieweit das seine Musik beeinflusst hat, bleibt Spekulation. Entscheidend ist, dass der fürstliche Komponist keine Auftraggeber brauchte, er schrieb und musizierte aus und für sich selbst. Darin liegt die Bedeutung dieser Responsorien, in denen die Realität von Folter und Folterknechten, von Mitleiden und hilfloser Klage, aber auch der Ausblick auf Überwindung all dessen mit Mitteln der tradierten Motettenkunst Klang wird – aber in höchst eigenwilliger, aufregender, wahrhaft unerhörter Kühnheit! Erregte Chromatik, gewagte Dissonanzen, unerwartete harmonische Wendungen und Rückungen, expressiv lautmalende Ausdeutung von Worten wie “Flucht ergreifen”, “opfern”, “Schmerz”, “stirbt” oder “hinweggerafft” machen Gesualdos Musik nicht nur für seine Zeit einzigartig.
Der Titel “Tenebrae” nimmt den Anfang des fünften Karfreitags-Responsoriums auf, "Es ward eine Finsternis … ". Im Booklet ist das Gedicht “Tenebrae” von Paul Celan (neben Zitaten aus Wolfgang Hildesheimers “Tynset”) abgedruckt. Indem es die Rollen tauscht – “Bete, Herr,/bete zu uns,/wir sind nah” -, rückt es die Bilder von Blut und Blutvergießen bedrohlich unmittelbar ins 20. und 21 Jahrhundert.
In diesem Player hören Sie Stücke aus den Alben, die in unsere Jubiläums-Serie vorgestellt worden sind: